Die Wahlrechtsreform ist das aktuell heißeste Eisen der deutschen Politik.
Für die einen bringt sie die Demokratie in Gefahr, für die anderen gilt sie als längst überfällig und soll für bessere Arbeitsbedingungen im Bundestag sorgen.

In Kurzform und für Dummys erklärt ist es bislang so geregelt: Bürger legen mit dem Kreuz der Erststimme eine Person fest, die sie im Bundestag vertreten sehen wollen und wählen mit der Zweitstimme eine Partei. Wer immer die höchste Zahl von Erststimmen hat, erringt ein Direktmandat. Gibt’s davon mehr, als der Partei nach den Zweitstimmen zustehen, entsteht ein Überhangmandat.

Die CSU erringt traditionell viele Überhangmandate, weil sie in fast allen bayrischen Wahlkreisen gewinnt. Das Verfassungsgericht hat geurteilt, dass die anderen Parteien für jedes Überhangmandat Ausgleichsmandate erhalten sollen, damit das Verhältnis wieder stimmt. Klar, das bläht den Bundestag auf. In dieser Wahlperiode sind dort 736 Abgeordnete tätig.

Mit ihrer Reform will die Ampel Überhangmandate abschaffen und die Abgeordnetenzahl auf 598 begrenzen. Parteien bekommen dann nur noch so viele Direktmandate, wie ihnen nach den Zweitstimmen zustehen. Der Kandidat mit den wenigsten Erststimmen muss dann zuerst verzichten. Das sind gern mal Politiker aus besonders umkämpften Wahlkreisen. Tja, mehr Glück beim nächsten Mal. Wir sehen uns in vier Jahren wieder.

Das Titelblatt der 111. und letzten Printausgabe der LZ, März 2023. Foto: LZ
Das Titelblatt der 111. und letzten Printausgabe der LZ, März 2023. Foto: LZ

Zwei Parteien würde die Reform besonders hart treffen. Die Linke und die CSU. Die in einer seltenen Einmütigkeit gegen die Reform anopponieren. Was ihr gutes Recht ist. Letztendlich wird wohl das Verfassungsgericht bemüht werden müssen. Voller Vorfreude wird man sich über diese Aussicht in Karlsruhe nicht die Hände reiben.

Sowohl die Linke wie die CSU sind Klientelparteien. Die CSU vertritt die bayrische Wirtschaft, die Linke (trotz der AfD-Konkurrenz) die Interessen einer gewissen (vor allem) ostdeutschen Alterskohorte, die sich sozial und medial unwohl im 21. Jahrhundert fühlt. Ohne die CSU wäre Bayern heute nicht das wirtschaftliche Powerhouse, das es ist.

Dass Mitglieder einer Regionalpartei regelmäßig an Kabinettsposten gelangten, zahlt sich für jene Region aus. Weil jeder der CSU Minister wusste, dass sein Brot letztlich in München gebuttert wird, nicht in Bonn und Berlin. Ich erinnere mich noch gut an die Verunsicherung der CSU, sobald klarwurde, dass Bundestag, Ministerien und Kabinett nach Berlin umziehen.

Eine echte Zeitenwende – der Beginn der Berliner Republik, die eben nicht mehr die Bonner war, und der Anfang vom Ende einer aus Süddeutschland überproportional bestimmten Bundespolitik. Von nun an waren auch Unions-Kanzler/-innen Protestanten. Es war ein langer, langsamer Abschied vom weiß-blauen Wölkchenhimmel hinaus ins platte ostelbische Land.

In Zukunft wird es lauter und heftiger im Bundestag zugehen, aber in gewissem Sinne auch fairer, weil die CSU im Bund ihre unangemessene Macht verliert. Und die Linken? Die haben sich zwischen einer westdeutschen Nostalgiefraktion und einer ostdeutschen Empörtrentnerwählergruppe ideologisch aufgerieben und stehen vor einer Spaltung. Die wohl vor allem den blauen Schlipsnazis nutzt, deren Kernklientel auch um einiges (toxisch) männlicher, aber auch jünger ist als das der Linken.

Ist es gut, dass die Linken zukünftig mehr als je zuvor um ihren Wiedereinzug in den Bundestag zittern müssen? Nein. Aber es ist der Preis, der wahrscheinlich zu zahlen sein wird, um die Machtverhältnisse im Bundestag für alle Bundesländer gerechter zu gestalten. (Irgendwer reiche „dem Margus“ ein Tempotaschentuch für die Wuttränen!)

„Haltungsnote #49: Ampeltango sticht Amigo-Walzer“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 111 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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