Damit Menschen in einem Thriller landen, braucht es gar keine Geister und Dämonen. Das bekommen auch die gnadenlosen Zeitgenossen hin, die sich für unfehlbar halten und Anderen das Leben zur Hölle machen. Gern propagandistisch aufgemotzt, wenn man damit Medaillen zum Beispiel bei Olympischen Spielen gewinnen kann. Und darin war das Sportsystem der DDR brillant.

Jeder Blick in die alten Medaillenspiegel zeigt es. Was diese nicht zeigen, sind die gesundheitlichen Folgen für die jungen Leute, die ins Kadersystem der DDR gerieten. Und Trainern in die Hände fielen, die keine Skrupel hatten beim Verabreichen von „leistungssteigernden Mitteln“.

Das ist der dunkle Hintergrund von Alma Lundts zweitem Thriller um die Kinderärztin Martha, die nach den bedrückenden Vorgängen in „Das Moorkind“ ihren Koffer gepackt hat und eine neue Stelle an einem Krankenhaus im hohen Norden Norwegens angenommen hat. Eine Entscheidung, die auch mit einem Foto zu tun hat, das sie an ihren Vater erinnert, der einst von seinen Träumen einer Reise in den hohen Norden erzählte, bevor er bei einem Autounfall ums Leben kam. Ein Unfall, der wie ein Schatten auf dem Leben von Martha liegt. Obwohl sie damals noch ein Kind war, fühlt sie sich für diesen Tod verantwortlich.

Und die Ereignisse in „Das Moorkind“ haben sie zusätzlich verunsichert. Das Verschwinden zweier Kinder spielte da eine Rolle. Und um ein Kind geht es auch in diesem Roman, um „Das Polarkind“. Eigentlich nicht nur um eins. Auch wenn mit der kleinen Maja alles beginnt, auf die Martha gleich am ersten Tag ihrer Ankunft in dem Ort am Polarkreis aufpassen soll.

Doch in einem unbeobachteten Moment verschwindet Maja. Spurlos. Selbst die Polizei ist ratlos, sucht vergeblich mit einem Großaufgebot nach dem Kind. Und verdächtigt erst einmal die frisch aus Deutschland angereiste Ärztin, mit Majas Verschwinden etwas zu tun zu haben. Eben noch dachte sie: „Jetzt wird alles gut.“ Und schon sitzt sie wieder mitten in undurchschaubaren Vorgängen, wird beschuldigt und weiß sich nicht zu verteidigen.

Wehrlos

Eine Situation, in der sich viele Leserinnen und Leser wiedererkennen dürften. Wie wehrt man sich in Situationen, in denen man überhaupt nicht weiß, was vor sich geht, aber alle Verdachtsmomente auf einen weisen? Was noch verschärft wird dadurch, dass Martha Kinderärztin ist und Kindern nie ein Leide tun könnte. Wer aber hat Maja entführt? Ist sie tot, im Fjord ertrunken?

Und es wird dunkel und bitterkalt. Die lange Polarnacht kündigt sich an. Die Tage schrumpfen auf Stunden zusammen. Und über Tage bleibt das Kind einfach wie vom Erdboden verschwunden. Keine Spur scheint zu ihm zu führen. Und die kleine unterbesetzte Polizeitruppe um Erik und den aus Oslo strafversetzten Thure scheint regelrecht im Dunkeln zu tappen.

So, wie man das aus den großen skandinavischen Kriminalromanen kennt. Hier sind Polizisten keine Superhelden, sondern haben Familie, Gefühle, Versagensängste, Brüche in ihren Karrieren, hängen in ihren eigenen Geschichten fest und rasseln in der Ermittlungsarbeit so richtig aufeinander. Wer hat eigentlich das Sagen in dem Fall? Welche Spur ist die richtige?

Aber Thure wurde nicht versetzt, weil er seine Arbeit vermasselt hat, sondern weil er einen Verdächtigen geschlagen hat, um ein größeres Unheil zu verhindern. Und während er nach und nach die Leitung bei den Ermittlungsarbeiten übernimmt, sorgt ein tatsächlicher Mord dafür, dass die scheinbar ganz einfache Entführungsgeschichte eine völlig neue Dimension annimmt.

Auf einmal weisen die Spuren nach Deutschland, in die einstige DDR, in das rücksichtslose Kadersystem, mit dem die DDR ihre Kinder fit machte für Olympiasiege. Und mit dem sie diese oft fürs Leben schädigte.

Alte Geschichten

Ein totes Mädchen scheint dabei eine Rolle zu spielen. Nur in welcher Beziehung stand es zu Marthas Vater? Warum hat ihre Mutter alles verbrannt, was einst dem Vater gehörte? Warum hat sie dann auch noch ihre Töchter in Berlin zurückgelassen und hat sich in die Schweiz abgesetzt? Fragen über Fragen, die nun auf einmal Martha gerade im hohen Norden einholen.

Auch wenn sie das noch nicht ahnt. Auch nicht ahnt, dass es ihre eigene Kindheitsgeschichte ist, die sie hier in der Kälte einholt. Aber sie hat eins gelernt, auch damals schon, als sie sich allein um ihre rebellierende Schwester kümmern musste: Man darf nicht aufgeben. Für alles gibt es eine rationale Erklärung, auch wenn das Ganze anfangs geradezu mystisch und undurchschaubar wirkt. Und irgendjemand es tatsächlich auf Martha abgesehen zu haben scheint.

Das ist der Thrill in dieser Geschichte: Sie weiß nicht, wer das sein könnte, woher das kommt und warum es ausgerechnet ihre eigene Geschichte ist, die sie hier einholt. Wo sie doch gerade erst vor genauso beklemmenden Ereignissen in Deutschland geflohen ist.

Hoffend, hier einfach bei null anfangen zu können. Im Grunde ist es eine Geschichte, wie wir sie alle erleben, wenn wir glauben, den ungeklärten Ereignissen unserer Vergangenheit einfach entfliehen zu können. Nur weg und vergessen. So, wie sich ja auch Millionen Ostdeutsche verhielten. Schluss mit den alten Geschichten. Einfach irgendwo anders neu beginnen.

Kalt und gefährlich

Aber so verhält sich Geschichte nicht. Erst recht nicht, wenn Martha – ohne ihr Wissen – verstrickt ist in eines der dunkelsten Kapitel der DDR. Und dabei auch noch jemandem in die Quere kommt, der zurecht befürchten muss, dass seine eigene Geschichte wieder publik wird oder dass die so unverhofft auftauchende Martha gar eine offene Rechnung begleichen will.

Dann handeln auch die sich so rational gebenden Täter irrational, überschreiten Grenzen und lösen – wie in diesem Fall – Tage des Horrors aus, in denen nicht nur ein lebenslustiges Mädchen verschwunden ist, sondern auch Martha immer stärker in Verdacht zu geraten scheint und am Ende nur noch fliehen kann in die eisige Einsamkeit der Wälder. Nicht ahnend, dass sie auch dort nicht sicher ist.

Der Ullstein Verlag hat den Thriller schon in sein E-Book-Programm aufgenommen. Für alle, die beim gemütlichen Tablet-Lesen im Sesseln mitfiebern und mit den Zähnen klappern wollen, weil es – gerade für Martha – immer wieder richtig kalt und gefährlich wird.

Aber nie gerät die verschwundene Maja aus dem Blick. Und auch das nicht, was die Kinderärztin Martha die ganze Zeit nicht ruhen lässt. Denn wenn es um Kinder geht, kann sie nicht anders: Sie muss sich selbst auf die Suche machen, erst recht, als sie merkt, dass die Polizei scheinbar völlig falschen Fährten folgt. Und damit gerät sie gerade jenem ins Gehege, dem sie eh schon ein Dorn im Auge ist.

Der lange Schatten der Geschichte

Und so entsteht natürlich das nur zu vertraute Entsetzen, wenn Menschen glauben, den Schatten der Vergangenheit entflohen zu sein. Nur ja weit weg. Denn auch Marthas Weg in den Norden ist ja ein radikaler Versuch, das Vergangene hinter sich zu lassen. Dass ihre Mutter nicht viel anders reagiert hat, wird sie erst am Ende erfahren, als sich alles dramatisch zugespitzt hat und Martha mit einem fast leeren Handy mitten in der norwegischen Einsamkeit steht.

Noch weiter weglaufen kann sie nicht. Man sollte sich also schön warm anziehen, wenn der Roman auf das Finale zurollt. Es wird kalt und zähneklappernd. Auch wenn das Ende sich dann völlig anders entwickelt, als man es zu diesem Zeitpunkt vermuten kann.

Zur Belohnung gibt es am Ende Kaffee und Zimtschnecken. Und einen Berg Geschichten, die sich nun nach Jahrzehnten langsam aufhellen, Geschichten, die bis in die Geschichte Norwegens im Zweiten Weltkrieg und zum Schicksal der Lebensborn-Kinder führen.

Geschichte wird man nicht los, wenn man sie überstreicht oder einfach ignoriert. Sie lebt als Schatten in den Opfern weiter. Und als Gespenst in den Köpfen der Täter. Und es sind die Kinder und Enkel, die in diesen Verstrickungen oft landen, ohne zu ahnen, was da auf einmal die Welt verdunkelt und Kälte verbreitet mitten in einem Moment, in dem eine noch dachte: „Jetzt wird alles gut.“

Alma Lundt „Das Polarkind“, BoD, Hamburg 2025, 14 Euro.

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