CDU-Stadtrat Michael Weickert beantragte, eine Stadtratsmehrheit von 33:24 stimmte zu. Also diskutierte die Leipziger Ratsversammlung am 17. Mai nicht nur eine halbe Stunde über die Rede von Oberbürgermeister Burkhard Jung zur Leipziger Mobilitätsstrategie, sondern eine ganze. Die einen ganz sachlich und ruhig, die anderen schon im Wahlkampfmodus und völlig am Thema vorbei.

Auch unsereins denkt ja: klar. Wenn die CDU-Fraktion schon über das Nachhaltigkeitsszenario diskutieren möchte, dann bringt sie bei so einer Gelegenheit auch mal Vorschläge, wie es denn aus ihrer Sicht umgesetzt werden kann und ob es anders vielleicht noch besser ginge, als es das Leipziger Verkehrsdezernat seit knapp zwei Jahren versucht.

Aber das Fazit nach einer Stunde Diskussion, in der insbesondere die CDU-Stadträte Frank Tornau und Michael Weickert deutlich machten, dass sie sich (künftig) nicht mehr an das 2018 vom ganzen Stadtrat beschlossene Nachhaltigkeitsszenario gebunden fühlen würden und künftig gegen alle Projekte stimmen wollten, die dazu gehören, bleibt der Zuschauer sitzen mit dem Gefühl: Was war das jetzt? Einfach ein geballtes „Nein!“, weil die Fraktion glaubt, dass nicht genug für den Motorisierten Individualverkehr (MIV) getan würde, der sogar Einbußen erlebe?

Was kümmern uns Kompromisse?

Obwohl ja genau dies das Ziel des Nachhaltigkeitsszenarios ist, zu dem Linke-Stadträtin Franziska Riekewald richtigerweise betonte, dass es ein Kompromissszenario war, bei dem man den konservativen Fraktionen sehr weit entgegengekommen war. Sie selbst hätte lieber das Gemeinschaftsszenario gehabt, also mehr Konzentration auf den ÖPNV. Oder das Radfahrerszenario, das an diesem Tag noch ein paar Watschen bekam, weil Radfahrer jetzt – aus Autofahrersicht – endlich mehr Platz auf Leipzigs Straßen bekommen. Aber auch das steht so im Nachhaltigkeitsszenario.

Man kann den Modal Split für den Umweltverbund (ÖPNV, Radverkehr, Fußverkehr) nicht von 60 auf 70 Prozent erhöhen, wenn man dem Autoverkehr nicht Fahrspuren eingrenzt.

Und da war der kleine Ausflug des SPD-Fraktionsvorsitzenden Christopher Zenker nach Manhattan durchaus lehrreich, der sich beim New-York-Besuch durchaus fragte, ob die Bewohner von Big Apple genauso provinzielle Debatten geführt haben, bevor sie grüne Radfahrstreifen auf die Straße brachten.

Am Ende brachte es Thomas Kumbernuß (Die PARTEI) im Grunde auf den Punkt, indem er insbesondere der CDU-Fraktion vorhielt, dass sie die Debatte schlichtweg für den vorgezogenen Wahlkampf genutzt hat. Möglicherweise nach dem Wahlerfolg von Berlin der Meinung, sie könnte den Stadtratswahlkampf 2024 nun mit einer Absage an das Leipziger Nachhaltigkeitsszenario gewinnen.

Verspätung bei wichtigen Konzepten

Und das ausgerechnet jetzt, wo zum ersten Mal für alle Leipziger sichtbar wird, wie ein Verkehrsbürgermeister daran geht, es tatsächlich mit den ihm gegebenen Möglichkeiten umzusetzen.

Da staunte man tatsächlich, mit welcher Vehemenz FDP-Stadtrat Sven Morlok auf OBM Jung und Bürgermeister Dienberg eindrosch, weil eine ganze Latte von Konzepten, welche die Stadt im Zusammenhang mit dem Nachhaltigkeitsszenario längst vorlegen wollte, immer noch nicht vorliegen und erst für 2023 versprochen sind: das Fußverkehrskonzept, das Radverkehrskonzept, das Konzept zum ruhenden Verkehr …

Aber Grünen-Stadtrat Tobias Peter merkte berechtigterweise an, dass man es da wohl mit einem ganz typischen Leipziger Problem zu tun hat: dem fehlenden Fachpersonal. Erst in den letzten zwei Jahren wurde überhaupt an den deutlichen Aufbau des Planungspersonals im VTA gegangen. Und Dienberg hat schon mehrmals betont, dass man es schlicht nicht schaffe, die Stellen auch zeitnah zu besetzen, weil die qualifizierten Bewerber fehlen.

Ergebnis: Leipzig ist bei der Umsetzung des Nachhaltigkeitsszenarios massiv im Verzug.

Und das hat auch finanzielle Gründe, wie Linke-Stadtrat Steffen Wehmann am Ende noch vorrechnete, immerhin Vorsitzender des Finanzausschusses. Denn im Nachhaltigkeitsszenario hatte die Verwaltung 2018 jährliche Investitionen von 56 Millionen Euro veranschlagt – für alle Verkehrsarten gemeinsam.

Wie lächerlich gering diese Summe ist, hatte seine Fraktionskollegin Franziska Riekewald schon gesagt, denn allein zum Substanzerhalt bei Leipzigs Straßen und Brücken müsste die Stadt jährlich 51 Millionen Euro investieren.

Dem Nachhaltigkeitsszenario fehlt das Geld

Wehmanns Zahlen waren natürlich die Berechnung nach 2018er-Preisen. Nach 2023er-Preisen müsste die Stadt – so Wehmann – 72 Millionen Euro für Verkehrsprojekte ausgeben. Aber sie schafft es nicht einmal, die veranschlagten Gelder zu verbauen. Tatsächlich in den letzten Haushalten beschlossen wurden nur 35 Millionen Euro im Schnitt pro Jahr. Und auch die wurden nicht verbaut, weil Projekte immer wieder storniert oder verschoben werden mussten. Ergebnis: Nur 23 Millionen Euro wurden jährlich in Straßenprojekten verbaut.

Das aber bedeutet, so Wehmann – tatsächlichen Substanzverzehr. Da ist nirgendwo zusätzliches Geld für das Nachhaltigkeitsszenario. Das heißt: Die Ratsversammlung, so wie sie da am 17. Mai schimpfte und wetterte, ist mitverantwortlich dafür, dass Leipzig seit fünf Jahren praktisch überhaupt kein Geld für das Nachhaltigkeitsszenario ausgegeben hat.

Aber für kein Geld bekommt man einen Umbau des Verkehrssystems nun einmal nicht. Schon gar keine neuen, zusätzlichen Straßenbahnverbindungen, wie Franziska Riekewald monierte. Bestenfalls ein paar verbesserte Ampelschaltungen und ein paar Radstreifen, wo sie dringend gebraucht werden, ein Komplettumbau aber nicht bezahlbar ist – wie vorm Hauptbahnhof.

Riekewald sprach das wenigstens an, dass hier eigentlich über die Verbreiterung der Haltestelle der LVB hätte diskutiert werden sollen. Auch dafür hätte eine Fahrspur geopfert werden müssen.

Die CDU-Fraktion verweigert die Mitarbeit

Was Autofahrer eben nicht zu Opfern macht. Und Behauptungen, dass die einzelnen Redner ganz genau wüssten, wie die Mehrheit der Leipziger denkt, kann man sowieso in Zweifel ziehen. Auch Stadträte vergessen nur zu gern, dass sie meisten nur mit ihrer eigenen Klientel zu tun haben und mit andersdenkenden Teilen der Stadtbevölkerung so gut wie gar nicht.

Was bleibt als Fazit?

Eigentlich die Tatsache, dass Leipzigs Nachhaltigkeitsszenario nicht ansatzweise so finanziell untersetzt ist, wie es 2018 beschlossen wurde. Dass drei Fraktionen trotzdem hinter dem Szenario stehen, weil erst das wirklich die Möglichkeiten schafft, dass mehr Menschen ohne Angst auf den Umweltverbund umsteigen können. Vielleicht sogar vier Fraktionen. Denn aus Morloks Vorwürfen kann man auch heraushören: Es passiert zu wenig, zu langsam, zu spät.

Und dass die CDU-Fraktion mit der Verkehrspolitik jetzt schon Wahlkampf macht und selbst den persönlichen Respekt gegenüber Bürgermeistern, Verwaltungsmitarbeitern und anderen Stadträten vermissen lässt. Da waren die mahnenden Worte von Thomas Kumbernuß zutreffend.

Was dann eben auch heißt, dass die CDU-Fraktion (zusammen mit den Alles-ist-schlecht-Rednern von der AfD) endgültig als Partner in der Leipziger Verkehrspolitik ausfällt, weil ihre Stadträte überzeugt davon sind, dass sie damit den Wahlkampf 2024 gewinnen können.

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Es gibt 3 Kommentare

Immer wieder liest man, dass in den Fachämtern – bundesweit übrigens – das Personal fehlt, um die längst überfälligen Massnahmen zu planen und baulich zu begleiten.

Was aber hält die Ämter davon ab, die vorhandenen Wege so zu warten und in Schuss zu halten, wie es die einschlägigen Bauvorschriften verlangen?

Fehlen da auch die Experten, die erstmal 3 Jahre über irgendwelche Stolperstrecken fachsimpeln, bevor die Asphaltfräse anrücken kann und eine neue, ebene Deckschicht aufgebracht wird?

Als Radfahrer, der regelmässig nach Böhlen und Rötha muss, kann ich nur sagen:
auch ohne Personalaufstockung in den Ämtern könnte man unglaublich viel erreichen, wenn man die vorhandene Infrastruktur einfach mal auf Vordermann bringen würde.

Ist aber schlicht nicht gewollt…

@fra

??
Also konsequent sein — und die halbe Stadt abreissen, um Platz für die Babies zu schaffen?
Räder müssen rollen für den Sieg…

Irgendwie schon komisch. Erst die Ansiedlung der Autoindustrie fördern und dann deren Produkt aus der Stadt verbannen wollen.

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