Es lässt sich trefflich streiten, ob die Juristerei eine Wissenschaft ist. Unstrittig ist aber, dass sich Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler, wie Professorin Frauke Brosius-Gersdorf, der wissenschaftlichen Methode bedienen, um die Gesetzeslagen zu bewerten. Genau das hat sie getan und es wurde gegen sie verwendet. Eine konzertierte Aktion wurde von rechten Akteuren und „Alternativmedien“ gestartet, konservative und kirchliche Akteure schlossen sich an.

Besonders Kreisen in CDU und CSU fiel das scheinbar leicht. Auch nach ihrem Verzicht auf die Kandidatur hörte das nicht auf, so am Kommentar von Daniel Deckers, in der FAZ vom 8.8.25, „Der linke Kulturkampf ist gescheitert“ deutlich zu sehen. Was wurde und wird Professorin Frauke Brosius-Gersdorf vorgeworfen? Sieht man vom unhaltbaren Plagiatsvorwurf ab, waren es die Haltung zum AfD-Verbot, zur Impfpflicht und zur Abtreibung. Beschränken wir uns auf den letzten Punkt.

Schutz des ungeborenen Lebens – Der Tenor wird gesetzt

Verschiedene Gruppen eskalierten, es war die Rede davon, dass Frau Brosius Gersdorf Abtreibungen bis zwei Minuten vor der Geburt befürworten würde, weil erst das geborene Leben eine Menschenwürde habe.

Interessant ist hier, woher diese Anschuldigung kommt. Beatrix von Storch setzte hier den Tenor. Bei der Befragung der Bundesregierung mit Bundeskanzler Friedrich Merz am 09.07.25 (ca. Min. 49:15) behauptete sie: „Frau Brosius-Gersdorf hat gesagt, dass ein Kind, das neun Monate alt ist, zwei Minuten vor der Geburt keine Menschenwürde zukommt.“

Nur als Einfügung, es ist jene Politikerin, die 2016 den Einsatz von Schusswaffen an den Grenzen, gegen Flüchtlinge, zuerst auch gegen Kinder, befürwortete und später zurückruderte und meinte, dass auf Frauen geschossen werden dürfe, weil diese ja „verständig“ seien. Ob eine Frau schwanger war, war da irrelevant.

Beatrix von Storch auf Twitter 2016, Screenshot: LZ
Beatrix von Storch auf Twitter 2016. Screenshot: LZ

Da hatte die CDU noch einen Generalsekretär, der um eine Antwort nicht verlegen war.

Peter Tauber auf Twitter 2016: Screenshot LZ
Peter Tauber auf Twitter 2016. Screenshot: LZ

Was hat Frauke Brosius-Gersdorf wirklich gesagt?

Sie fungierte als stellvertretende Koordinatorin der AG 1, bei der Erarbeitung des Berichts der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin. Die Kommission arbeitete im Auftrag des Bundesministers für Gesundheit, Prof. Dr. Karl Lauterbach, des Bundesministers der Justiz, Dr. Marco Buschmann, und der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus.

Die Mitglieder der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, Screenshot LZ
Mitglieder der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, Screenshot LZ

Auf Seite 179, unter 5.2.1.1. Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG), liest man dort folgendes:

„Der Verfassungstext gibt keine explizite Antwort auf die Frage, ob und inwieweit die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG für den Embryo/Fetus im Mutterleib gilt. Die Aussagekraft der Verfassungs- und Entstehungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 GG für den Menschenwürdeschutz des Ungeborenen ist umstritten. Die Frage ist daher mittels Auslegungsgesichtspunkten zu ermitteln.“

Es folgen verschiedene Abwägungen, die Würdigung und Betrachtungen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden muss. Fakt ist, man kann diese Schlussfolgerung nicht als eine Meinung einer Einzelperson betrachten. Diese ist auch keine Zustimmung, sondern eine rechtliche Würdigung grundgesetzlicher Regelungen. Die späteren Interviewaussagen entsprechen eben den Ergebnissen des Berichtes.

Die Angriffe von rechts beruhen also auf einer bewusst falschen Auslegung durch Beatrix von Storch.

Viele sprangen auf den Zug auf

Das waren die „Lebensrechtsbewegungen“, Teile der katholischen Kirche und schlussendlich Politikerinnen von CDU und CSU. So sprach der Bamberger Erzbischof Gössl von einem Abgrund der Intoleranz, womit er letztendlich nur das Narrativ, welches von Storch gesetzt hatte, aufnahm.

Man muss dazu selbstverständlich anmerken, dass die Kirche, der er angehört, ihm, wie allen Priestern, Ehelosigkeit und Kinderlosigkeit befiehlt. Sollte doch mal ein „Fehltritt“ passieren, dann muss die Mutter zusehen, wie sie klarkommt. Von der Würde des „Fehltritt-Kindes“ ist dann kaum die Rede.

Was sagt die FAZ?

Daniel Deckers postuliert das Ergebnis einer rechtswissenschaftlichen Analyse durch eine Kommission als „Ihre eigene materielle Prüfung“, als ob es sich um eine Einzelarbeit handle. Das muss man hier voranstellen.

Er schreibt dann weiter: „Zur Auflösung des grundrechtlichen Güterkonfliktes zwischen dem Schutz des Lebensrechts des Fetus/Embryos und den Grundrechten der Schwangeren postulierte sie einen ‚starken Schutz‘, der mit der extrauterinen Lebensfähigkeit des Fetus einsetze, also um die 23. Schwangerschaftswoche, wenn Frühgeborene ein Gewicht von etwa 500 Gramm haben. ‚Voller Schutz‘ gelte ab Geburt. Das ist nicht Wissenschaft, sondern Willkür.“

Die Frage ist: Welche Wissenschaft meint der Kommentator? Biologie, Theologie oder Rechtswissenschaft stehen zur Auswahl. Im Bericht steht auf Seite 194 folgendes, es ist etwas schwerer zu lesen, als die verkürzte Aussage:

„Die Frage bedarf aber keiner Entscheidung, weil in beiden Fällen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wegen des Gesetzesvorbehalts in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG einer Abwägung mit den Grundrechtspositionen der Schwangeren zugänglich ist. Zudem kommt dem Lebensrecht des Embryos/Fetus aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in beiden Fällen im Rahmen der Abwägung mit den Grundrechten der Schwangeren in der Frühphase der Schwangerschaft ein geringeres Gewicht zu als in späten Schwangerschaftsabschnitten.

Bei einem gleichbleibend geringeren Schutzstandard zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit des Embryos/Fetus hat Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in dieser Phase gleichbleibend geringeres Gewicht; ab Lebensfähigkeit ex utero gilt er mit starkem Schutz und ab Geburt mit umfassendem, vollem Schutzanspruch.

Auf der Grundlage eines Konzepts des gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensschutzes nimmt die Schutzintensität des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für den Embryo/Fetus zwischen Nidation und Geburt schrittweise zu. Gleichzeitig kommt den Grundrechten der Schwangeren mit fortschreitender Schwangerschaft und zunehmender Verantwortungsübernahme für den Embryo/Fetus im Rahmen der Abwägung abnehmende Bedeutung zu.“

Das ist eine rechtswissenschaftliche Analyse zum Schutzstatus für den Embryo/Fetus, der aus dem Grundgesetz abgeleitet werden kann. Erarbeitet durch die Arbeitsgruppe 1 der Kommission, nach ausführlichen rechtlichen Abwägungen und Vergleichen.

Dieser Analyse muss man selbstverständlich nicht zustimmen, eine gegenteilige zu erarbeiten sollte aber anderen Rechtswissenschaftlern obliegen. Weder ich, als Autor mit Ingenieurshintergrund, noch der Kommentator der FAZ, mit theologischem Hintergrund, sind zu einer verfassungsrechtlichen Prüfung in der Lage. Wir haben Meinungen und wenn wir diese als rechtlich bindend darstellen, dann wäre das wirklich Willkür.

Fazit: Professorin Frauke Brosius-Gersdorf hat mitgeteilt, dass sie für das Amt nicht mehr zur Verfügung steht, was verständlich ist. Es wurde ein großer Schaden, besonders für die Wissenschaft, angerichtet. Wer soll noch im Falle der Rechtswissenschaften Gesetze und auch das Grundgesetz wissenschaftlich analysieren, wenn „gefühlte Meinungen“ und bewusst falsche Beschuldigungen die Wissenschaftlerin oder den Wissenschaftler schutzlos den Angreifern ausliefern?

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Es gibt 5 Kommentare

Der Artikel konzentriert sich darauf einen Vorwurf an Frau B-G zu entkräften und daraus abzuleiten, es gäbe insgesamt keine substanziellen Gründe. Das reicht keinesfalls aus. Letztendlich ist ein Vorschlag jemanden fürs Bundesverfassungsgericht vorzuschlagen immer ein politischer Akt, für den es aber im Fall der Koalition eben keine politischen Mehrheiten gibt.

Es handelt sich zuallererst um einen Angriff auf, wie Arnold Schölzel es ausdrückt, die Merz/Klingbeil-Regierung, lieber Autor. Es versteht sich am Rande, daß ein Verfassungsrichter (m/w/d) sich mit systematischen, wegen mir auch wissenschaftlichen Methoden an eine Urteilsfindung annähert. Um Hypothesen aufzustellen, die es dabei zu prüfen gelte, sind Bauchgefühle, Glaskugeln und Bibeltexte vermutlich nützlicher als Sie denken. Sosehr man Wissenschaft als solche hochhalten soll, sowenig besteht aber zugleich Anlaß, die Wissenschaft, wie sie oft genug daherkommt, durchweg als Hort des Hehren zu verklären. Ein Dilemma.

@Urs, „was muß man Wissenschaftler/in sein, um am Bundesverfassungsgericht gut wirken zu können?“ – da stellt sich doch glatt die Frage: Wie bewerten die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter Gesetze oder Urteile, auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, wenn nicht mit rechtswissenschaftlicher Methodik? Ich denke mal, dass Bauchgefühl, Glaskugel und Bibeltexte wegfallen. Deshalb liegt mein Schwerpunkt auf der Wissenschaft, die hier in Person von Frau Brosius-Gersdorf angegriffen wurde. Kurzer Nachschlag noch, es versteht sich, dass sie die Ergebnisse des, von 9 Vertretern der Rechtswissenschaft allein in der AG1, später auch in Interviews vertritt. Die „seltsamen Parallelen“ ihrer Dissertationsschrift zu Habilitationsschrift deuten nicht darauf hin, dass sie etwas vorgefertigt hat. Man muss das von der Habilitationsschrift, die ja jüngeren Datums ist, aus betrachten. Liegen dort Verstöße gegen die Zitationsregeln vor? Nach meinen Kenntnissen war das nicht Bestandteil der „Arbeit des Plagiatsjägers“. Die Konzentration auf die Diss ist eindeutig falsch. Für die meisten Habilitationsschriften haben Doktoranden Vorarbeiten geleistet, der Professor muss in dem Fall Zitate kennzeichnen.

Mir wird nicht klar, lieber Autor, wieso es Ihnen so sehr Anliegen ist, bei diesem Thema das Augenmerk auf Wissenschaft zu legen? Oder mit anderen Worten: was muß man Wissenschaftler/in sein, um am Bundesverfassungsgericht gut wirken zu können? Ich finde zudem, daß die breite Bevölkerung nicht einmal ahnt, wie dürftig es in der Wissenschaft zugehen kann (bitte mißverstehen Sie diese Bemerkung nicht als wissenschaftsfeindlich, im Gegenteil). Daß die Dissertationsschrift der einstmaligen Kandidatin seltsame Parallelen zur Habilitationsschrift ihres Gemahls aufweist, wirft Fragen auf, auch wenn man das Treiben von Stefan Weber als manisch ansehen mag. Und es wäre auch wissenschaftliches Fehlverhalten, wenn sie ihm auch nur Teile seiner Habilitation vorgefertigt hätte.

Jedenfalls hat eine liberalkonservative Kandidatin, die die SPD aufgestellt hatte, eine anscheinend konzertiert angelegte Abfuhr bekommen, die sie nun Abstand nehmen läßt, ihre Kandidatur aufrechtzuerhalten. Ich sah zufällig am Tag der gescheiterten Wahl den hiesigen SPD-Abgeordneten Holger Mann an der Straßenbahnhaltestelle am Leipziger Hauptbahnhof. Ich war da aber nicht im Bilde, was an dem Tag im Bundestag abgegangen war und konnte ihn daher leider nicht befragen.

Verweisen möchte ich noch auf einen heute erschienenen entschiedenen Kommentar von Arnold Schölzel in jW, den ich mit Interesse gelesen habe: https://www.jungewelt.de/artikel/505802.einfallstor.html

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