„Wie viel Moral verträgt der Mensch?“ Unter diesem Titel fand im März 2022 an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL) ein wissenschaftliches Symposium statt. Ein durchaus aktuelles Thema, wie die beiden Herausgeber betonen: „Hintergrund war die verbreitete Beobachtung einer moralischen ‚Aufladung ‘, die heute in vielen gesellschaftlichen und theologischen Debatten zu registrieren ist.“

Es wird gecancelt, vorverurteilt, ausgegrenzt, ausgeschlossen, aber immer weniger miteinander diskutiert. Schon gar nicht mit Leuten, denen man jede Legitimation zum Mitreden abgesprochen hat. „Positionen werden damit nicht mehr als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ verhandelt, sondern als ‚gut‘ und ‚böse‘ bzw. als ‚erlaubt‘ und ‚zu ächten‘, was zur Folge hat, dass entsprechende Konsequenzen gezogen werden müssen (sog. Deplatforming, Kontaktvermeidung etc.)“, schreiben Hiller und Straß.

Der Band enthält die Vorträge des Symposiums. Die Redner selbst sind durch die Bank Theologen. Moral gehört traditionell zu ihrem Arbeitsgebiet. Religion ist ohne Moral nicht denkbar. Im Grunde funktionieren Religionen gerade deshalb, weil sie den Gläubigen einen moralischen Maßstab vermitteln, eine Ethik, die ihnen im Leben Halt gibt. Die aber auch die Gruppe stärkt, einschließt und ausgrenzt.

Denn eine absolute Moral gibt es nicht, kann es nicht geben. Dafür Vorstellungen vom Richtigen und Guten, die sich in Maximen und Gleichnisse fassen lassen.

Freiheit und Gleichheit

Vorstellungen, die auch Raum lassen für den einzelnen Menschen. Ein Thema, auf das Detlef Hiller in seinem Vortrag ausführlicher eingeht: „Alle Menschen sind gleich (unterschiedlich)!“ Ein Vortrag, in dem er dezidiert auf die aktuellen Identitätsdebatten eingeht, die ja obskure Entwicklungen genommen haben. Denn an ihrem Ursprung stehen ur-demokratische Werte, ganz zuvorderst die Forderung der égalité aus der Französischen Revolution, die das hohe Ziel der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit alle Bürger in einer Gesellschaft setzt.

Ein Ziel, das auch die westlichen Demokratien bis heute nicht vollkommen umgesetzt haben. Noch immer gibt es Gruppen von Menschen, die sich diskriminiert, benachteiligt, ignoriert fühlen und es oft auch noch sind.

Angefangen mit den Frauen, deren Kampf um Gleichberechtigung seit über 150 Jahren anhält und immer wieder kleine oder größere Fortschritte mit sich brachte, ohne tatsächlich eine sichtbare und statistisch belastbare Gleichberechtigung mit den Männern zur Folge gehabt zu haben. Mit dem noch viel längeren Kampf der einstigen Sklaven und People of Color geht es weiter. Aber längst werden auch die Diskriminierungen von Homosexuellen und sich als divers empfindenden Menschen thematisiert. Aber nicht nur das.

Es scheint ein regelrechter Wettbewerb entbrannt, immer neue benachteiligte Identitäten zu definieren und für deren Rechte zu kämpfen und gleichzeitig jedem, der das neue Identitätsvokabular nicht im akademisch richtigen Sinn benutzt, zu attackieren. Shitstorms kennt man inzwischen nicht nur aus den Netzwerken rechter Pöbler, sondern auch aus linken Blasen.

An die Stelle einstiger sozialer Kämpfe ist der Kampf um Identitäten geworden. Wobei sich Hiller durchaus zu Recht Gedanken darüber macht, wer da eigentlich für wen redet. Denn die heftigsten Identitätskämpfe führen nicht die Menschen, die tatsächlich diskriminiert und benachteiligt sind, sondern die Vertreter einer weißen, gut situierten Akademikerwelt, die quasi stellvertretend Empörung schüren.

Was schon seltsam genug ist. Aber eben ein zentrales Merkmal der Übermoral, deren Morphologie insbesondere Daniel Straß zu beschreiben versucht, der sich dessen durchaus bewusst ist, dass es hier um Macht und Deutungshoheit geht. Denn wer über Andere redet und urteilt, übt Macht aus und sichert sich Macht.

Moralische Radikale

Und dazu dient die eskalierende Sprache genauso wie die „emotionale Codierung von Meinungsunterschieden“. Meinungsunterschiede werden nicht mehr als unterschiedliche Sichtweisen wahrgenommen, über die man reden kann, sondern moralisch aufgeladen, bis hin zur Intoleranz. Man akzeptiert den Andersdenkenden nicht mehr, sondern verurteilt ihn, versucht gar, ihn sozial zu isolieren.

Ein Phänomen, das eng mit der Wirkweise der Technologien zusammenhängt, die man so leichthin „soziale Medien“ nennt. Doch sie befeuern genau diese Prozesse, treiben Diskussionen immer ins Extrem, sodass am Ende die Fronten verhärtet sind in Gute und Böse. Und selbst die nüchternsten gesellschaftlichen Diskurse (ohne die Demokratie nicht funktioniert) werden mit Moral befrachtet.

Und wer nicht so spricht wie die eigene Gruppe, ist des Teufels. Ein Phänomen, das bis in die politischen Reden in den Parlamenten hinein zu beobachten ist, aber längst auch im Ton der Nachrichtenmagazine.

Als gäbe es kein Dazwischen mehr und die Kritisierten wären nur noch unfähig, böse und korrupt. Wer so über Demokratie schreibt und redet, muss sich natürlich auch nicht darüber wundern, wenn die Menschen immer ratloser und wütender werden und selbst zu solchen Tönen greifen.

Man kann natürlich die zunehmende Komplexität der Welt und der immer deutlicher sichtbaren Krisen als Entschuldigung nehmen. Was als Argument durchaus auch in einigen Vorträgen aufkommt. Aber das entschuldigt nicht wirklich alles. Auch nicht den Ton in der Debatte.

Grenzenlose Freiheit

Dass das durchaus auch mit einem Widerspruch der liberalen Gesellschaft zu tun hat, darauf geht Gerold Lehner in seinem Beitrag „Gnadenlose Moral und grenzenlose Freiheit“ ein. Durchaus wieder theologisch konnotiert, denn der Befreiung des Menschen aus der Vormundschaft der kirchlichen Institutionen, die mit Luther vor 500 Jahren begann, kam auch das akute Problem in die Welt, wie der Mensch sich eigentlich in der Freiheit behaupten kann. Denn jetzt sagt ihm ja niemand mehr, was er zu tun, zu denken und zu fühlen hat.

Auf einmal ist er für alles, was er anpackt, selbst verantwortlich. Womit für jede seiner Entscheidungen die Frage steht: Ist das jetzt richtig oder falsch? Woran kann man das messen?

Lehner spricht dann sogar vom „Scheitern des Liberalismus“. Denn dass die völlige Entgrenzung der eigenen Freiheit auch fatale und katastrophale Folgen hat, kann man am heutigen Raubbau an den Ressourcen der Erde, an der völlig enthemmten Globalisierung und der Zerstörung des Klimas sehen. Die völlig entfesselte Marktwirtschaft kennt und akzeptiert keine Grenzen. Und wo sie Regeln und Gesetze niederwalzen kann, tut sie das auch.

Und gleichzeitig fühlen sich immer mehr Menschen in so einer völlig entgrenzten Welt verloren und machtlos, suchen nach Halt. Denn tatsächlich kann man – so stellt es auch Lehner fest – ein wirklich freies Leben nur gestalten, wenn man (seine) Grenzen kennt und lernt, sich daran zu messen und zu entwickeln.

Und das hat auch mit Moral zu tun, denn Moral definiert Grenzen, schließt ein und schließt aus. Schafft damit auch Bezugsräume, in denen der Mensch sich geborgen fühlen kann. Im Positiven wie im Negativen. Wer nicht einmal das Eigene kennt, kann auch über das Andere nicht reden.

Die Sache mit den Pharisäern

Aber wir sind immer noch unter Theologen. Und wenn sie gut sind, greifen sie zur Bibel. So wie es in diesem Band Roland Deines tut, der sich mit den Pharisäern beschäftigt. Die heutigen „Pharisäer“ streift er nur, auch wenn sie die Protagonisten der heute zelebrierten Übermoral sind, die sich selbstgerecht zu Richtern über Tun und Sagen anderer Menschen aufwerfen.

Aber wer waren sie tatsächlich in der Zeit von Jesus und danach? Wie werden sie im Neuen Testament tatsächlich dargestellt? Durchaus positiv, wie Deines feststellt. Auch wenn Jesus sie immer wieder kritisiert. Denn sie machten das Judentum erst zur Volksreligion, nahmen damit den Priestern und dem Tempel die alleinige Verfügungsgewalt über die Religion. Ein Faktor, der mit dazu beigetragen hat, dass die Juden auch die vielen Jahrhunderte der Diaspora und der Verfolgung überstehen konnten.

Aber so eine (strenge) Auslegung von Moral kann eben auch zum Zwang werden und zur Ausgrenzung – biblisch gesprochen: der Ausgrenzung der Sünder, die sich nicht an die strengen Regeln halten. Und wie jeder weiß, kommt genau an der Stelle Jesus ins Spiel, der von der Ausgrenzung der Sünder gar nichts hielt und die Sache mit der (Über-)Moral regelrecht umkehrte.

„Die Pharisäer sind an Jesus auch darum gescheitert, weil er diese Alterierung von Schuld nicht mitmachte, indem er nicht die Sünder bekämpfte, sondern ihre Schuld auf sich nahm“, schreibt Deines. „An die Stelle der Anschuldigung tritt die Einladung zur Umkehr, d.h. das Eingestehen des eigenen Versagens bzw. Zurückbleibens hinter der Forderung Gottes ist die Voraussetzung eines veränderten Verhaltens.“

Wer ist dein Richter?

Eine Haltung, die übrigens in zwei der berühmtesten Sprüche von Jesus zu finden sind. So in Matthäus 7.3: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“

Und in Johannes 8.7: „Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“

Auf einmal wird die Position der Selbstgerechten völlig infrage gestellt, die immerfort (moralisch) über Andere urteilen und sie aburteilen. Was auch ganz ohne christliches Gewand stimmt und auch in jeder liberalen und atheistischen Gesellschaft gilt – und was wirklich gute Richter bei ihren Urteilen immer beherzigen: Es gibt keine „guten“ und „schlechten“ Menschen. Jeder hat seine Unvollkommenheit, seine Fehler und Abgründe und ist der Gnade (oder des gnädigen Behandeltwerdens) bedürftig. Es ist „diese Einsicht in die eigene Unvollkommenheit (…), die Menschen vor jenem verhängnisvollen Rigorismus bewahrt, der die Schuld am Scheitern immer nur bei anderen sieht“, schreibt Deines.

Der Verzicht auf das Richten

Christoph Raedel verweist in seinem Beitrag „Zur Moralisierung gesellschaftlicher Diskurse“ auf Dietrich Bonhoeffer, für den dieses „Ethos der Versöhnung“ und das „Ethos des Verzichts“ zentrale Themen waren. Lieben war für ihn mit Richten nicht vereinbar. Wer liebt, richtet nicht. „Suche ich aber das Böse bei Andern, so wird gerade darin offenbar, dass ich auch in solchem Richten mein eigenes Recht suche.“

Woraus Raedel folgert: „Das Ethos des Verzichts bezeichnet den Verzicht darauf, andere zu beschämen in der Absicht, sie mundtot zu machen oder herabzuwürdigen, um selbst würdiger dazustehen.“

Das gilt auch für unsere scheinbar so völlig unreligiös gewordene Welt. Und das hat auch mit der von Lehner benannten Entgrenzung zu tun. Als Menschen noch nicht derart mobil waren und in der Anonymität von Großstadt und Internet untertauchen konnten, war es kaum möglich, sich in der überschaubaren Gemeinde zum Moralapostel aufzuwerfen, wenn jeder im Dorf auch die eigenen Schwächen und Fehler und Verfehlungen kannte. Da wurde man sehr schnell kleinlaut.

Heute werden die Shitstorms zumeist von völlig Unbekannten anonym im Netz gestartet. Dass sie ganz gewiss keine moralischen Vorbilder sind, kann man nur vermuten.

Macht und Moral(keule)

Aber so manche Moralkampagne wird auch ganz offen von Leuten gestartet, die eine gut sichtbare öffentliche Sprecherposition haben. Sie machen Politik damit – und laden ihre Reden und Behauptungen mit moralischen Postulaten und Verdammungen auf. Straß weist darauf hin, dass das ein Mechanismus der Macht ist: Wer sein Anliegen moralisch auflädt, versucht die Debatte über Sachfragen und Inhalte abzuwürgen, indem er den Gegenüber moralisch diskreditiert.

Kein Wunder, wenn dann wirklich sachliche Debatten in unserer Gesellschaft immer seltener werden und dafür Mächtige wie Ohnmächtige immer öfter zur Moralkeule greifen und versuchen, den vermeintlichen Gegner mit moralischen Behauptungen zu beschämen oder gar ins Abseits zu stellen, weil er die ach so heiligen Werte der Gesellschaft mit Füßen tritt. Man achte nur auf die diversen „Werte“-Diskussionen.

Nie führen sie zu einem Ergebnis, aber stets schüren sie neue Empörung. Es ist das beste Mittel, Politik in eine immer gleiche Wiederholungsschau der Empörungen z verwandeln.

Der Balken im Auge

Wovon auch Theologen nicht ganz frei sind. Gerade dann nicht, wen sie die Jesus-Haltung nicht verinnerlicht haben, die Schuld nicht immerzu bei Anderen zu suchen. Doch genau das exerziert in diesem Band Kai Funkschmidt exemplarisch durch, wenn er die Umwelt- und Klimabewegung geradezu zu einer Art moralischen Sekte stilisiert und dann gar die Frage stellt: „Die Klimabewegung überschätzt menschliche Macht. Sollten wirklich Menschen das Klima oder gar die Erde retten? Der Mensch will sein wie Gott …“

Das nun ausgerechnet der Klimabewegung vorzuwerfen, die die menschgemachte Zerstörung unseres Klimas aufhalten möchte, hat schon eine gewisse Chuzpe und erfüllt mehrere Merkmale der von Daniel Straß aufgelisteten Merkmale der Übermoral. Da dürfte es eigentlich beim Symposium in Liebenzell deutlich gescheppert haben.

Denn Verstehen fängt nun einmal mit Verständnis an. Und mit der Akzeptanz, dass Andere das anders sehen. Und sich eben nicht auf Gott berufen, wenn es um ein Ändern menschlichen Verhaltens geht. Denn – siehe da – es sind Menschen, die das Klima zerstören und die Artenvielfalt vernichten. Mächtige Menschen, die natürlich auch das Sprechen über ihr Tun definieren. Und dabei sehr moralisch werden können. Oder richtig boshaft, wenn man an den Begriff „Klima-Terroristen“ denkt.

Siehst du den Balken in deinem eigenen Auge nicht, hat Jesus gefragt.

So weltfremd sind seine Sprüche nämlich nicht. Aber augenscheinlich auch für Theologen oft eine Nummer zu groß.

Detlef Hiller, Daniel Straß (Hrsg.) „Morphologie der Übermoral“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023, 29 Euro.

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