LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 79In den ersten Jubel nach dem Fall der Mauer mischt sich in der noch existenten DDR bald auch Unbehagen, denn es wird klar, dass es kein Rückfahrticket in die kuschelige Gemeinschaft der „Volkseigenen Betriebe“ (VEB) geben wird, der Orkan des kapitalistischen Umbruchs nicht ohne Verwerfungen vonstatten geht. Die Bereitschaft zum Streik und soziale Proteste werden zum Begleiter im Ostdeutschland des Jahres 1990. Wo kam das Protestpotenzial her? War es unbedeutend oder hatte es doch einen Einfluss auf den Verlauf der ökonomischen Transformation?

DDR: Streikrecht nur auf dem Papier

Streiks als sozialpolitisches Phänomen, das nach dem Mauerfall vor allem in Ost-Berlin und im Süden der DDR auftritt, sind zu dieser Zeit etwas Neuartiges. Abgesehen vom Aufstand des 17. Juni 1953, der jedoch bis 1989 die letzte, scharfe Konfrontation zwischen Bevölkerung und Obrigkeit bleiben sollte, hatte es kaum Streiks in der DDR-Geschichte gegeben.

Dabei stand die erste DDR-Verfassung von 1949 – ganz in der Tradition eines Einsatzes für Entrechtete – nicht nur für die Garantie ein, Vereinigungen zur Verbesserung von Lohn- und Arbeitsbedingungen anzugehören, sondern formulierte im zweiten Absatz des Artikels 14 auch unmissverständlich: „Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet.“

Wie so oft ein Papier-Bekenntnis. In Wirklichkeit argumentierte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), SED-treuer Dachverband der einzelnen DDR-Gewerkschaften, im Arbeiter- und Bauernstaat gehörten Fabriken, Maschinen, und Anlagen ja ohnehin schon dem Volk. Ein Streik der Arbeiterschaft wäre folglich ein unsinniger Streik gegen sich selbst.

Es ist ein rhetorischer Winkelzug, der ein vermeintliches Volkseigentum als Argument gegen jeden Keim von Eigeninitiative nutzt. Alles basiert auf einer machtlogischen Überlegung: Unkontrollierbarer Raum gilt in der sozialistischen Erziehungsdiktatur als Risiko.

Ob die SED-Führung den Widerspruch erkannt hatte? Jedenfalls verschwindet das Streikrecht still und leise aus der geänderten Verfassung von 1968 und 1974 – und spielt dann faktisch keine Rolle mehr.

„Wir fahren Westware und kriegen Scheißgeld“

Erst mit dem Umbruch von 1989/90 wendet sich das Blatt. Mit der neuen Freiheit kann nun auf Missstände aufmerksam gemacht werden – und an denen mangelt es nicht. Ein Beamter aus West-Berlin, der den Gestank aus dem Ostteil zu spüren bekommt, wird Anfang 1990 mit den Worten zitiert, der „Sektor Gas, Wasser, Scheiße“ sei dort in einem „unglaublichen Zustand.“

Es rächen sich die Folgen jahrelanger Vernachlässigung der DDR-Infrastruktur und des ökologischen Raubbaus. Undichte oder kaputte Röhren der Ost-Berliner Kanalisation, die großteils auch an West-Berlins Abwassersystem angeschlossen ist, bilden nur die Spitze des Eisbergs – und treffen die West-Berliner zwangsläufig mit. Im Rest der Bundesrepublik lese man morgens bei Brötchen von den Zuständen in der DDR – „uns aber fliegt der Dreck um die Ohren“, klagt ein Senats-Oberer aus West-Berlin.

So kommt es im Frühjahr 1990 zu Ausständen im Ostteil der Stadt, wo Gewerbetreibende, Händler und Handwerker ihrem Unmut Luft machen. Auch die LKW der Ost-Berliner Müllabfuhr und hunderte Taxis stehen zeitweise still. Ärger zeigt sich überdies bei Polizei, Straßenreinigung und Eisenbahnern: „Wir fahren Westware und kriegen Scheißgeld“, schimpft ein Reichsbahn-Bediensteter Anfang 1990.

Streiks und Proteste haben oft politischen Impuls

Der Zorn über allgemeinen Verfall, Mangel und Unterversorgung am Ende der DDR, der Wunsch nach mehr wirtschaftlicher Teilhabe – dies liefert erste Erklärungen über die neue Streikbereitschaft. Gefördert wird sie von einer unzureichenden Personalausstattung, verschärft durch die Ausreise vieler Menschen gen Westen. Selbst das „Neue Deutschland“ berichtet von immer mehr Wohnungen ohne Gardinen, in deren Fenstern nie Licht brennt.

Es ist kaum möglich, die Gründe für die Streiks am Ende der DDR trennscharf zu fassen. Doch mit Sicherheit spielt ein DDR-spezifischer Impuls zusätzlich mit hinein, nämlich politische Fragen nach der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), dem Bruch des parteilichen Machtmonopols und der Einheit Deutschlands. Schon am 15. Dezember 1989 hatten 10.000 Beschäftigte in Plauen die Arbeit unterbrochen, um für die Einheit zu demonstrieren, und am 12. Januar 1990 treten tausende Menschen in Erfurt in den Ausstand.

Auch kommt es zu Arbeitsniederlegungen, weil die Regierung von DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (SED – SED-PDS – PDS) die Parole des Revolutionsherbstes „Stasi in die Produktion!“ umzusetzen versucht. Doch die Aufnahmebereitschaft der Betriebe hält sich gegenüber den Schnüfflern der entmachteten Geheimpolizei oft in Grenzen.

Dagegen treten innerbetriebliche Mitbestimmung und gewerkschaftliche Organisation als Themen nur langsam in den Vordergrund. Den Ostdeutschen fehlen Erfahrungswerte. Auch die Demokratie am Arbeitsplatz muss in der Freiheit erst eingeübt werden.

Die umstrittene Rolle der Gewerkschaften

1990 entsteht in vielen DDR-Betrieben ein Machtvakuum, weil die als Erfüllungsgehilfen der SED geschassten Leiter eine Lücke zurücklassen. „Runde Tische“ von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beraten, wie es weitergehen soll. Es sind die ersten Gehversuche einer Demokratisierung, die der FDGB nicht verhindern kann.

Umstritten bleibt die Rolle des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), dem vorgeworfen wird, den SED-ergebenen FDGB nach dem Mauerfall hofiert und so das allgemeine Misstrauen gegenüber Gewerkschaften gefördert zu haben. Dabei ist das FDGB-Funktionärskorps seit Ende 1989 fast nur noch mit der Rettung eigener Pfründe beschäftigt.

Auf dessen Betreiben verabschiedet die DDR-Volkskammer im März 1990 sogar ein Gesetz, das dem FDGB eine privilegierte Stellung gesichert hätte. Nach der ersten und letzten freien DDR-Parlamentswahl wenige Tage später wird es jedoch ignoriert und im Mai 1990 aufgehoben.

Gefangen im Spannungsfeld

Im Lauf des Jahres 1990 dreht sich der Wind. Zur politischen Dimension der Streiks kommen handfeste, ökonomische Fragen. Die Währungsreform am 1. Juli 1990 führt in Ostdeutschland zum Konsumeinbruch, Debatten über künftige Eigentumsrechte prägen die Stimmung. Je mehr sich die Einheit im Herbst abzeichnet, desto drängender geht es um die Sicherung von Lohn und Arbeit.

Im Juni 1990 streiken wieder die Müllfahrer in Ost-Berlin, es folgen Arbeitsniederlegungen in der Metallbranche, bei Kalikumpeln, Landwirten und Gärtnern. Die Gewerkschaften lavieren im Spannungsfeld zwischen Profilierung im Osten und wirtschaftlichem Sachzwang.

Bei aller Kritik gehört es zur Wahrheit, dass dieser Spagat kaum elegant zu bewältigen ist – zumal die Herausforderungen des ökonomischen Übergangs gravierender sind, als zeitgenössisch prognostiziert.

Als die qualmenden Schlote verschwanden

In dem Sinne stellen sich die Streiks und sozialen Proteste am Ende der DDR als Symptom eines Wandels dar, der nachholt, was die Bundesrepublik und andere Staaten Westeuropas schon seit den siebziger Jahren erlebt hatten: Den Abschied von der klassischen Arbeitswelt der Werften, Kohlezechen, Stahlwerke und Textilfabriken, das Ende qualmender Schornsteine und der Ausbau des Dienstleistungssektors.

Das Titelblatt der Leipziger Zeitung, Ausgabe 79. Foto: L-IZ.de
Das Titelblatt der Leipziger Zeitung, Ausgabe 79. Foto: L-IZ.de

Dieser heute etwas unscharf als „Deindustrialisierung“ umrissene Prozess steht im Zusammenhang mit der Mikroelektronik, der globalen Vernetzung und den Ölkrisen der Siebziger – Faktoren, die das Aus für die goldenen Boomjahre nach dem Zweiten Weltkrieg markieren. Der Umbruch wird in Westeuropa bewältigt, geht aber mit dem Verlust von Millionen Jobs in der Industrie und sozialen Turbulenzen einher, deren Nachhall bis in unsere Tage spürbar ist.

Die DDR dagegen steht 1990 vor den Scherben ihrer schwachen „Planwirtschaft“, die den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft verpasst hat. Zwar sind Forst- und Landwirtschaft bereits geschrumpft, doch noch immer dominieren Industrie und Handwerk gegenüber Angeboten von Handel, Bildung & Wissenschaft, Banken, Versicherung und Sozialwesen. Zwischen DDR und Bundesrepublik klafft eine Lücke von 25 Jahren, die rasch aufzuholen ist.

Das funktioniert nicht ohne Verwerfungen. Die in der DDR propagandistisch forcierte Figur des Arbeiters macht hier 1990 noch etwa die Hälfte der Beschäftigten aus, fällt in ihrem Anteil aber bis 1994 auf ein Viertel.

Für die Menschen sind die Konsequenzen hart. Obgleich der Sozialstaat materielle Folgen eines Arbeitsplatzverlustes abfedert: Die Identitätskrise Betroffener, die mit dem Broterwerb auch ihren in Arbeitskollektiven geprägten Wertehorizont verlieren, kann er nicht lösen.

Mit der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft bricht 1990 nicht allein ein System radikaler Kooperation statt Konkurrenz zusammen, das sich wegen fehlender Anreize zu Leistung und Innovation als nicht zukunftsfähig erweist. Zugleich verschwindet ein soziales Netz von Sinnstiftung und Zusammenhalt, das wesentlich über Arbeit geprägt worden war. Eine Idealisierung dieser Verhältnisse wäre falsch – doch sie waren ein Fakt, dessen Einbrennwirkung sich kaum jemand entziehen konnte.

Nützt uns die historische Erfahrung?

So sind die Streiks am Ende der DDR der Beginn eines Lernprozesses, der zur Einübung des aufrechten Gangs im kalten Wind der Marktwirtschaft beiträgt. Einfluss auf den Prozess der nachholenden Modernisierung Ostdeutschlands haben sie kaum. Viele Forderungen erweisen sich als verständlich, aber unerfüllbar.

Das zeigt sich Ende 1990 beim ersten großen Streik nach der Einheit, der von den Eisenbahnern im Osten ausgeht. Weder die veraltete Technik noch das marode Streckennetz der DDR können es mit der Deutschen Bahn aufnehmen, die zudem mit eigenen Problemen kämpft. Der Personalbestand der alten Reichsbahn geht in drei Jahren fast um die Hälfte zurück.

Bei aller Komplikation kann die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft aber rückblickend als Beweis gelten, dass eine moderne Gesellschaft auch einen solchen Umbau schaffen kann. Anders als einst von Hannah Arendt prophezeit, ist uns die Arbeit bisher nicht ausgegangen. Mag sein, dass Geschichte uns keine Anleitung liefert, wie wir handeln sollen. Doch vielleicht hilft die historische Erfahrung, dem heutigen Wandel der Arbeitswelt durch Digitalisierung, KI und Big Data gelassener entgegenzusehen.

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Machtgefälle im Kopf. Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 80 ist da: Was zählt …

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Bereits erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de

Der Leipziger Osten im Jahr 1886

Der Leipziger Westen im Jahr 1886

Westlich von Leipzig 1891

Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914

Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938

Der I. Weltkrieg – Leipzig im letzten Kriegsjahr 1918

Leipzig in den „Goldenen 20ern“

Leipzig im Jahr 1932

Die DDR im Rückblick

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