Ja, Daniel Kehlmann kommt in diesem Buch auch vor, zumindest als eine Figur, die Kehlmann sein könnte und von welcher der Protagonist Kevin Fellner mehrmals behauptet, er sei mit ihm befreundet. Und beerben will er ihn auch, denn er hat einen Roman geschrieben mit dem Titel „Ich und Kehlmann“. In seiner Vorstellung so gut gemacht, dass er damit den berühmten Kehlmann ein für alle Mal beerbt und vom Thron stößt.

In Österreich scheint das derzeit so eine Art Spiel zu sein. Auch Thomas Glavinic hat 2007 einen Roman veröffentlicht, in dem er Kehlmann und sich selbst auftreten lässt: „Das bin doch ich“. Und Kehlmann selbst spielt in seinen Büchern ebenfalls mit verschwindenden Identitäten – etwa in „Ruhm – Ein Roman in neun Geschichten“.

Aber noch deutlicher wird die Nähe, wenn man Kehlmanns 2003 erschienenen Roman „Ich und Kaminski“ anführt, in dem der Erzähler den Versuch „des eitlen und überheblichen Ich-Erzählers, des Kunsthistorikers und selbsternannten Kunstkritikers Sebastian Zöllner“ schildert, „seiner bisher nicht besonders erfolgreichen Karriere mit einer Biographie des alten blinden Malers Kaminski auf die Sprünge zu helfen. Um sich das Leben und Sterben Kaminskis zunutze zu machen, nähert er sich dem sagenumwobenen Maler persönlich.“

Und genauso versucht der Ich-Erzähler in Christoph Salchers Buch, sich Kehlmann anzunähern, auch wenn er in den Momenten, da er dem Beneideten tatsächlich begegnen könnte, zurückzuckt und jeden Kontakt vermeidet. Seine behauptete Freundschaft mit dem Berühmten ist nur Behauptung. Und gleichzeitig Fixierung und Besessenheit.

Wessen Wahrheit?

Der Umschlagtext fragt zwar so weltumwerfende Fragen wie „Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Wem können wir noch trauen?“ Aber darum geht es in dem Buch gar nicht, das letztlich von einem einsamen Gestrandeten der Gegenwart handelt. Einem, der sich völlig verrannt hat in seinen Vorstellungen von der Welt – in diesem Fall der literarischen Welt. Aber man kennt diese Verlorenen ja auch aus anderen Bereichen des Lebens – völlig eingesponnen in ihre Vorstellungen vom So-ist-Es, ganz auf ihr eigenes Ego kapriziert und überzeugt davon, letztlich alles besser zu können und zu wissen als andere.

Leute, mit denen man sich eigentlich nicht (mehr) unterhalten kann. Sie kennen nur noch sich selbst als einzig gültigen Maßstab. Und in gewisser Weise ist der Topos des vom eigenen Genius überzeugten Autors mittlerweile ja ein klassisches literarisches Sujet. Es kommt nur halt immer auf dasselbe hinaus.

Denn ob einer gut schreiben kann und sein Publikum zu fesseln vermag, das entscheidet nicht die Theorie, sondern das lesende Publikum. Niemand sonst.

Aber die Leser kommen gar nicht vor in der Gedankenwelt dieses Kevin Fellner, der sich – mit einer Kopie seines scheinbar so genialen Romans im Aktenkoffer – auf die Reise zur Buchmesse nach Frankfurt macht und schon im österreichischen Regionalzug, der ihn von Zell am See Richtung München bringen soll, seine Brille zertritt. Ein Moment, in dem man als Leser noch glaubt: Kann ja jedem passieren. So ein Unglück kann einen schon mal richtig aus der Bahn werfen.

Aber mit der kaputten Brille rennt dieser Fellner die ganzen nächsten Tage durch die Geschichte, legt sich mit harmlosen Portiers und Rezeptionisten an, bricht auch heimlich in die Suite des abwesenden Herrn Kehlmann ein, und beleidigt vor allem den armen Entsandten des Rowohlt-Verlages, den er statt der erwarteten Lektorin antrifft und der ihm eigentlich nur verklickern soll, dass er aufhören möge, das Lektorat des Verlages mit seinen augenscheinlich nervenden und beleidigenden Mails und Anrufen zu belästigen.

Moden und Fiktionen

Dass er kein Kafka und kein Brecht, kein Joyce und kein Dostojewski ist, hat er am Ende ja irgendwie eingesehen. Aber mit denen vergleicht er sich ja auch nicht, sondern ist ganz auf diesen Kehlmann fixiert, den er mit seinem Roman regelrecht erledigen will, um dann selbst an dessen Stelle den Platz im Olymp einzunehmen.

Eine Besessenheit, die man wahrscheinlich nur teilen kann, wenn man tatsächlich in einem von Preisen und Ruhm besessenen Literaturbetrieb lebt und glaubt, die aktuellen Bestsellerlisten und Preisträger-Nominierungen würden auch nur das Geringste über Literatur, ihre Qualität und ihre Wirkung aussagen. Das tun sie aber nicht.

Oder um es noch deutlicher zu sagen: Auch Kafka, Brecht, Joyce und Dostojewski haben den Nobelpreis nie bekommen. Gute Literatur ist nicht das Abstimmungsergebnis elitär besetzter Jurys und auch nicht das, was übrig bleibt, wenn die Literaturkritik ihre Gemetzel veranstaltet hat. Auch wenn einige der vollmundigen Kritiker nur zu genau zu wissen behaupten, wie der richtige moderne Roman gebastelt sein muss, welche stilistischen Mittel und welcher Fiktionen und erzählerischen Konstrukte man sich zu bedienen habe, um das Wohlwollen der hohen Richter zu erlangen.

Dass dieser Kevin Fellner schon völlig abgedriftet sein muss, merkt man spätestens bei seiner Ankunft in seinem Frankfurter Hotel, wo er sich benimmt, als wäre er längst ein weltberühmter Autor, den jedermann erkennen müsste. Doch in seinen Reaktionen auf die Menschen, denen er begegnet, merkt man, dass er auch schon lange an der Unfähigkeit leiden muss, mit realen Menschen überhaupt in vernünftige menschliche Gespräche zu kommen.

Der Großteil des Buches besteht folglich aus Bergen von Reflexionen, Überlegungen, Bewertungen, ganz so, als liefe das Hirn des armen Mannes auf Autopilot, abgekoppelt von der Wirklichkeit, sodass er nicht mehr wirklich einschätzen kann, was das bedeutet, wenn ihm der arme Verlags-Azubi mitteilt, man wolle mit ihm nichts mehr zu tun haben – und er ihm dennoch sein Manuskript aufnötigt, aufdrängt, regelrecht mit Gewalt in dessen Rucksack zwängt.

Der gekränkte Autor in seinem Traum

Sicher eine lustige Szene für alle Autoren, die wissen, wie behutsam man mit Verlagen und Lektoren umgehen muss, damit ein gutes Buch tatsächlich am Ende auf den Ladentischen liegt. Literatur ist in Wirklichkeit kein Tummelplatz der Egomanen (auch wenn manches Literarische Oktett so anmutet), sondern Teamwork, eine kollektive Arbeit an einem Produkt, bei dem niemand weiß, ob es am Ende der Tage die Kosten einspielt oder den Verlag in die Insolvenz reißt.

Was nicht heißt, dass es Typen wie diesen Fellner nicht zu hunderten gibt, die die Verlage mit ihren Romanen, Bühnenspielen, Essays und Novellen überschütten in der Überzeugung, tatsächlich das Werk des Jahrhunderts vorgelegt zu haben, und die selbst freundliche Absagen als tiefste Kränkung ihres blühenden Genius verstehen. Und etliche versuchen es auch wie Fellner, ihre Schreibarbeit auf den Buchmessen an die armen Mitarbeiter/-innen der Verlage zu bringen, völlig überzeugt, dass sie nur genug nerven und mahnen müssen, damit ihr Jahrhundertwerk endlich erscheint.

So weit wie Kevin Fellner gehen sie in der Regel nicht. Was auch an der psychischen Konstitution dieses Burschen liegt, der tatsächlich sein ordentlich bezahltes Lehramt an den Nagel gehängt hat, um sich ganz und gar der Idee zu widmen, ein großer Schriftsteller zu sein und Kehlmann vom Thron zu stoßen. Dass er dabei nicht nur seine eigene finanzielle Grundlage völlig verloren hat, sondern auch noch das Geld seiner Freundin Nina verbraten, erfährt man so nebenbei.

Am Ende taucht Nina sogar noch im Hotel auf. Oder besser: In der Vorstellung des Protagonisten, der sichtlich jede Verbindung zur Realität eingebüßt hat und ganz offensichtlich das Ende seines eigenen Romans erlebt.

Das Verschwinden des lesenden Menschen

Die nächste Volte dieser augenscheinlich in Österreich beliebten Gattung der Rollenspiele wäre dann, dass einer einen Roman mit dem Titel „Ich bin Fellner“ schreibt, in dem dann Kaminski versucht, in die Rolle des berühmten Kevin Fellner zu schlüpfen. Ein Spiel, das durchaus auch einem Geistertanz ähnelt. Denn wohin entwickelt sich Literatur, wenn die Leser und Leserinnen abhandenkommen?

Etwas, was dem scheinbar völlig abgedrehten Fellner ja auch noch durch den Kopf schießt, nachdem er wie besessen von der Messe geflüchtet ist (und inzwischen aussieht wie ein abgerissener Raufbold): „Selbst unsterbliche Romane waren in einer digitalen Welt voller Analphabeten nur noch von einem sehr flüchtigen Dasein bestimmt.

Längst schon unterworfen und ein für alle Mal dem Raubtierkapitalismus ausgeliefert, sah ich die Kunst im Allgemeinen, die Literatur im Besonderen, Ich und Kehlmann im Speziellen. Wozu noch schreiben? Wofür noch leben? Geld und Gier diktierten das Dasein. Muße war zu einem Fremdwort, zu etwas Gefährlichem deklariert worden. Bloß nicht zu viel in sich selbst hineinschauen, dachte ich. Denn sonst sieht man unter Umständen etwas, das man lieber nicht sehen will. Im einundzwanzigsten Jahrhundert ausgestorben: homo legens.“

Also: der lesende Mensch.

Der aber in Salchers Buch nicht verkommt, außer wenn man Fellners Besessenheit von den Romanen Kehlmanns dafür nimmt. Wobei sich dieser Fellner eben doch für das „zuviel in sich hineinschauen“ entschieden hat. Als würde man begreifen, wie die Welt eigentlich tickt, wenn man immerfort in Zwiegesprächen mit seinem eigenen Genius ist.

Das geht schief. Das geht auch literarisch schief. Was eigentlich auch dieser Fellner weiß, der im ersten Teil des Buches auch die wohlformulierten Ablehnungen diverser Verlage zitiert, die sein Sensationsbuch partout nicht haben wollten.

Falsche Rollenspiele

Seine Gedanken zum Analphabetismus unserer Zeit kann man durchaus teilen. Wäre da nicht die simple Feststellung, dass das Schimpfen über den „Raubtierkapitalismus“ auch nur eine stilistische Figur ist, die die Tatsache kaschiert, dass der Protagonist so ziemlich unfähig ist, sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Natürlich geht es um Geld. Brecht hat darüber sogar sehr schöne Stücke geschrieben. Wohl wissend auch darum, dass wir alle in dieser Welt auch eine Rolle spielen.

Nur geht es gewaltig schief, wenn man – wie Kevin Fellner – in lauter Rollen schlüpft, die nicht die eigenen sind. Was nicht ganz zufällifg an Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ erinnert, die wiederum eine Parodie auf Goethes „Dichtung und Wahrheit“ war.

Womit man bei den Fragen vom Umschlag des Buches wieder angelangt wäre. Diesmal in der Goetheschen Variation, die Goethe-Biografen durchaus bis heute Kopfzerbrechen bereitet: Was ist eigentlich Wahrheit und was ist Dichtung in seinen Lebenserinnerungen? Was Realität und was – mit Goethe gesprochen – Märchen?

Nur dass Goethe sich dabei – anders als Fellner – nicht verloren hat. Literatur ist also nicht unbedingt so gefährlich, dass sich die Autoren dabei in völlig fremden Rollen und Schicksalen verlieren und nicht wieder herausfinden. Bis zum Schluss nicht. Das passiert nur diesem Fellner.

Christoph Salcher „Ich und Kehlmann“ Milena Verlag, Wien 2023, 24 Euro.

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