Wahrscheinlich braucht man genau solche Eltern, um am Ende den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor zu erhalten, den Nora Gomringer 2025 tatsächlich erhalten hat. Nun auch noch im selben Jahr, in dem ihr Vater Eugen Gomringer, weltberühmt als Erfinder der konkreten Poesie, im Alter von 100 Jahren starb. Während im Verlag Voland & Quist das Buch in Vorbereitung war, in dem Nora sich mit dem Tod ihrer Mutter Nortrud Gomringer beschäftigte, die 2020 starb. Manchmal braucht man tatsächlich fünf Jahre, um mit so etwas fertig zu werden. Und jede Menge grotesken Humor.
Obwohl Nora Gomringers Humor gar nicht grotesk ist. Sondern handfest, zupackend, dicht unter der Oberfläche einer Wirklichkeit, die manchmal die scharfe Schere einer Sprachgenauigkeit braucht, wie sie Noras Vater ja mit seiner Auffassung von Poesie gelehrt hat. Sprache kann sehr genau sein, wenn Menschen damit bewusst umgehen und um die Ausstrahlung von Worten wissen.
Aber die Hohezeit der konkreten Poesie ist schon lange vorbei. Es wird geschludert, geschlampt, geballhornt mit Sprache, dass es zum Grausen ist. Und Narren werfen sich zu Literaturrichtern auf, die von Poesie rein gar nichts begriffen haben. So wie der AstA der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, der seine eigenen Vorurteile in Eugen Gomringers Gedicht „ciudad (avenidas)“ an der Fassade der Hochschule hineinlas und die Entfernung des Gedichts verlangte.
Blamiert haben sich damit nur AstA und Hochschule. Und bewiesen, wie schlecht der Literaturunterricht eigentlich gewesen sein muss, den die jungen Leute erlebt haben. Denn wo lernt man eigentlich, mit Sprache sensibel und genau umzugehen? Die Deutschlehrer, die genau das vermitteln, dürfen sich jetzt ruhig alle melden.
Wie man Texte befragt
Dabei war Eugen Gomringer tatsächlich ein recht schwieriger Typ und nicht gerade ein Vater, der Zuneigung zeigen konnte. Auch kein treuer Ehemann. Acht Jahre lang bevorzugte auch Nortrud Gomringer die Trennung von ihrem Mann. Nur um dann in eigener Entscheidung zurückzukehren, wohl wissend um seine Eigenheiten und Launen. Und seine Unfähigkeit, wirklich Wärme und Herzlichkeit zu zeigen.
In gewisser Weise ist Noras Buch auch eine Sortierung ihres Verhältnisses zum Vater, dessen Haus sie am Ende mit ihren Halbgeschwistern ausräumt. Aber vielleicht kommt ihr Buch über Eugen Gomringer ja noch. Alles hat seine Zeit. Und der kesse, sachliche, zuweilen ironische Ton täuscht darüber hinweg, dass Noras Verhältnis zu Nortrud das innigere war. Und sie auch literarisch mehr verband. Denn Nortrud war es letztlich, die Nora die starke Sensibilität für Texte beibrachte.
„Ich sagte ihr einmal, dass ich das erste Befragen von Texten von ihr gelernt habe. Dass es ein Motiv geworden ist in meinem Leben. (…) Die Inhalte abfragen, um die Intentionen des Autors, bezogen auf das Zeitgeschehen um ihn herum, zu verstehen -(…) Und die Frage nach Relevanz und Eleganz eines Textes und seiner Absichten ist meine eigene Formulierung dafür. Das gefiel ihr.“
Nora Gomringer erzählt das Leben ihrer Mutter nicht linear. Darum ging es ihr von Anfang an nicht. Es ist eine Erkundung geworden, ein durch und durch literarischer Versuch, der entschwindenden Person der Mutter habhaft noch einmal zu werden, die Eleganz und Relevanz regelrecht zu Leitgestirnen ihres Lebens gemacht hatte. Und die Tochter sogar beim Vorlesen in der Badewanne in die Welt der Bücher hineinführte. Eine Frau, die selbst schrieb – intensiv und nächtelang. „Es war eine lange Zeit, in der ich glücklich war. Sie schrieb rund um die Uhr, fieberhaft und zwischendurch elektrisiert von der Freude über Gefundenes.“
Es ist der Moment, in dem Nortrud Gomringer über einen in Amerika gefundenen Briefwechsel tief in das (Liebes-)Leben Lion Feuchtwangers eintauchte. Wie der Detektiv Columbo. Eine Tiefenforschung, aus der Nora später ein Gedicht macht, „das Lion lächerlich macht und Martas Gedächtnis stark. Ich habe es meiner Mutter gewidmet.“
Denn dürfte sie sich in Martas Geschichte nicht selbst wiedererkannt haben?
Die Fliehkräfte in einer Betonmischmaschine
Fragen über Fragen. Viele Fragen bleiben offen, werden angetippt, wenn Nora die Bilder ihrer Kindheit aufruft. Nicht nur das auf dem Cover des Buches, auf dem ihre Mutter heftig beim Rasenmähen zu sehen ist und Nora hinaufschaut zum Fotografen, der wohl Eugen Gomringer war. Ein typisches Foto, wie sie feststellt: von oben, aus der Distanz. Manchmal helfen solche Fotos, Klarheit zu gewinnen. Manchmal öffnen sie die Tür zu Erinnerungen, die ganz tief unten liegen. Aber wir speichern eben nicht alles systmatisch ab im Kopf.
„Das Erinnern ist ein Topf oder ein Behälter mit einem Deckel, den man meistens verlegt hat“, schreibt Nora Gomringer in einer frühen Etappe dieses Erinnerns, in der die Trauer noch schwer auf ihr lastet. „Die Sachen im runden Gefäß drehen sich. Vielleicht dreht sich alles wie in einer Waschmaschine? Oder Betonmischmaschine? Jedenfalls herrschen starke Fliehkräfte und schleudern einem manchmal Bilder aus dem Dunkel entgegen, Wörter, ganze Sätze.“
Vielleicht ist es das, was man in Kassel als „grotesken Humor“ verstehen wollte: die turbulente Unerwartetheit von Bildern und Vergleichen in Nora Gomringers Poesie. Wo andere wie selbstverständlich zu abgegriffenen Stereotypen langen würden, um ihre Trauer nur ja glaubhaft zu verifizieren, nimmt Nora die Bilder, die ihr tatsächlich in den Sinn kommen, packt sie beim Schlafittchen, beschaut sie sich genau. Erinnerung als Betonmischmaschine, die sich dreht und lärmt und kleckert? Natürlich. Was denn sonst.
Ihre innigen und mächtigen Momente
Und die Trauer selbst? „Die Trauer ist ein neuer Rock, ein Kleid, zwanzig Kilo weniger, neue Routine, eine schwere Bronchitis, ein langes Gebet, beständige Fragen, spontanes Weinen, laute Selbstgespräche, leise Wehklagen in erkaltetem Badewasser, irre viel Orga.“
Stimmt. Genau das. Genau mit diesem grotesken Einbruch der Wirklichkeit in die Trauer. „Irre viel Orga.“ Als wäre die tapfere Dichterin jetzt wieder obenauf und würde die Tränen einfach wegwischen. Was sie gewissermaßen auch tut. Tun muss. Aber man weiß die ganze Zeit: Das Andere bleibt alles da, wird nur an den Rand gedrückt, in die Minuten, in denen der ganze Körper dann wirklich trauern darf. Die Zeit, die Erinnerungen an die Mutter zu sortieren, ist später.
Wobei auch noch dazu kommt: Der Todestag gerät ausgerechnet in die Corona-Zeit. Sodass monatelang nicht an eine Beerdigung und eine Familienfeier gedacht werden kann. Zeit genug, auch die Erinnerung und die Gefühle irgendwie zu sortieren. Und eine erste Reise danach zu organisieren, auf der auch Eugen Gomringer noch einmal an die Schauplätze der Reisen mit Nortrud kommt. Abschiednehmen ist Arbeit. Das nimmt einem keiner ab.
Und dann kommen manchmal die Klarheiten, die man immer schon wusste, nie aber ausgesprochen hat: „Ich wusste früh, dass ich nicht zwischen meine Eltern kommen durfte und nicht hinter sie. Zwischen ihnen wäre ich zermalmt worden, weil sie mich nicht sahen, wenn sie ihre innigen und mächtigen Momente lebten, und hinter ihnen wäre ich vergessen worden, sie wären schnellen Schrittes um ein paar Ecken geeilt und hätten ihre pummelige Tochter einfach abgehängt.“
Der Gerichtsvollzieher
Welches Kind kann sein Verhältnis zu seinen Eltern so genau beschreiben? Ohne Groll. Mit einer Nüchternheit, die wahrscheinlich im Kern das ausmacht, was man in Kassel so „grotesken Humor“ nennt. „Sie suchten mich nie. Vor allem in den Phasen, in denen sie Hand in Hand miteinander liefen und meine Mutter glücklich war und mir dabei fern. Ich konnte ihnen nicht verloren gehen. Eifersüchtig sorgte ich selbst für meine Platzierung um meine Eltern herum. Überhaupt sorgte ich für mich selbst in vielen Dingen. So empfahl es sich.“
Das scheint von einer riesigen Distanz zu erzählen. Aber tatsächlich sind Eltern viel tiefer in einem verwurzelt, als man das als distanziertes Kind je gedacht hätte. Der Tod macht es letztlich sichtbar. „Als wäre er ein Gerichtsvollzieher und hätte seinen Kuckuck-Aufkleber auf allem. Und jedem. Ich sehe diese Vögel. Überall.“
Hinter dem scheinbar so unerschütterlich tapferen Blick auf die Vergangenheit wird die Schwere der Trauer sichtbar. Immer wieder. Als Gerichtsvollzieher-Kuckuck auf allen Dingen. Auch so kann man formulieren, dass einem die Umtriebige, Unermüdliche, stets Geschäftige auch vorher schon viel zu oft gefehlt hat. Weil sie sich aufgerieben hat in ihrem selbstgewählten Job für den großen Dichter.
Und nicht aufhören konnte, für ihn den ganzen Betrieb zu organisieren. Beide konnten nicht loslassen. Ein Sekretär kam nicht infrage. Eine selbstgewählte Überforderung, aus der Nortrud Gomringer am Ende nicht ausbrechen konnte. Das dürften viele Frauen kennen, die sich im Betrieb ihres Mannes unentbehrlich fühlen. „Dieser Moment, an dem sie lebensmüde wurde. Den haben wir alle verpasst.“
Mit Meerschweinen lernen
Man überliest diese tiefe Trauer beinah. Denn wie Nora Gomringer schreibt, sind ihre Sätze voller Leben. Voller Tatendrang. Das Leben anpacken, wie es ist. Nicht klagen. Vielleicht lernt man das am Ende von einer Mutter, die sich bis zuletzt nicht kleinkriegen lässt, die mit all ihrer Kraft dafür sorgt, dass ohne sie eigentlich nichts läuft in Vaters Betrieb. Vielleicht ist das sogar eine Lektion fürs Leben.
„Als Frau, die Eifersucht, Ohnmacht, wirtschaftliche Engen und Ehrgeiz auch in der Liebe kennengelernt hat, habe ich heute viel Verständnis für eine Bleibende, eine Beharrliche wie sie“, schreibt Nora fast zum Schluss ihrer Aufarbeitung dieses Mutter-Tochter-Lebens. „Aber Verständnis ist auch so etwas Changierendes, wie das Erinnern. Und es kennt eigentlich keine Verwandtschaft mit dem Verzeihen.“
Das klingt so trocken, als steckten gar keine Gefühle mehr darin. Aber wer dem Satz nachspürt, weiß: Das war eine ganze Packung Taschentücher, die da nass im Eimer gelandet sind. Eine Trauer, die schon vor dem frühen Dienstagmorgen mitten in der Corona-Pandemie begonnen haben muss, an dem Nortrud tatsächlich starb. Auch wenn das erst der Anfang der Trauerarbeit war, die in diesem Buch ihren Niederschlag gefunden hat.
Ein Abschied auch von einer Rolle, in die sich die Tochter die ganze Zeit gefügt hat. Abschied auch als eine tiefe Erleichterung, jetzt nicht mehr diese Rolle spielen zu müssen, die man als Kind übergeholfen bekommt, ob man will oder nicht. Eine Rolle, die man erst hinterher loswird. „Manchmal war ich sogar beruhigt und meinte, meine Scharnier-Rolle zwischen ihnen nicht mehr spielen zu müssen. Der Narr hat seine Schuldigkeit getan. Verkehrt, das Zitat. I know. Aber was ich schrieb, passt auf mich, die entlassene Schlichterin.“
Dahin erst einmal kommen als – nachgelassenes Kind – dazu gehört eine Menge Arbeit. Aufräumarbeit. Und Abschied natürlich. Ein Abschied, der nur möglich wird, wenn man den ganzen Klamauk der Gefühle und Erinnerungen einmal abarbeitet. Stück für Stück. Aber irgendwie gelernt haben wir das ja – dereinst, als wir mit allerlei Hunden, Katzen und Meerschweinen übten, wie das ist mit dem Tod und dem Abschied. Und dem Erinnern.
Nora Gomringer „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“, Voland & Quist, Berlin 2025, 22 Euro.
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