Es war eine Gelegenheit, auf dem Matthäikirchhof einfach mal aufzuräumen und die Geschichte der in den 1980er Jahren dort hingeklotzten Stasi- und VP-Gebäude zu beenden. Aber diese Chance nutzte der Stadtrat am 20. April nicht. Auch wenn Baubürgermeister Thomas Dienberg betonte, dass die Teilnehmer des städtebaulichen Wettbewerbsverfahrens vollkommen freie Hand haben, den Matthäikirchhof auch ohne diese Bauklötzer zu planen.

Dieser Wettbewerb wird jetzt europaweit gestartet, auch wenn so mancher Teilnehmer mit den Unterlagen Kopfschmerzen bekommen wird. Was wollen die Leipziger denn nun? Ein wirklich ambitioniertes und offene Wettbewerbsverfahren, wie es Thomas Dienberg in seiner Einführung für die Vorlage beschwor?

Oder eines, in dem irgendwas von diesen 1980er-Jahre-Bauten erhalten wird, weil es so genau in den Unterlagen steht. Denn emsig waren in den Beteiligungsverfahren Akteure unterwegs, die darauf beharrten, dass man diese beiden Prachtbeispiele des ostdeutschen Brutalismus stehen lassen sollte und weiterverwenden.

Mal aus Gründen der Erinnerung, damit diese Zeitschicht – transparent – erhalten wird. Mal wurde das neuere Schlagwort von den „grauen Energie“ benutzt, denn natürlich wurde in diese beiden Klotzbauten jede Menge Beton gekippt. Betongewordene „graue Energie“. Wer diese Klötzer, die ja unübersehbar das Durchqueren des Matthäikirchhofs erschweren, abreißen würde, würde ja wieder neues CO₂ produzieren.

„Sorgfältiger Umgang mit dem baulichen Bestand“

Dem folgten dann auch die involvierten Bürger in der Bürgerbeteiligung. Nicht alle. Aber genug, um den Eindruck zu bekommen, dass eine Menge Leute an diesen ästhetisch ganz und gar nicht schönen Gebäuden hängen. Und es hat eben auch in das Eingang gefunden, was die Stadt so locker den „Matthäikirchhof-Code“ nennt, als wäre das schon mal die Programmierung für das, was man da gern stehen hätte. Punkt 2.1: „Sorgfältiger Umgang mit dem baulichen Bestand.“

Es sind nur diese beiden Betonbauten aus der späten DDR-Zeit, die da stehen.

Und die teilnehmenden Planerinnen und Planer dürften durchaus ins Grübeln kommen, wenn sie lesen, was die Leipziger da eigentlich wollen: „Die Frage nach dem Umgang mit den Bestandsgebäuden aus den 1980er Jahren ist vielschichtig und hat neben der räumlichen eine historische Ebene.

Neben der städtebaulichen Qualität, der Durchwegung und den Gestaltungs- und Nutzungsansprüchen gilt es auch Aspekte wie graue Energie, Kosten-Nutzen-Abwägungen und nicht zuletzt Erinnerungskultur und historisches Erbe miteinander abzuwägen und ein stimmiges Gesamtkonzept zu entwickeln. Dabei soll überprüft werden, ob Bestehendes abgerissen oder mit Neuem verbunden werden kann.

Einigkeit besteht bei der Anforderung, das Areal räumlich und funktional zur Stadt zu öffnen und die Abschottung aufzubrechen. Denkbar wäre auch, ausgewählte Gestaltungselemente der baugebundenen Kunst der DDR weiterzuverwenden. Eine städtebaulich sinnvolle Einordnung sowie nachvollziehbare Nutzungskonzepte gilt es zu prüfen und nachzuweisen.“

Was davon ist eigentlich bewahrenswert?

In der Vorlage aus dem Baudezernat steht aber auch eindeutig, dass nichts von diesen Betonbauten in irgendeiner Weise Denkmalschutz genießt: „Ein bauhistorisches Gutachten wurde als Grundlage der Beurteilung der Denkmalwürdigkeit durch die Stadtverwaltung beauftragt. Im Ergebnis kommt das Landesamt für Denkmalpflege Sachsen zu dem Schluss, dass die Gebäude der Volkspolizei und der Staatssicherheit aus den 1980er-Jahren nicht in die Denkmalliste eingetragen werden.“

Klare Worte zu diesen Bausünden fand am 20. April die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Krefft, die vom „brutalen Neubau der Stasi-Zentale“ sprach.

Der aber versperrt genau das, was der städtebauliche Wettbewerb eigentlich schaffen soll im „geschichtsträchtigen Herzen der Stadt“, wie Thomas Dienberg sagte. Der Matthäikirchhof soll wieder „transparent, durchwegbar, für viele erlebbar“ werden, wie CDU-Stadträtin Sabine Heymann sagte. Mit dem Zusatz: „Der totale Erhalt ist damit obsolet.“

Während Linke-Stadträtin Franziska Riekewalds argumentierte in der Hoffnung, „möglichst viel zu erhalten“.

Vom einstigen Kirchhof ist gar nichts zu sehen

Es stimmt schon: Die Ratsversammlung sieht aus völlig verschiedenen Positionen auf die Chancen und Möglichkeiten, die sich am Matthäikirchhof bieten, welcher derzeit als eben dieser gar nicht erlebbar ist. Die historischen Strukturen mit der Neukirche bzw. Matthäikirche als Dominante wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die Bauten aus den 1980er Jahren sind so wuchtig, dass sich niemand hier wirklich eine offene Platzsituation vorstellen kann, wo auch „mindestens 30 Prozent Wohnen“ Platz finden, wie die Linksfraktion beantragt hat.

Und auch die Vorlage selbst drückt sich – anders als Thomas Dienberg – sehr gewunden aus, was den Umgang mit der alten Bausubstanz betrifft: „Ein konkreter Plan, wie mit dem Gebäudekomplex umgegangen werden soll, kann erst nach dem städtebaulichen Wettbewerbsverfahren erarbeitet werden, das im Ergebnis auch klären wird, welche Teile der Bestandsgebäude erhalten werden sollen und welche nicht.

Ein Ergebnis der Öffentlichkeitsbeteiligung ist, dass der Gebäudekomplex in Teilen abgerissen sowie in Teilen erhalten und wieder in Nutzung gebracht werden soll. Dies wird in der Auslobung des Wettbewerbsverfahrens entsprechend aufgenommen.“

Das klingt wie ein Stoppschild für alle Wettbewerbsteilnehmer, ja nicht den Komplettabriss der alten Betonklötze in Erwägung zu ziehen. Eigentlich kann man sich da wirklich nur mutige Wettbewerbsteilnehmer aus ganz Europa wünschen, denen die seltsame Liebe einiger Leipziger zu Betonbauten aus den 1980er Jahren fremd ist, und die den einstigen Kirchhof wirklich wieder öffnen und als erlebbaren Stadtraum gestalten.

Und eine Jury, die den Mut hat, solche Entwürfe auch zu würdigen.

Mehr Mitsprache für die Ratsfraktionen

Vier Fraktionen (Grüne, Linke, SPD und Freibeuter) hatten in einem Änderungsantrag beantragt: „Der Oberbürgermeister wird beauftragt, das städtebauliche Wettbewerbsverfahren als internationalen Wettbewerb im Jahr 2023 durchzuführen. In das Preisgericht entsenden die Ratsfraktionen jeweils eine Person als Sachpreisrichter/-in. Größe und Zusammensetzung des Preisgerichts werden entsprechend angepasst.“

Womit die Ratsversammlung mehr Mitspracherecht bekommt. Das übernahm OBM Burkhard Jung tatsächlich mit in die Beschlussvorlage. Abgelehnt wurde ein AfD-Antrag, die Anlage 4 zum Beschluss zu streichen, in der sich die Argumente für den Erhalt der 1980er-Jahre-Bausubstanz türmen.

Abgelehnt wurde aber auch ein Änderungsantrag der Grünen, der genau die Intention auffnahm, die Baubürgermeister Thomas Dienberg zuvor erläutert hatte: „In der Begründung wird unter dem Kapitel ‚Erarbeitete Grundlagen der städtebaulichen Entwicklung‘ der letzte Absatz wie folgt ergänzt:

Ein konkreter Plan, wie mit dem Gebäudekomplex umgegangen werden soll, kann erst nach dem städtebaulichen Wettbewerbsverfahren erarbeitet werden, das im Ergebnis auch klären wird, ob und welche Teile der Bestandsgebäude erhalten werden sollen und welche nicht. Ein Ergebnis der Öffentlichkeitsbeteiligung ist, dass der Gebäudekomplex in Teilen abgerissen sowie in Teilen erhalten und wieder in Nutzung gebracht werden soll.

Dies wird informatorisch in der Auslobung des Wettbewerbsverfahrens entsprechend aufgenommen. In der Auslobung soll den Teilnehmern aber der Umgang mit dem Gebäudebestand aus den 80er-Jahren ausdrücklich freigestellt sein.“

Zustimmung fand dann zumindest ein weiterer Punkt aus einem ersten Änderungsantrag der Grünen: „Der Oberbürgermeister wird beauftragt, die Konzeptskizze zum ‚Forum für Freiheit und Bürgerrechte/Demokratiecampus‘ (Arbeitstitel) mit dem Stadtrat weiterzuentwickeln und abschließend dem Stadtrat mit folgenden Inhalten zur Entscheidung vorzulegen …“

Die Gesamtvorlage bekam dann 39 Ja-Stimmen und neun Gegenstimmen.

Korrektur: In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass nur die Grünen-Fraktion den Antrag geschrieben hätte,  dass “Ratsfraktionen jeweils eine Person als Sachpreisrichter/in” in das Preisgericht entsenden sollten. Richtig ist, dass es die Fraktionen von Grünen, Linken, SPD und Freibeutern gemeinsam waren.

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