Man durfte schon mehrmals erschrecken in den vergangenen Wochen. Mal wurde bekannt, dass die NATO jetzt eine Partnerschaft mit Indien anstrebt. Dann wurde ein Strategiepapier bekannt, das die Verlegung deutscher Kriegsschiffe vor die Küste Chinas vorsieht. Und der NATO-Generalsekretär reist von einem Leitmedium zu anderen, um die Öffentlichkeit darauf einzuschwören, dass China jetzt der große Feind ist. China?

Die Welt hat sich verändert in den vergangenen 30 Jahren. Nicht nur, weil der Kalte Krieg endete und die Konfrontation der beiden Blöcke. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief das „Ende der Geschichte“ und den Siegeszug der liberalen Demokratie aus. Doch nichts ist weniger eingetreten. Dass er sich geirrt hatte, gab Fukuyama schon zehn Jahre später zu. Jeder darf sich irren und Thesen korrigieren. Weltgeschichte wird von Menschen gemacht, vor allem von Machtmenschen, Leute, die die große Bühne vor allem dazu nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen.Die einzigartige Chance, die sich 1990 für die letzte verbliebene Supermacht USA bot, ihre im Kalten Krieg aufgehäuften Waffenarsenale abzubauen und die Rendite des Friedens einzufahren, hat das Land nicht genutzt. 30 Jahre später gibt das Land so viel Geld für die Rüstung aus wie noch nie. Und nicht erst seit Trump drängt es seine europäischen Verbündeten, die Wehretats massiv anzuheben.

Stefan Baron ist Politikwissenschaftler und einer der profiliertesten China-Kenner in Deutschland. Natürlich kommt er auf China zu sprechen in diesem Buch, das eine Mahnung ist, ein regelrechter Aufruf an Politiker, Strippenzieher und Meinungsmacher in Deutschland und Europa, endlich wieder nüchtern zu werden und zu begreifen, dass Europa seinen eigenen Weg finden muss im neuen Kräftegleichgewicht in der Welt.

Denn das hat sich verändert. Und dazu genügt nicht nur der Blick nach China. Dazu muss man auch – und Baron tut es ausführlich – die Entwicklungen in den USA genauer betrachten – und zwar nicht nur das, was deutsche Leitmedien darüber berichten. Auch dieses Kapitel findet man im Buch, in dem Baron sehr deutlich kritisiert, wie schlecht, lückenhaft und durch amerikanische Interessen gefärbt deutsche Medien über die USA, China und Russland berichten.

Als hätten sie gar keine eigene Expertise mehr. Was meist auch stimmt. Die Medienkrise hat auch dazu geführt, dass die meisten großen Medien überhaupt keine kompetenten Reporter und Korrespondenten mehr vor Ort haben. Im Fall China ist das besonders prekär. Wer aber nicht mehr vor Ort ist und wenigstens versucht, sich ein objektives Bild zu machen, der verfällt in Stereotype – oder der benutzt das Material aus interessengeleiteten Thinktanks und einseitig berichtenden us-amerikanischen Agenturen, die nichts anderes im Sinn haben, als eben das: amerikanische Interessen in die Köpfe der Menschen zu hämmern.

Die Rolle der Supermacht

Denn wenn man China verteufelt und zur Kriegsgefahr aufbläst, kann man Interessen lenken, Ängste schüren, die eigene Dominanz sichern. Denn um nichts anderes geht es den USA. Welcher Präsident da nun gerade regiert, ist ziemlich gleichgültig. Egal, ob ein ruppiger Präsident wie Trump regiert oder ein smarter Joe Biden – wenn es um die Rolle der USA in der Weltpolitik geht, denken Demokraten wie Republikaner gleich. Da geht es um die Rolle der Supermacht, die die USA nun seit 100 Jahren sind, um die Fähigkeit, überall auf der Welt jederzeit militärisch eingreifen zu können, um Zugriff auf Ressourcen und Märkte zu haben. Und vor allem darum, die wirtschaftliche Konkurrenz kleinzuhalten.

Normalerweise schafft das ein reiches Land allein schon durch gut finanzierte Forschung und innovative Produkte. Wer die Weltspitze in der Technologie hat, ist eigentlich automatisch auch wirtschaftlich führend. Und das prägte auch das Selbstbild der USA lange Zeit. Baron kann in hunderten Zitaten aus der Politik, aus Forschungsinstituten und Thinktanks zeigen, wie die USA tatsächlich ticken, wie zwar das Sendungsbewusstsein für Demokratie und Menschenrechte immerfort beschworen wird. Aber jeder genauere Blick auf die Analysen zeigt, dass es in der us-amerikanischen Außenpolitik immer nur um eines geht: politische und wirtschaftliche Hegemonie.

Aber in der wirtschaftlichen Hegemonie ist der Wurm drin. Denn die riesigen Militäretats der USA verschlingen tatsächlich jene Gelder, die dringend gebraucht würden, um das Land zu modernisieren, Forschung und Bildung voranzutreiben, die Infrastrukturen und das Gesundheitssystem in Ordnung zu bringen. Dass ausgerechnet die westlichen Länder, die eben noch glaubten, die Schlacht gegen das Böse gewonnen zu haben, in der Coronakrise derart blamabel agierten, hat genau damit zu tun. Der Umgang mit der Pandemie hat alle Versäumnisse offengelegt.

Und das lag nicht nur daran, dass Chinas Regierung handeln konnte mit autoritären Mitteln. Denn ähnlich reagierten auch die demokratischen Regierungen in Taiwan und Südkorea – mit ähnlichen Erfolgen. Es lag auch daran, dass China praktisch das einzige Land in der Welt war, das binnen kurzer Zeit weltweit Milliarden Schutzmasken und andere Schutzausrüstungen liefern konnte. Denn China hat sich – seit der vorsichtigen Öffnung unter Deng Xiaoping – zur Werkstatt der Welt entwickelt.

Statt sang- und klanglos unterzugehen wie die Sowjetunion, hat China einen anderen Weg gewählt, hat am Ein-Parteien-System festgehalten, sich dafür wirtschaftlich geöffnet. Aber eben auf eine Weise, wie es den USA heute überhaupt nicht behagt. Denn statt zu einer riesigen Freihandelszone zu werden, hat sich die KP China alle Mühe gegeben, den Prozess unter Kontrolle zu halten und die eigene Wirtschaft zu protegieren und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu machen.

Der Riesenvorteil Chinas dabei ist: Mit 1,4 Milliarden Einwohnern ist es selbst der größte Markt auf der Erde. Was 2020 für viele Staaten geradezu ein Rettungsanker war. Denn China schaffte selbst im Corona-Jahr ein leichtes Wachstum, während sämtliche westlichen Industrienationen heftige Rückgänge beim Bruttoinlandsprodukt verzeichnen mussten.

Das hat mit den rigiden (und erfolgreichen) Eindämmungsmaßnahmen der Epidemie in China genauso zu tun wie mit der Tatsache, dass China weiterhin dringend benötigte Güter lieferte und gleichzeitig auch weiter kaufte – auch Autos und Maschinen aus Deutschland. Das Jahr 2020 hat eine Entwicklung forciert, die vorher schon im Gang war. Auch für „Exportweltmeister“ Deutschland wird China immer mehr zum Handelspartner Nr. 1. Eine Position, die lange Zeit die USA innehatten. Aber warum haben sie diese verloren?

Warum sinkt der Anteil der USA am Welthandel seit Jahren?

Auch das analysiert Baron sehr aufmerksam. Er beleuchtet die Rolle des Dollar als Leitwährung, die für die USA über Jahrzehnte die einmalige Gelegenheit mit sich brachte, sich über beide Ohren verschulden zu können und quasi auf Pump zu leben. Das riesige Handelsdefizit, das Donald Trump so oft beklagte, resultierte ja nicht daraus, dass die Chinesen den amerikanischen Markt mit Dumping-Produkten fluteten.

Im Gegenteil – ein Löwenanteil daran sind Produkte, die für amerikanische Firmen hergestellt werden. Und es sind viele Importe, die sich die USA leisteten, obwohl sie selbst nicht genug exportierten. Sie lebten – und leben – über ihre Verhältnisse. Und dieser Vorteil, den der Dollar als Leitwährung schuf, löst sich gerade auf.

Er zerbröselt. Aber nicht, weil die Länder der Welt einfach so auf den Dollar verzichten wollten. Das haben die USA selbst fertiggebracht, die ihre Währung in den vergangenen Jahren immer stärker als Druck- und Erpressungsmittel eingesetzt haben. Denn wer die Leitwährung hat, kann die Finanzströme kontrollieren, kann Unternehmen und Ländern die Arbeitsgrundlage entziehen und ihre Geschäfte – auch mit Dritten – torpedieren.

Dazu kamen dann noch die immer rücksichtsloser eingesetzten Sanktionen gegen alle möglichen missliebigen Länder und Regierungen, allen voran Russland, China und Iran. Mittlerweile stehen aber sogar die EU und Deutschland massiv unter Beschuss. Und wenn man den deutschen Leitmedien glauben dürfte, geht es dem großen Weltpolizisten immer nur darum, den Handel mit Diktaturen und Bösewichtern zu unterbinden.

Aber wenn man sich mit Baron akribisch durch die Motive der amerikanischen Politik ackert, merkt man bald, dass das mit Menschenrechten und Demokratie alles nichts zu tun hat. Ganz zu schweigen davon, dass die USA selbst bei diesen Themen überhaupt kein Vorbild sind. Man vergisst es nur immer wieder, mit welchen falschen Argumenten sie in die Kriege in Irak und Afghanistan marschiert sind, wie sie illegale Drohnenkriege führen, Guantanamo unterhalten, People of Color diskriminieren und sich nicht einmal schämen, wenn ihre Geheimdienste weltweit die Datenströme abgreifen. Und das alles vor allem aus einem Grund: mögliche wirtschaftliche Konkurrenz kleinzuhalten. Egal, mit welchen Mitteln.

Dass sie dabei die Welt in ein Pulverfass verwandeln, wird immer deutlicher, wenn Baron schildert, wie sie nicht nur versuchen, Russland wirtschaftlich zu isolieren und mit der Ausweitung der NATO regelrecht einkreisen. Denn dasselbe versuchen sie auch mit China. Nein, es sind keine chinesischen Kriegsschiffe, die vor den Küsten der USA patrouillieren, es sind amerikanische Kriegsschiffe, die vor Chinas Küsten patrouillieren.

Man muss China nicht mögen, um genau vor dem Angst zu haben, was diese Provokationen zur Folge haben können. Und Baron kann einige Stimmen aus dem politischen Establishment zitieren, die schlankweg nicht nur einen neuen Kalten Krieg für sinnvoll halten, sondern auch das Umschlagen in einen heißen Krieg für machbar.

Ein erstes Ergebnis dieser fatalen Strategie ist mittlerweile, dass Russland und China eine enge Partnerschaft eingegangen sind, wie sie in Zeiten der alten Sowjetunion undenkbar war.

Wobei: Es geht gar nicht darum, China zu mögen. Baron mahnt nicht umsonst eine Tugend an, die die meisten deutschen Leitmedien inzwischen vergessen zu haben scheinen. Man macht sich nicht mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer amerikanischen. Das Buch hilft durchaus dabei zu verstehen, warum die USA völlig andere Interessen haben als Europa. Und dass Europa vor einer Wahl steht – und diese Wahl bis heute verweigert.

Noch verhallen die mahnenden Worte von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, dass Europa sich aus dem Schlepptau der Amerikaner lösen muss, die Europa schon lange nicht mehr als ebenbürtigen Partner betrachten. Im Gegenteil: Trumps Angriffe gegen die EU und die verbale Unterstützung des Brexit kamen nicht von ungefähr. In Washington weiß man genauso gut wie in Moskau, dass eine starke und selbstbewusste EU sehr wohl eine Rolle in der Weltpolitik spielen könnte, die den Machtinteressen dieser beiden Großmächte ins Gehege käme.

Denn anders als die USA ist Europa direkt betroffen, wenn Bürgerkriege den Nahen Osten ins Chaos stürzen und Regime-Change-Aktionen der USA (die davon einfach nicht ablassen wollen) immer wieder grandios in die Hose gehen. Die Flüchtlinge aus Afrika und Nahost machen sich Richtung Europa auf den Weg. Und natürlich erzählt auch die europäische „Flüchtlingskrise“ davon, dass Europas Spitzenpolitiker bislang weder Rückgrat noch Selbstbewusstsein gefunden haben, eine wirklich eigenständige europäische Außenpolitik zu definieren.

Man hängt immer noch am Schlepptau der Amerikaner und die Zahl der deutschen Spitzenpolitiker, die allein in der Schutzmacht USA das Heil sehen, ist erschreckend groß, wie Baron feststellen kann. Von der politisch erwachsenen Haltung der SPD zur Zeit Willy Brandts und seiner Ostpolitik sind sie allesamt meilenweit entfernt.

Denn Willy Brandt hatte es begriffen, dass man die Ungleichgewichte in der Welt nicht durch Kriege beseitigt. Im Gegenteil: Kriege sind der schnellste Weg, den Wohlstand und die Dominanz der kriegführenden Parteien für immer zu beenden. Nur dass diesmal auf allen Seiten lauter Atommächte beteiligt wären. Die Kriegsgefahr ist so groß wie lange nicht.

Aber sie ist nicht so groß geworden, weil China oder Russland gezündelt haben. Man findet auch entsprechend aufschlussreiche Passagen zu Russland im Buch und auch darüber, wie oft auch die Europäer Russland gegenüber Versprechen gebrochen haben und seit 2000 alle Chancen versiebt haben, Russland enger an die EU zu binden und die Kriegsgefahr friedlich und vor allem bilateral zu senken.

Verlogene Anklagen

Denn Länder, die vom gegenseitigen Warenaustausch profitieren, schießen nicht aufeinander. Aber zu den Lügen unserer Zeit gehören nun einmal auch die ganzen verlogenen Anklagen wegen nicht eingehaltener Menschenrechte. Nicht weil es diese Verstöße nicht gäbe. Man hat es nun einmal nicht mit freundlichen Autokraten zu tun, die dann schuldbewusst alles wieder in Ordnung bringen.

Das betrachten sie zu Recht als Einmischung. Und für Europäer sind diese Dudu-Belehrungen nur noch peinlich. Man macht sein eigenes Gesellschaftsmodell nicht zum Vorbild, indem man sich wie ein Oberlehrer benimmt, sondern indem man den eigenen Bürgern ein Leben in Anstand und Wohlstand ermöglicht.

Den eigenen Völkern gegenüber beweisen sich Regierungen vor allem durch eines: die Fähigkeit, die Wirtschaft in Gang zu bringen und den Wohlstand aller Bürger zu sichern. Und da bietet gerade die chinesische Regierung längst eine deutlich bessere Performance als die westlichen Demokratien. Während westliche Medien immerfort das Bild vom Unrecht- und Überwachungsstaat malen, genießen die Chinesen heute einen Wohlstand, von dem sie vor 30 Jahren nur träumen konnten. Sie stehen selbst in unabhängigen Umfragen hinter ihrer Regierung und verspüren nicht wirklich das Bedürfnis, ein derart aggressives Zwei-Parteien-System wie in den USA zu übernehmen.

Das hat viel mit Mentalität zu tun, auch mit der eigenen Geschichte, wie Baron sehr klar erläutern kann. China war schon in der Vergangenheit mal das wirtschaftlich fortschrittlichste Land der Erde. Und so erleben auch die heutigen Chinesen den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes als Rückkehr zu einstiger Größe.

Damit aber verschiebt sich der Mittelpunkt der Weltwirtschaft, der über ein halbes Jahrhundert in den USA lag, wieder nach Eurasien. Und das ist die riesige Angst der us-amerikanischen Eliten, denn damit geht das Zeitalter der amerikanischen Hegemonie zu Ende. Und sie tun alles dafür, das zu stoppen und China zu beschränken und einzuhegen, wo sie nur können – ob mit Strafzöllen, Sanktionen oder direkter Propaganda, von der auch unsere Zeitungen voll sind. Baron kann sehr genau zeigen, wie armselig das ist, was wir über China wissen. Und was wir wissen, ist fast alles durch die amerikanische Brille gefiltert. Obwohl der simpelste Blick auf die deutsche Exportstatistik zeigt, dass es ohne China schon lange nicht mehr geht.

Die von den USA so massiv forcierte Globalisierung hat China eben nicht nur eingebunden in die weltweiten Warenströme und anfangs zur billigen verlängerten Werkbank amerikanischer Konzerne gemacht. Es hat China tatsächlich wieder zum Teil der Weltwirtschaft gemacht. Und allein die schiere Größe des Landes sorgt dafür, dass man es weder abschotten noch abschneiden kann.

Neue Seidenstraße

Der Zug rollt. Und die Chinesen merken sehr wohl, wie systematisch die USA trotzdem versuchen, das Riesenland von Rohstoffen und Märkten abzuschneiden. Bis hin zur möglichen Seeblockade im südchinesischen Meer. So ganz ohne Grund ist die Idee zur Neuen Seidenstraße nicht entstanden, an der sich heute schon Dutzende Länder beteiligen.

Auch einige europäische. Und Europa wäre gut beraten, da mitzumachen, rät Baron. Denn egal, was die USA noch versuchen, sie können nicht verhindern, dass der riesige eurasische Kontinent wieder (wie in der Vergangenheit) zum Mittelpunkt der Weltwirtschaft wird und alle Länder, die irgendwie Zugang zur Neuen Seidenstraße bekommen können, auch mitmachen werden. Denn die Lektion haben alle gelernt: Globalisierung funktioniert nur, wenn man Teil hat an den Warenströmen und die Schiffsrouten und Eisenbahnstrecken keinen Bogen um einen machen.

Und es ist absehbar, dass die Neue Seidenstraße genauso funktionieren wird wie die historische. Denn Handel – das haben die Amerikaner augenscheinlich verlernt – funktioniert nicht als Einbahnstraße. Er funktioniert nur, wenn beide Seiten profitieren. Nur dann haben die einen genug Geld, um die Waren der anderen zu kaufen.

Das ist heute lediglich durch den Dollar als Leitwährung völlig verzerrt.

Der Appell Barons an die Politiker/-innen in Europa ist also sehr deutlich. Jetzt ist das historische Zeitfenster, sich endlich aus der Schutzbedürftigkeit unter der großen Glucke USA zu befreien und wieder zu lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Was eigentlich auch den Austritt aus der NATO zur Folge haben müsste, die Macron ja mit gutem Recht schon als „hirntot“ bezeichnet hat.

Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft wäre nicht nur der nötige dritte Baustein einer echten Staatengemeinschaft (nach Schengenabkommen und Euro), sondern würde auch ermöglichen, endlich die Militärbeschaffungen zu bündeln und damit so zu optimieren, dass die Militärausgaben für alle sinken könnten. Nicht steigen, wie es die Amerikaner von den Europäern verlangen, die sie nur zu gern als Schildknappen in ihre eigenen Interessen einbinden würden.

Und eine Emanzipation vom Großen Bruder USA heißt eben nicht, dann zum Satrapen Chinas zu werden. Aber genau dieses Bild verbreiten ja die Heulbojen der Amerikagetreuen, die in unseren Medien immerfort jede Menge Platz zum Heulen eingeräumt bekommen, während für realistische Außenpolitiker, die über eine wirklich eigenständige EU-Außenpolitik nachdenken wollen, kaum mal eine Spalte übrig bleibt.

Dabei wäre gerade die EU mit ihrer langen Erfahrung im Flöhehüten ein dringend benötigter Spieler auf der Weltbühne – einer, der zwischen den großen Mächten vermitteln kann. Der aber auch aufhört, den Amerikanern den Rücken freizuhalten, damit die ihre eigenen nationalen Interessen über alles stellen können. Denn ein Umdenken ist auch mit Joe Biden als Präsident nicht zu erwarten. Dazu ist das Denken als einzig auserwählte Supermacht im Washingtoner Establishment und den amerikanischen Geheimdiensten zu tief verankert.

Die USA lenken erst dann ein, wenn sie merken, dass sie für ihr Gepolter keine Rückendeckung mehr bekommen und die anderen Länder in der Welt verstärkt an dem arbeiten, was seit 1990 tatsächlich überfällig ist: einer multipolaren Welt, in der niemand mehr den dicken Polizisten spielen kann und will. Und ob Länder dann den Weg zur Demokratie nach europäischem Muster gehen, hängt direkt damit zusammen, wie erfolgreich sich dieses Modell bei der Bewältigung von Krisen erweist. Und seit 2020 wissen wir: Da ist leider der Wurm drin. Auch unsere Demokratien haben ein paar Probleme, die sich mit dem Gerede über Menschenrechte nicht lösen lassen, sondern nur durch kluge und realistische Politik.

Und unsere Medien sollten sich ändern und wieder die alten journalistischen Tugenden lernen: Den Meldungen aus den Agenturen zu misstrauen und wieder echte Kompetenz aufzubauen in der Berichterstattung aus Ländern, die uns nach wie vor fremd sind, egal wie eingeübt die Feindsichten in unseren Zeitungen sind.

Nach dem Lesen dieses Buches weiß man natürlich eine Menge mehr darüber, mit welchen Motiven die USA Außenpolitik machen – und so ganz nebenbei auch massiv versuchen, die EU kleinzuhalten. Aber während scheinbar immer mehr deutsche Spitzenpolitiker zu „Amerikanern“ werden, schwindet in der Bevölkerung das Vertrauen in die egoistische Supermacht, die immerfort versucht, Weltpolitik zu monopolisieren. „Monopole sind nicht nur in der Wirtschaft schädlich, sondern mindestens genauso in der Politik“, schreibt Baron. „Heute mehr denn je. Die großen Menschheitsprobleme Klimawandel, Massenmigration, Terrorismus und Pandemien lassen sich nur multipolar lösen.“

Das aber braucht wieder richtige Diplomaten, die gelernt haben, Respekt vor anderen zu haben und bi- und multilaterale Beziehungen auf Vertrauensbasis aufzubauen. Gerade dann, wenn irgendjemand im Hintergrund mit dem Säbel rasselt. Das Problem der USA, so Baron, ist die berühmte Thukydidesfalle, in die bislang dominierende Großmächte in dem Moment geraten, in dem ein Konkurrent auftaucht, den sie nicht mehr ignorieren können.

Was dann in der Geschichte (nicht nur im alten Griechenland) oft genug dazu geführt hat, dass sich die alte Macht und der Herausforderer in blutigen Kriegen zerfleischten und hinterher beide Macht und Wohlstand eingebüßt haben. Die USA wollen nicht zulassen, dass China zur stärksten Wirtschaftsmacht auf dem Globus wird. Während China gar nicht anders kann, wenn es den Status eine Schwellenlandes verlassen will. Warum sollten die Chinesen freiwillig arm bleiben müssen, bloß weil der Westen seine Hegemonie mit Macht verteidigen will?

Das wird es auch nicht, genauso wenig wie die anderen Schwellenländer, die jede Chance ergreifen werden, aus der Armut herauszukommen. Und für viele ist die Neue Seidenstraße das erste wirkliche Großprojekt, das diese Chance bietet.

Europa könnte alles verlieren, wenn es nicht aufhört, immer nur den Schildknappen der USA zu spielen. Ein lehrreiches Buch gerade für alle, die wenigstens mal eine Ahnung davon bekommen wollen, wie eine multipolare Welt eigentlich aussehen kann. Und sie entsteht gerade.

Stefan Baron Ami Go Home!, Econ, Berlin 2021, 25 Euro.

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