Es ist schon erstaunlich, wie sich in den letzten Jahren die Bücher zum Zustand des deutsch-deutschen Familiendramas gemehrt haben. Der Osten wird begutachtet wie eine Versuchsanordnung, bei der man einfach nicht versteht, was da eigentlich schiefgegangen ist und warum sich ein Haufen Leute dort 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wie „Bürger zweiter Klasse“ fühlen. Manchmal hilft der Blick von draußen zurück.

Den hat Cerstin Gammelin, nach Stationen bei der „Financial Times Deutschland“ und der „Zeit“ ab 2008 Brüssel-Korrespondentin für die „Süddeutsche Zeitung“ und seit 2015 in der Parlamentsredaktion in Berlin. Sieht wie eine typische West-Karriere aus. Aber eigentlich stammt sie aus Sachsen, ging in Freiberg zur Schule, hat in Karl-Marx-Stadt Maschinenbau studiert, als es noch nicht wieder Chemnitz hieß. Und erlebte dann 1990 das, was fast alle Ostdeutschen erlebten: Alles änderte sich.Der alte Beruf war auf einmal nichts mehr wert, die Industrie wurde in einem Affentempo abgewickelt. Millionen packten ihre Koffer und zogen der Arbeit nach in den Westen. Denn während der Osten abgewickelt wurde, erlebte der Westen eine ordentliche Konjunktur, brummte der Laden dort, während die im Osten Gebliebenen bald merkten, dass aus den von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ nichts wurde. Kein zweites Wirtschaftswunder. Dafür Millionen Arbeitslose.

Das ist alles schon erzählt worden. Und eigentlich hatten auch die Ostdeutschen damit gerechnet, dass es wirklich nach 15, 20 Jahren vorbei wäre, man endlich aufgeholt hätte und auf Augen- und Verdiensthöhe wäre mit dem Westen. Nichts davon geschah.

Gammelin hat die lange Zeit des Corona-Lockdowns genutzt, um eine Menge Telefonate, Chats und Online-Interviews zu machen – mit Wolfgang Schäuble zum Beispiel, dem wesentlichen Autor des Einigungsvertrages, in dem die Geburtsfehler der Deutschen Einheit stecken. Was Schäuble nie im Leben zugeben würde, denn aus seiner Perspektive hat er alles richtig gemacht.

Das vergisst man oft – gerade mit Blick auf das Jahr der Deutschen Einheit –, dass dort ganz und gar nichts aus lauter Selbstlosigkeit geschah. Und dass die so gern gelobte westdeutsche Seite auch damals zuallererst im Parteiinteresse handelte. Oder einmal so formuliert: Mit der SPD hätte die DDR einen anderen Einigungsvertrag bekommen.

Denn eines kann keiner der westdeutschen Mitautoren des Vertrages sagen: Er habe nicht gewusst, welche Konsequenzen all die aufgeschriebenen Vereinbarungen haben würden – angefangen von den (nicht gewährten) Übergangsfristen bis hin zum Umgang mit den sogenannten Altschulden der DDR-Betriebe. Alles Themen, die jetzt, da die Treuhand-Akten endlich zur Forschung freigegeben sind, noch eine gewaltige Rolle spielen werden. So ganz falsch liegen SPD-Politikerinnen wie Petra Köpping nicht, wenn auch sie eine Aufarbeitung der Treuhand-Arbeit fordern.

Auch wenn dann postwendend immer das Echo aus konservativen Postillen kommt: Das ist doch in zwei Untersuchungsausschüssen des Bundestages schon passiert! Ist es nicht. Denn beide Ausschüsse hatten keinen Zugang zu den Akten. Und was die ersten Nachrichten zur Bilanz der Treuhandanstalt betrifft, wird da am Ende kein Minus stehen, was die DDR-Bilanz anbelangt. Auch wenn die Treuhandanstalt am Ende mit einem dreistelligen Milliardenminus ihre Türen schloss.

Denn – wie schreibt auch Gammelin so schön: Die Gewinne wurden privatisiert, die Kosten mal wieder vergesellschaftet.

Natürlich geht Gammelin auf das Thema ein. Denn es sorgte ja nicht nur dafür, dass der Osten in einem historisch geradezu winzigen Zeitfenster von Industrie fast komplett entblößt wurde und damit die finanzielle Basis für den eigenen Aufbau Ost verlor, es entwertete auch Millionen hochwertiger Berufsabschlüsse und sorgte für einen kompletten Eliteaustausch. Und noch etwas ist passiert, was jetzt so langsam als das größte Problem der deutschen Einheit begriffen wird: Der größte Teil des Ostens wurde völlig unter Wert an neue Besitzer verkauft, verramscht kann man auch sagen.

Mehrfach zitiert Gammelin die schöne westdeutsche Ausrede, wenn es um die hübsch sanierten Marktplätze und Innenstädte im Osten geht, um Hausfassaden, die viel besser aussehen als die in vielen westdeutschen Städten: Da blühen doch die Landschaften! – Nein. Da blüht die Angst. Denn die schön sanierten Häuser gehören zumeist westdeutschen Besitzern, die in den 1990er Jahren preiswert zu Eigentum im Osten gekommen sind. Die Ostdeutschen dürfen – vielleicht – zur Miete drin wohnen. Aber nicht nur in Leipzig geht längst die Angst um, dass sich viele Ostdeutsche mit ihren Niedriglöhnen die steigenden Mieten bald nicht mehr leisten können.

Ausgebliebener Generationen-Diskurs

Da ballen sich dann ganz schnell Probleme: Erst die Arbeitsplätze weg und das jahrelange Gefühl, auf dem Arbeitsmarkt nicht gewollt zu werden. Und dann die Wohnung. Und der Blick in die Regierungen und anderen Führungsetagen zeigt: Auch nach 30 Jahren kann man dort Menschen mit ostdeutscher Biografie mit der Lupe suchen.

Der Historiker Rainer Eckert schrieb ja gerade erst darüber, wie selbstverständlich ab 1990 an ostdeutschen Universitäten nicht nur die alten Professoren abgewickelt wurden – die Professuren wurden flächendeckend mit neuen Leuten aus dem Westen besetzt. Womit dann auch komplett verhindert wurde, dass die jüngeren Wissenschaftlergenerationen im Osten, die schon in den 1980er Jahren ausgebremst worden waren, nachrücken konnten. Sie bekamen in der Regel nicht mal die Dozentenstellen.

Das Ergebnis benennt auch Gammelin: Der unersetzliche Generationen-Diskurs, der in den 1990er Jahren im Osten überfällig war, fand einfach nicht statt. Was ostdeutsche Geschichte zu sein hatte, bestimmten fortan vor allem westdeutsche Historiker. Die aber hatten nicht nur ihre Netzwerke mitgebracht (aus denen sie bis heute auch ihren Nachwuchs generieren), sondern auch ihre alten Ansichten zum Osten, zur DDR, zu Stasi und SED. Logische Folge: Viele Ostdeutsche finden sich im herrschenden Bild vom Osten nicht wieder. Selbst das in den Medien kolportierte Bild vom Osten vermittelt unterschwellig immer: Ihr gehört nicht dazu, ihr mit eurer Geschichte.

Den Medien hat das natürlich geschadet. Logischerweise. Mit einem Riesenaufwand teilten sich 1990 die westdeutschen Medienkonzerne den Osten auf, besetzen ihn einfach wie ein völlig regelfreies Wildost und machten dabei die komplette neu entstehende Medienlandschaft im Osten platt. Eigentlich schon das markanteste Beispiel dafür, wie Geld wütet, wenn es auf einen wehrlosen Gegner trifft.

Dass diese Medien 30 Jahre später selbst zu Zwergen im Osten geschrumpft sind und das Misstrauen in die vorwiegend von Westdeutschen dominierten Medien gewachsen ist, gehört mit in diese Geschichte. Eine Geschichte, die aber genau mit dieser Denkweise begann. „In der SPD erinnert man sich, dass Wolfgang Schäuble im Ringen um eine neue gemeinsame Verfassung gesagt haben soll: Jetzt ist aber mal gut, wir bezahlen den ganzen Laden, jetzt reicht es aber“, schreibt Gammelin.

So bekamen die Deutschen auch keine Chance, über eine gemeinsame Verfassung zu beraten und damit beiden Teilen Deutschlands einen gesellschaftlichen Modernisierungsschub zu verpassen. Denn das schwingt immer mit, wenn Gammelin kenntnisreich die Fakten zusammenträgt: Dass der Westen 1990 selbst in einem riesigen Reformstau steckte mit erstarrten Strukturen, die das Land lähmen – bis heute. Denn bis heute herrscht im Westen die unausgesprochene Ansicht, er müsse sich nicht ändern. Nur die Ostdeutschen hätten sich anpassen müssen.

Das hat sie zwar inzwischen zu echten Transformations-Erfahrenen gemacht, denn fast alle haben sie umgeschult, neu gelernt, sich ins kalte Wasser gestürzt und fast immer weit unter ihrer erlernten Qualifikation gearbeitet. Bis heute. Sodass sie nicht nur immer noch 20 Prozent weniger verdienen als westdeutsche Erwerbstätige, viele stecken weiterhin in Niedriglohnjobs fest, haben kein Erspartes und keinen Besitz und zahlen auch deshalb Miete. Und die, die 1990 selbst was auf die Beine stellen wollten, standen bei Banken und Treuhand meist vor verschlossenen Türen. Haste nix, kriegste auch nix.

Das Ergebnis: Der Osten hat zwar viel kleinteiliges Gewerbe und jede Menge Dienstleister, aber nur wenig robusten Mittelstand und so gut wie keine große Konzernzentrale. Damit fehlt die Steuerkraft – selbst dann, wenn große westdeutsche Konzerne ihre verlängerte Werkbank in Sachsen oder Thüringen aufgebaut haben. Gewerbesteuern werden am Sitz der Unternehmenszentrale gezahlt. Im Fall des fossilen Luftverfrachters DHL in Bonn, nicht in Schkeuditz.

Mediale Ignoranz

Anlass für Gammelin, sich auch mit den mittlerweile deutlich hörbareren ostdeutschen Ministerpräsident/-innen zu verabreden, die seit Corona einfach nicht mehr bereit sind, immer nur die lauten Kollegen aus dem Westen bestimmen zu lassen. Denn auch die Konstruktion der Stimmrechte im Bundesrat ist ein Fehler der Deutschen Einheit, als sich die Fürsten aus den westlichen Ländern nummerisch die verfassungsgebende Menge an Stimmrechten zuschanzten, die ihnen jederzeit die Mehrheit garantiert, den Osten zu überstimmen. Und der hat nicht einmal die nötige Sperrminorität, um Beschlüssen, die nicht im Interesse der ostdeutschen Bundesländer sind, zu blockieren.

Unter dem Gesichtspunkt sieht das störrische Verhalten der CDU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt bei der anstehenden Beitragserhöhung für die Rundfunkgebühren schon ganz anders aus. Trotzig einerseits, andererseits auch als Beginn eines Kräftemessens. Denn nicht nur in den ostdeutschen CDU-Verbänden hat man das mulmige Gefühl, 30 Jahre lang einer Schimäre aufgesessen zu sein und sich am Ende vergeblich bemüht zu haben, den Osten zu einem Abklatsch des Westens zu machen.

„Der Osten hat kein Veto-Recht“, schreibt Gammelin. „Das trägt dazu bei, dass die DDR-Bürger, die gerade die Berliner Mauer überwunden und sich damit demokratische Grundrechte wie freie Rede und freie Wahlen erkämpft hatten, über Nacht praktisch wieder zu Bittstellern wurden.“

Und zwar nicht nur von einer westdeutsch dominierten Politik, sondern auch in Medien, die fast komplett im Westen gemacht werden, von westdeutschen Chefs mit westdeutschen Themen und Sichtweisen. Der Osten tauchte da jahrelang immer nur auf, wenn es Probleme gab. Dass Westdeutsche im Osten nur noch Arme, Faulenzer, Nazis und Ewiggestrige vermuten, hat mit dieser medialen Ignoranz zu tun.

Die erst so langsam aufbricht, seit ostdeutsche Ministerpräsident/-innen querschießen. Und das mit deutlich mehr Selbstbewusstsein, seit Leute wie Rainer Haseloff in Sachsen-Anhalt und Michael Kretschmer in Sachsen ihre Wahlen mit klaren Anti-AfD-Positionen gewonnen haben. Wissend, dass die AfD nur für eine Minderheit steht – wobei völlig offen ist, wie viele Ostdeutsche die AfD einfach nur aus Protest wählen. Auch aus Protest gegen eine Bundespolitik, in der die ostdeutschen Belange so gut wie gar nicht vorkommen.

Auch wenn Cerstin Gammelin der noch amtierenden Bundeskanzlerin, die ja bekanntlich aus dem Osten kommt, attestiert, tatsächlich mehr für die Deutsche Einheit erreicht zu haben, als man auf den ersten Blick sieht. Und man sieht es nicht, weil Angela Merkel davon kein Aufsehens macht, sondern nur pragmatisch die sich bietenden Gelegenheiten nutzt.

Da kann man streiten. Vielleicht sollte man das auch. Auch Gammelin deutet an, dass das vielleicht doch zu wenig war, dass Merkel durchaus mehr hätte tun können.

Aber da steckt auch die Parlamentskorrespondentin in ihr. Sie sieht einiges klarer, was für gewöhnlich auch in großen deutschen Tageszeitungen nicht steht: Dass Angela Merkel ja nicht deshalb Bundeskanzlerin geworden ist, weil sie eine Aufsteigerin aus dem Osten war. Sondern geradezu im Gegenteil.

Da erkennt sich auch Gammelin selbst wieder – und wahrscheinlich auch viele hunderttausende Frauen und Männer aus dem Osten, die nach 1990 den großen Umweg gegangen sind, auch übers Ausland, um dann, wenn sie sich dort durchgesetzt hatten, zurückzukehren und in deutschen Institutionen ihre Karriere fortsetzen.

Kaum eine Chance auf Karriere

Denn für den Osten selbst ist Gammelins Analyse eindeutig: Wer dageblieben ist, hatte so gut wie keine Chance, in irgendeiner Weise Karriere zu machen. Die gut bezahlten Spitzenjobs, aus denen sich für gewöhnlich Eliten rekrutieren, waren allesamt besetzt. Und sind es fast alle bis heute, längst in zweiter und dritter Generation.

Aber wenn ein Landstrich keine eigene Elite hat, in der sich auch die Bewohner wiedererkennen und einen Ansporn sehen, dann geht auch das Selbstbewusstsein vor die Hunde. Und es setzt sich das dumme Gefühl durch, dass nicht nur irgendwelche Leute im Westen alles besitzen, sondern auch lauter Leute aus dem Westen das Sagen haben. So von ungefähr kommt das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, nicht.

Und wo einige von Gammelins Gesprächspartnern noch zuversichtlich sind, dass sich das schon in der nächsten Generation verwächst, sehen andere nicht mal Anlass zu dieser Hoffnung. Denn die Netzwerker auf den Spitzenjobs holen sich ihren Nachwuchs wieder aus ihren (westdeutschen) Netzwerken. Und das, was 1990 wirklich wertvoll war und was den Ostdeutschen die Chance gegeben hätte, selbstbewusst anzukommen in der neuen Gesellschaft, wurde von einer abgehobenen Treuhandgesellschaft in der Regel für Peanuts verkauft. Denn die nötigen Sicherheiten, selbst zu kaufen, hatte praktisch kein Ostdeutscher.

Längst ist klar, dass Besitz nicht nur Rechte und Sicherheit definiert. Besitz bedeutet auch Macht. Sogar eine größere Macht als jeder Wahlsieg, denn Besitz wird vom Grundgesetz besonders geschützt, ist stärker als jedes Recht auf Teilhabe oder soziale Sicherung.

Und zum Pech der Ostdeutschen war auch Kohls Regierung 1990 auf dem neoliberalen Trip und hat alles privatisiert, von dem die neoliberalen Hardliner meinten, es müsse unbedingt verkauft werden. Weshalb nicht nur der Osten verramscht wurde, sondern auch die Post und die Bahn und das Gesundheitswesen auf unmögliche Kurse geschickt wurden. Was die Ostdeutschen auch noch mit ausbaden müssen, nicht nur mit einer völlig entfesselten DHL.

Aber wichtig ist eben auch Gammelins Analyse von Merkels Regierungsstil, der der schlichten Tatsache geschuldet ist, dass überall, wo sie agiert und Mehrheiten braucht, die westdeutschen Länderfürsten und Parteiverbände die absolute Mehrheit haben. Was eben auch bedeutet, dass sie nichts gegen die reichen und mitgliederstarken westdeutschen Landesverbände von CDU und CSU tun kann. Ein Machtgefälle, das auch in der „Süddeutschen“ sehr selten analysiert wird.

Aber das viel erklärt, von dem, was die Deutschen als erzkonservative Politik serviert bekommen, in der die wirklich Reichen und Besitzenden immer wieder den nötigen Einfluss auf alle politischen Entscheidungen bekommen, während der Osten stets mit dem Löffelchen abgespeist wird – auch wenn es um die Verteilung von Fördergeldern geht oder die Gestaltung von Steuersätzen.

Ein reiches Land, in dem die großen Konzernzentralen sitzen, kann es sich leisten, Steuersenkungen zu fordern. Arme Länder, die an diesen Honigtöpfen keinen Teil haben, brauchen jeden zusätzlichen Euro. Oder sind eben – wie das im Osten flächenmäßig der Fall ist – gezwungen, Infrastrukturen auszudünnen, Krankenhäuser, Theater und Schwimmhallen zu schließen.

Macht wird in Deutschland über die Verteilung von Geld ausgeübt. Und die ganze deutsche Wiedervereinigung sieht völlig anders aus, wenn man die damals getroffenen Vereinbarungen unter diesem Aspekt betrachtet. Was Cerstin Gammelin erstmals in dieser Dichte als Autorin tut. Und damit auch einfühlsam erklärt, warum so viele Ostdeutsche sich übers Ohr gehauen fühlen und eben nicht vertreten in den demokratischen Entscheidungen.

Und auch nicht in den Medien, wo am liebsten Westdeutsche mit Westdeutschen über den rätselhaften Osten debattieren und ostdeutsche Talkrunden-Teilnehmer meistens nur eingeladen werden, wenn sie vorher ordentlich Rabatz gemacht haben. Selbstverständlich ist es nicht.

Was übrigens auch im Fall, es wäre so, die große ostdeutsch-westdeutsche Debatte ersetzen würde, in der sich wirklich ernst zu nehmende ostdeutsche Autor/-innen profilieren könnten. Denn der Westen hatte diese Debatten in den legendären 1960er Jahren. Und sie wurden damals nicht nur im „Kursbuch“ geführt, sondern in großem Schlagabtausch auch in den großen Zeitungen.

Lebenslüge des Westens

Im Osten ist das 1990 regelrecht abgewürgt worden und ein paar Vorzeige-Ossis werden von den großen westdeutschen Zeitungen immer mal wieder eingeladen, sich zu äußern, wenn’s da drüben hinterm Vorhang mal wieder rumort. Dabei bleibt es dann meistens auch. Denn westdeutsche Leser/-innen interessieren die ostdeutschen Themen meistens nicht. Bis heute leben sie in dem trauten Gefühl, dass sich ihr Landesteil ja nicht ändern musste, war ja kein Unrechtsstaat oder so.

Dass selbst dieser kleine Osten die Bundesrepublik verändert hat seitdem, das sieht man erst, wenn man genauer hinschaut auf Themen wie Kita, Ganztagsschule, Medizinische Versorgungszentren, erwerbstätige Frauen … Natürlich hat Gammelin recht: Es wäre auch für die konservativen Verhandlungspartner auf der Westseite des Tisches nicht nur ehrlich, sondern klug gewesen, dem Osten im Einigungsvertrag verschiedene Übergangsfristen zu gewähren, die im Westen jedes Unternehmen bekommt, wenn sich die Politik ein neues Gesetz ausdenkt.

Das hätte wesentlich weniger Schaden angerichtet, mehr Chancen eröffnet und auch die Chance, dass wirklich „zusammenwächst, was zusammengehört“, wie Willy Brandt es formulierte. Doch zum Zusammenwachsen braucht es immer zwei, und zwar Partner auf Augenhöhe.

Dass das bis heute nicht so ist, ist zumindest erstaunlich. Aber wenn man Gammelins kluge Untersuchung des unterschätzen Landesteils liest, auch wieder nicht. Wer derart massiv Besitz und Vermögen umverteilt von Ost nach West und hinterher behauptet, es käme nur ein fettes Minus dabei heraus, das allein die armen Westdeutschen bezahlen müssen, der lügt sich selbst in die Tasche.

Höchste Zeit, die wirkliche Bilanz einmal auszurechnen. Und gut möglich, dass das auch mit der nächsten Bundestagswahl realistischer wird. Denn auch beim Hinschmelzen der alten Volksparteien folgt der Westen ja dem Osten. Mehrheiten bildet man nicht mehr im alten Muster, sondern in immer verrückteren neuen Konstellationen.

Und je mehr es bei Wahlen auf jedes Prozent ankommt, umso stärker fallen auf einmal die so gern vernachlässigten Minderheiten ins Gewicht. Auf einmal müssen die Wahlkämpfer aus dem reichen Westen im Osten auch richtig Wahlkampf machen, wenn sie im September eine Chance haben wollen, ans Ruder zu kommen. Zünglein an der Waage könnte man das nennen, nennt es Gammelin auch.

Höchste Zeit, die falschen alten Erzählungen aufzulösen. „Die in den Neunzigern begonnene Erzählung der Union, man habe das Beitrittsgebiet mit sauer verdientem Steuergeld gesponsert, passt in das Selbstverständnis, mit dem der Diskurs auf kleiner Flamme gehalten und jede Reflexion des Westens verhindert wird“, schreibt die Autorin.

Womit eigentlich ein nächster Teil der Untersuchung sich andeutet. Denn dieses „Sponsoring“ ist die Lebenslüge des Westens, der seine eigene Rolle im Vereinigungsprozess nie reflektiert hat. Das könnte man dann „Die Überschätzten“ nennen. Oder „Die heimlichen Gewinner“.

Und das sei zumindest noch angemerkt: Die politischen Verwerfungen im Osten haben damit sehr viel zu tun – vor allem mit dem Gefühl, dass der Osten weder in der Tagespolitik noch in Wahlkämpfen eine Rolle spielt.

Gammelin schreibt – als Replik auf Wolfgang Schäubles Optimismus, die Unterschiede zwischen Ost und West würden sich „in den nächsten Jahren“ verwachsen: „Angesichts der strukturellen Benachteiligungen erscheint diese zur Schau getragene Hoffnung etwas überoptimistisch – es sei denn, das politische Spitzenpersonal würde mal einen auf den Osten zugeschnittenen Wahlkampf und sich daran machen, die gröbsten Schnitzer des Einigungsvertrages auszubessern.“

Das lasse ich hier einfach so stehen. Reibe sich dran, wer sich dran reiben mag. Denn Fehler zuzugeben ist eine ganz schwere Kunst.

Cerstin Gammelin Die Unterschätzten, Econ Verlag, Berlin 2021, 22,99 Euro.

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