Es sind Zahlen, die alarmieren. Die sogenannte Armutsgefährdungsquote in Deutschland, die seit 2007 fast durchgängig gestiegen ist, erreichte schon im Jahr 2021 ganze 16,6 % – und Fachleute befürchten, dass es in diesem Jahr angesichts der internationalen Krisensituation noch mehr werden könnten. Mit einfachen Worten: 16,6 % der Bevölkerung in der Bundesrepublik bezogen 2021 ein Einkommen, das weniger als 60 % des mittleren Einkommens entsprach, und galten damit nach EU-Definition als armutsgefährdet.

Die jetzige Krisensituation ist kein Auslöser des Problems, wohl aber ein massiver Brandbeschleuniger. Mit der befohlenen Teilmobilmachung in Russland für den Ukraine-Krieg und dem wiederholten Raketenbeschuss scheint die militärische Gewalt seitens des Kreml eher zu eskalieren statt einem Ende entgegenzusteuern.

Die Folgen sind, abgesehen vom unvorstellbaren Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer, für uns alle spürbar: knappe Energie, hohe Inflationsraten, dazu auch noch die Corona-Pandemie, die in letzter Zeit zunehmend in den Hintergrund getreten, aber nicht beendet ist. Auch wenn der US-Präsident das offenbar anders sieht.

Angst frisst sich ins Bürgertum

Und doch ist manches anders. Die Pandemie, die Joe Biden nicht meinte, die sich aber still und leise in Deutschland einschleicht, ist die der Abstiegsangst – und die betrifft jetzt zunehmend auch diejenigen, die nun vielleicht keine Immobilien, Yachten und Millionen auf dem Konto ihr Eigen nennen, sich aber doch bisher solide situiert sehen. Eben das, was wir salopp mit Bürgertum meinen, oder mit Mittelschicht, deren (drohender) Zerfall zwar nichts Neues ist, aber in der aktuellen Krise umso deutlicher zutage tritt.

Es sind genau die Menschen, von denen es heißt, sie hätten eben noch etwas zu verlieren. Das ist freilich stark vereinfacht, denn auch innerhalb der Gruppe derer, die als arm gelten, ist nicht alles gleich.

Die alleinerziehende, arbeitsuchende Mama, die von Transferleistungen lebt und lieber mal auf eine persönliche Annehmlichkeit verzichtet, um ihrem Sohn eine schicke Hose kaufen zu können, fürchtet vielleicht nicht zu Unrecht, dass künftig nicht einmal dies für sie stemmbar sein wird. Und auch das wäre ein Verlust und ein weiterer Abstieg.

Mittelschicht: Abgrenzung nach unten als Prinzip

Aber die große Angst der Mittelschicht besteht eben darin, in einen Bereich abzurutschen, von dem sie sich immer tunlichst absondern wollte: „Jahrzehntelang hat die deutsche Mittelschicht alles dafür getan, auf Abstand zu gehen zu dieser Welt, bloß nicht in Berührung zu kommen mit diesem System aus Ämtern und Tafeln, dieser Welt aus Abhängigkeiten, Hoffnungslosigkeit und Bedürftigkeit“, beschreibt der Journalist Imre Grimm die Mentalität der Mittelschicht in einem RND-Beitrag vom September.

„Reflexhaft schützte man sich mit herablassender Abgrenzung nach ‚unten‘, lästerte über die armen Hascherl mit ihren gekachelten Couchtischen, die bei RTL II vorgeführt wurden. Im Kern wollte die Mehrheitsgesellschaft lieber nichts wissen vom knüppelharten Alltag von Millionen Deutschen. ‚Die da unten‘, hieß es stattdessen, kriegten halt den Hintern nicht hoch.“

Das dahinterstehende Narrativ, wer nur leistungswillig sei, werde auch mit den prächtigen Früchten des Wohlstands belohnt, geht nun schneller den Bach runter als je zuvor: „Doch dieser Mythos bröckelt nicht nur. Er zerbirst. Und zwar nicht nur dort, wo man den letzten Groschen zweimal umdrehen muss – sondern auch mitten im Bürgertum“, analysiert Journalist Imre Grimm weiter.

Absolute und relative Armut

Das LZ Titelblatt vom Monat September 2022. VÖ. 30.09.2022. Foto: LZ

Nach WHO-Definition gilt derjenige als arm, der monatlich weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens in seinem oder ihrem Staat zur Verfügung hat. Die aktuellsten Zahlen für Deutschland stammen noch aus 2019: Hier liegt der Schwellenwert, unterhalb dessen man amtlich als arm eingestuft wird, bei einem monatlich verfügbaren Einkommen von 1.074 Euro für Singles.

Bei Alleinerziehenden mit zwei Kindern unter 14 Jahren im Haushalt sind es demnach 1.718 Euro, bei einem kinderlosen Paar 1.618 Euro.

Dabei ist wichtig, dass in einem wohlhabenden Staat wie Deutschland meistens von relativer Armut die Rede ist: Diese beschreibt, einfach formuliert, wie Betroffene im Vergleich zum Rest der Bevölkerung mit ihrem Einkommen abschneiden.

Solch statistische Ansätze sind nicht unkritisch zu sehen, weil sie beispielsweise bedeutende Faktoren wie soziale Netzwerke nicht berücksichtigen. Klar aber ist: Bei relativer Armut geht es um ungleiche Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben – im Gegensatz zur absoluten Armut, die eine akute Bedrohung der physischen Existenz meint.

Wenn die Teilhabe an der Gesellschaft fehlt

Doch auch in Deutschland sind Leben und Gesundheit durch Armut gefährdet. Zwar gibt es dankenswerterweise Hilfsstrukturen (und das ist, gerade global gesehen, keine Selbstverständlichkeit), aber auch die können kaum verhindern, dass arme Menschen eher Krankheiten erleiden und im Schnitt deutlich früher sterben als diejenigen, die nicht von Armut betroffen sind.

Spricht man mit Personen, die in Deutschland als arm gelten, dann mögen in der Regel ein Dach über dem Kopf, der Schlaf und die regelmäßige Nahrungsaufnahme noch halbwegs sicher sein – über das Existenzielle hinaus jedoch, was das Bedürfnis nach sozialem und kulturellem Leben anbelangt, wird es schwierig, weil meist das liebe Geld den Schlüssel darstellt.

Ausschluss, Einsamkeit, Geldmangel

Und so sind es Grundmuster, die sich in den Erzählungen wiederholen, wie sie etwa im Paritätischen Armutsbericht 2022 nachzulesen sind: Herr W., der von Vereinsamung und dem Gefühl von Wertlosigkeit berichtet, daheim vor dem Fernseher hockt, damit überhaupt jemand zu ihm spricht und dem das Gefühl von Ausschluss und Nicht-Zugehörigkeit permanent bewusst wird, wenn andere von ihrem Job und dem letzten Urlaub erzählen.

Frau E., der das Geld spätestens in der letzten Woche des Monats ausgeht – an Sparen für Notfälle ist nicht zu denken, was in ihr Panik auslöst. Frau K., die ihre Frisur und zerschlissene Kleidung kaum mehr ertragen kann, die mit ihrer Grundsicherung permanent den Mangel verwalten muss, weil die galoppierende Inflation die Anpassung der ausgezahlten Sätze längst überholt.

Gefangen im Sachzwang

Jeder weiß, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, er möchte sich als freie Persönlichkeit entfalten, als Teil einer Gemeinschaft fühlen, und bei allen Unwägbarkeiten des Lebens wie Unfall oder Krankheit, vor denen keiner gefeit ist, doch einigermaßen sicher nach vorn schauen können, in eine hoffentlich gute Zukunft.

Unter Armutsbedingungen wird das schnell konterkariert, weil man, wie Betroffene schildern, viel mehr im „Hier und Jetzt“ lebt. Doch nicht im positiven Sinne von Achtsamkeit, sondern weil es die täglichen Zwänge schlicht erfordern: Der Gang zum Amt, das Ausfüllen von Anträgen und Formularen, der kaputte Kühlschrank, der eine Reparatur oder Ersatz fordert, für den wiederum die Rücklagen fehlen, die Entscheidung, ob der schwer verdiente Notgroschen für die benötigte Waschmaschine eingesetzt wird oder doch lieber für den Einkauf, um wenigstens mal halbwegs gesund zu kochen, der Horror vor der nächsten Energierechnung.

Dann trotzdem noch den Kopf freizukriegen für eine Selbstreflexion, wer man eigentlich ist und was man vom Leben will, ist vielleicht nicht unmöglich – aber praktisch für viele nicht so ohne Weiteres zu schaffen.

Schleichende Zersetzung der Mittelschicht seit 17 Jahren

Denn wer einmal in dieser Spirale aus Sachzwang, Schamgefühl, Ausgrenzung und enger Abhängigkeit gefangen ist, kann sie oft nur noch schwer verlassen. Und dass es auch die treffen kann, die sich gestern noch sicher glaubten, ist nicht aus der Luft gegriffen.

Einer Studie von Bertelsmann-Stiftung und OECD zufolge rutschten allein zwischen 2014 und 2017 rund 22 % der Erwerbsfähigen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland in untere Einkommensschichten ab – und galten damit nunmehr als arm oder direkt armutsbedroht.

Der Analyse nach findet die schleichende Zersetzung der Mittelschicht in der Bundesrepublik, die eigentlich das Rückgrat von Ökonomie und Wohlstand bilden sollte, schon seit 2005 statt und verschärfte sich besonders im Zuge der Corona-Pandemie massiv.

COVID-19 führte auch in der mittleren Einkommensschicht (definiert als Einkommen zwischen 75 % und 200 % des mittleren Einkommens in der Bundesrepublik) zu messbaren Verlusten von Beschäftigung. Die aktuelle Krisensituation dürfte den Trend nicht gerade aufhalten.

Angst vor der Unsicherheit

Die Unsicherheit, die Angstspirale, die, wie Journalist Imre Grimm in Anlehnung an eine These des Philosophen Bertrand Russell (1872-1970) formuliert, mehr gefürchtet werde als die eigentliche Gefahr, sie frisst sich derzeit auch gnadenlos in die Mittelschicht hinein. Unsicherheit vor der Zukunft verstärkt die Angst und diese wiederum die Unsicherheit. Es ist, wenn man so will, ein Teufelskreis.

Bleibt die Frage, wie man dagegen vorgehen kann. Wundermittel gibt es nicht. Doch raten Fachleute zu einfachen Maßnahmen: Jeder, der in der Lage ist, sollte sich die Zeit nehmen und seine eigenen Wünsche und Ziele im Leben definieren, über sich nachdenken. Denn das Wissen, wo man genau hinwill, ist ein erster Schritt, auch wenn der Weg steinig werden kann.

Dazu gehört bis zu einem gewissen Grad eine Akzeptanz der Angst, die per se nichts Negatives darstellt, weil sie auf eine drohende Gefahr hinweist und daher in jedem Fall ernst genommen werden muss. Auch Gespräche mit Freunden, Nachbarn und Familie können das eigene Selbstwertgefühl steigern und zeigen oft, dass man mit seinen Sorgen nicht allein dasteht – im Gegenteil! Bei gravierenden Problemen und Selbstzweifeln können auch (telefonische) Beratungsstellen einen ersten Anlaufpunkt bieten.

Einfache Schuldzuschreibungen sind fehl am Platz

Die Bekämpfung und Verhinderung der Armut selbst dagegen ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der nicht nur die Politik gefordert ist – die sich in der jetzigen Krise nicht allein mit Einmal-Zahlungen wird freikaufen können, sondern auch über langfristige Entlastungsmodelle nachdenken muss – sondern auch die Zivilgesellschaft, Kirchen, Vereine und Verbände, letztlich jeder von uns. Ein erster Schritt, so banal es klingen mag, wäre ein stärkeres Bewusstsein über das Armutsphänomen gerade bei jenen, die es bislang eher ausgeblendet haben.

Und dazu gehört auch, so berechtigt das Prinzip Eigenverantwortung ist, immer genau hinzusehen und arme Menschen nicht pauschal als faule Leistungsverweigerer abzustempeln, die selbst an ihrer Lage schuld seien.

„Angst vor Abstieg und Armut – die stille Pandemie in der Krise“ erschien erstmals am 30. September 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 106 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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