Es ist ja nicht nur so, dass deutsche Medien ihre Recherche-Power verloren haben. Sie sind auch noch vergesslich geworden. So vergesslich wie die Politik, die sie begleiten. Es wird geschimpft und skandalisiert. Dass aber die meisten Fehlentwicklungen unserer Zeit eine lange Vorgeschichte haben, wird schlichtweg ignoriert. Medien inszenieren ein immerwährendes Jetzt. Ignorieren aber die Langzeitwirkungen von Entscheidungen in der Vergangenheit meist vollkommen. Werden vergesslich wie ihre Zuschauer. Und so werden dann auch oft die 1990er Jahre verklärt. Aus westlicher Perspektive auf jeden Fall.
Und genau dorthin nimmt Georg Diez seine Leser mit. Er gehört zu den nüchternsten und abgeklärtesten Kommentatoren in der deutschen Medienwelt, arbeitete bei der „Süddeutschen“, der FAS, dem „Spiegel“ und der „Zeit“. Sein Hauptthema: demokratische Innovation.
Was natürlich ein Wissen um vergangene Weichenstellungen voraussetzt. Und die wurden oft genug von Leuten vorgenommen, die eigentlich nur an ihre Macht und die nächsten Wahlen dachten. Oder eine zerstörerische Agenda verfolgten, für deren Umsetzung sie jede Menge Zeit und Geld zur Verfügung hatten und haben. Auch deshalb sind viele Probleme in den westlichen Ländern heute so ungelöst und scheinbar unlösbar. Die Macht liegt – so sieht es aus – beim großen Geld. Und die superreichen Lobbyisten kennen keine Rücksicht, wenn es um die Durchsetzung ihrer Profitinteressen geht.
Der Neoliberalismus in den Köpfen
Ihr wirkungsvollstes Projekt – neben der Verhinderung einer wirklich sinnvollen Klimapolitik – ist die Implementierung des Neoliberalismus in den westlichen Gesellschaften. Denn wenn Politiker und Wähler glauben, dass die Deregulierung von Märkten und die „Liberalisierung“ des Bankensektors tatsächlich etwas mit Freiheit zu tun haben, dann kann man ihnen auch die schlimmsten Folgen dieser Denkweise als Freiheit verkaufen.
Selbst wenn sie – wie in der Finanzkrise von 2007 bis 2009 – Hab und Gut verloren und die Staaten, statt die zockenden Banken vom Markt zu nehmen, diese Spiel-Banken mit Milliarden retteten, die letztlich vom Steuerzahler berappt werden müssen.
Aber mit der Etablierung des Neoliberalismus auch im politischen Denken trat noch eine verheerende Veränderung ein, schreibt Diez: eine „Politik ohne Politik“, in der dann auf einmal von Sachzwängen und Alternativlosigkeiten geschwafelt wurde, wenn eine Regierung – auch in Deutschland – jede Gelegenheit, wichtige Entscheidungen zu treffen, ausließ und nur noch „verwaltete“. Was übrigens nicht erst mit Angela Merkel begann, aber unter ihren vier Regierungen regelrecht zelebriert wurde. Und all die Probleme erst richtig auflaufen ließ, die heute ungelöst daliegen und die Wähler frustrieren.
Aber das Aussitzen beherrschte auch schon Helmut Kohl, dessen Amtszeit als Bundeskanzler 1989 eigentlich schon auszulaufen schien. Die alte Bundesrepublik steckte genauso in der Stagnation fest wie die DDR. Die DDR geriet damit wirtschaftlich schon in den 1980er Jahren ins Straucheln – übrigens wie sämtliche Länder des Ostblocks, allen voran die Sowjetunion.
Aber dieser Zusammenbruch der Planwirtschaft im Osten verstellt den Blick auf die Stagnation in der alten Bundesrepublik. Und das hatte Folgen für „Das neue Deutschland“, dem Diez ein ganzes Kapitel widmet, in dem er die Fehler der deutschen Einheit sehr genau unter die Lupe nimmt. Und dazu gehört nicht nur das über Nacht über den Osten gestülpte rabiate Modell eines gnadenlosen Neoliberalismus, mit dem die komplette DDR-Wirtschaft privatisiert und abgewickelt wurde.
Der fehlende Grundstein
Dazu gehört auch der Grundfehler der deutschen Einheit: dass sie nur am Verhandlungstisch ausbaldowert wurde, wo sie in einen simplen Beitritt zur alten Bundesrepublik mündete. Es wurde kein einziger Schritt unternommen, das neue, vereinigte Deutschland tatsächlich zu einem gemeinsamen Projekt aller Deutschen zu machen. Exemplarisch zu sehen an der drei Mal behinderten Arbeit an einer neuen Verfassung, an deren Ausformung sich alle Deutschen hätten beteiligen können.
Das wäre tatsächlich die Begründung eines gemeinsamen Deutschland gewesen. (So wie eine echte Verfassung für die EU, auf die Diez ebenfalls zu sprechen kommt.) Aber stattdessen suggerierte Bundeskanzler Helmut Kohl dem Westen, dass dort alle so bleiben werde wie bisher, und dem Osten wurde das komplette westliche System übergeholfen. Mitsamt einem Berg an teils veralteten, überflüssigen und reformbedürftigen Gesetzen.
Auch das hätte an 1990 passieren können und müssen, stellt Diez fest: ein umfassendes Ausmisten des alten Gesetzesdschungels und damit auch eine Modernisierung der deutschen Gesetze.
Es ist nicht passiert. Und das nur, weil damals – nicht immer berechtigt – mit enormem Zeitdruck gewerkelt wurde. Das traf zwar auf die Klärung der deutschen Einheit mit den einstigen Besatzungsmächten zu, was dann im Zwei-plus-Vier-Vertrag seinen Ausdruck fand.
Aber es traf weder auf die Formulierung einer neuen, gemeinsamen Verfassung zu noch auf eine Modernisierung der Gesetze. Dafür hätte man sich Zeit nehmen können. Und auch der wilde Privatisierungs-Galopp der Treuhand hätte so nicht stattfinden müssen, stellt Diez fest. Und macht hier gleich mehrere Punkte fest, an denen weitreichende Entscheidungen getroffen wurden, die bis heute fortwirken.
Einmal ausführlicher bei Diez: „Die deutsche Einheit ist ein Ereignis, das den Blick auf Alternativen verstellt. Die Wirklichkeit war weiter, in Deutschland und auch in anderen Industrienationen, die Erkenntnis, dass grundlegende Veränderungen notwendig sind, vor allem auf dem Gebiet von Ökologie und Ökonomie. Die Einheit verhinderte und verzögerte diese Veränderungen, die sich im Ziehharmonika-Modus vollzogen – nach langen Phasen der Status-Quo-Stagnation wurden mehr oder weniger disruptive Reformen drängend. In Deutschland hielt die Einheit ein konservatives Projekt an der Macht, dem die Ideen ausgegangen waren, ein Mangel, den man konservativen Parteien bis heute anmerkt.“
Verpasste Chancen
Die deutsche Einheit war die einmalige Chance, das Land grundsätzlich zu modernisieren. Aber Kohl hielt lieber am alten Stiefel fest. Und Politik wie Medien legten den Fokus auf ein völlig falsches Thema: auf die Asylgesetzgebung, nachdem rechtsextreme Kräfte schon vor 1990 begonnen hatten, gewalttätige Ausschreitungen gegen Migranten und Asylbewerberheime zu organisieren. Und statt gegenzuhalten, duckte sich die regierende Union nicht nur weg, sondern machte – mit Genersalsekretär Volker Rühe – „Asylmissbrauch“ auch noch zum dominierenden Wahlkampfthema.
So lange geht das schon. Statt sich wirklich mit dem latenten Rassismus in der deutschen Gesellschaft auseinander zu setzen, schürte man die Stimmung gegen Asylsuchende, ignorierte einfach, dass die Bundesrepublik schon seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland war, und verschärfte dann gleich mal die Regelung im Grundgesetz, schränkte das Asylrecht radikal ein. Seitdem hat die Bastelei an der Asylgesetzgebung nicht aufgehört.
Und so geht das munter weiter. Man fand keinen neuen Umgang mit Moskau und der möglichen Integration Russlands in die europäische Friedensordnung. Stattdessen befeuerte man dort den neoliberalen Umbau der zuvor staatlich gelenkten Wirtschaft. Ergebnis: Korruption und Oligarchie. Und eine Wirtschaftskrise, die den Russen die Freude an der Demokratie gründlich verhagelte. Und Russland war damals nicht das einzige Land, das eine neoliberale Schock-Therapie verpasst bekam.
Und Diez hat die Entwicklungen sehr aufmerksam verfolgt. Denn natürlich war es nie notwendig, Wirtschaftspolitik so zu betreiben, wie es dann in den 1990er Jahren üblich wurde. Aber die Gegner eines sozialen Miteinanders saßen immer am langen Hebel, waren finanziell bestens ausgestattet und starteten regelrechte Kampagnen, um alle Versuche einer gerechten und fairen Wirtschaftspolitik zu unterminieren.
Mit dem Ergebnis, dass gerade die sozialdemokratischen Regierungsprojekte der 1990er Jahre in Frankreich, Großbritannien und Deutschland unterm Druck dieser „Marktkräfte“ klein beigaben und zum Umsetzer neoliberaler Politikvorstellungen in ihren Ländern wurden. Sie taten das, so Diez, was sich konservative Regierungen nie getraut hätten.
Wenn Wähler die Seiten wechseln
Auch das mit Folgen bis heute – bis hin zur Marginalisierung sozialdemokratischer Parteien wie in Frankreich und Deutschland. Denn mit dieser Politik für „den Markt“ ließen sie ihre angestammte Wählerschaft regelrecht im Stich. Eine Wählerschaft, die seitdem regelrecht die Seiten gewechselt hat und heute die Rechtspopulisten wählt. Sowas kommt von sowas. Und im Grunde ist das Buch von Diez ein einziger Appell an die heutigen Politiker, sich wieder zu erinnern und endlich zu begreifen, dass die Probleme von heute allesamt ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, Ergebnis falscher Weichenstellungen, die oft ohne einen Gedanken an die Zukunft getroffen wurden.
Und das trifft auch auf die Klimapolitik zu. Denn alles, was wir heute wissen, wussten wir auch vor 30 Jahren. Doch gerade die großen Klimakonferenzen waren – so stellt Diez fest – der Beginn einer regelrechten Verweigerung. Statt – wie in Rio 1992 – tatsächlich Entschlüsse zu fassen, die die Welt klimaneutral gemacht hätten, wurden alle Vorhaben verwässert, vertagt, abgeschliffen bis zur Unkenntlichkeit.
Das unheimliche Wirken der großen fossilen Konzerne, die auch heute noch mit Öl, Gas und Kohle Milliardengewinne einfahren, entkernte sämtliche Klimapolitik. Immer wieder kamen Präsidenten ins Amt, die die zaghaften Versuche ihrer Vorgänger kassierten, zu Beispiel die USA zum Vorreiter bei erneuerbaren Energien zu machen.
Stattdessen wurde immer stärker auch die Staatsgewalt gegen Klimaaktivisten eingesetzt, wurden Wirtschaftsgipfel in Turin oder Hamburg genutzt, um den Protest mit Polizeigewalt niederzuknüppeln und die Protestierenden zu kriminalisieren. Was sich in den Anklagen etwa gegen die „Letzte Generation“ bis heute fortsetzt. Im Grunde zeigt Diez kenntnisreich, wie jeder Versuch, die Welt mit kluger Politik zukunftsfähig zu machen, von den schwerreichen Lobbyisten der fossilen Industrien gebremst und abgewürgt wurde.
Radikalisierte Netze
Während gleichzeitig ein Phänomen in die Welt kam, das so viel Hoffnung in sich trug als neuer Ort der Freiheit: das Internet. Doch auch hier stehen die 1990er Jahre für einer Demolierung der Idee, entstanden jene großen Tech-Konzerne in den USA, die aus dem „freien“ Internet eine riesige Plattform der Bereicherung, der Manipulation und der Datenabfischerei machten.
Sie monopolisierten damit nicht nur das Internet, sondern schufen sich auch eine Marktmacht, die selbst die fossilen Konzerne nie hatten. Und damit beeinflussen sie die Politik und das Denken der Menschen auch in anderen Ländern. Diez nennt es einen „Kampf um das globale Bewusstsein“. Denn wer die Hirne der Menschen „besitzt“, weil er über die gespeicherten Datenströme fast alles über sie weiß, der kann sich direkt einmischen, nicht nur in Kaufentscheidungen, sondern auch in Wahlentscheidungen und das Bild, das sich Menschen von der Wirklichkeit machen.
Auch hier versagt die Politik bis heute, sind Politiker/-innen entweder völlig überfordert. Oder wollen die Folgen dieser gigantischen Datenabschöpfung und der damit möglichen Manipulation nicht sehen. So zeigt Diez im Grunde auch, dass Politik nicht nur das ist, was in den (noch überlebenden) Medien so lärmend hübsch aufeinander folgt. Sie ist auch das, was hinter den Kulissen passiert.
Und dass der heutige Zustand der Politik auch einer ist, der einigen schwerreichen Konzernen und Oligarchen direkt in die Schatulle spielt. Während selbst sozialdemokratische Parteien ihren Kompass völlig verloren haben, weil sie die „Klugheit des Marktes“ verinnerlicht haben und das Primat von Politik einfach nicht mehr verstehen. Und damit die Notwendigkeit von Politik, im Sinne ihrer Wähler zu handeln. Nichthandeln wird als Politik verkauft. Oder mit Diez eben „Politik ohne Politik“.
Ein bisschen Hoffnung
Und deshalb wirken unüberlegte Entscheidungen, die vor 30 Jahren getroffen wurden, bis in die Gegenwart, deformieren Politik und Wirtschaft. Dabei hat Georg Diez sogar noch Hoffnung, dass das alles vielleicht sogar noch zu reparieren wäre, obwohl wir seit 2016 (Trump und Brexit) sehen, welche fatalen Folgen diese Nicht-Politik hat: „Es kann sein, dass die Epoche, die 2016 anbrach, von einer globalen Form von autoritärem Denken und antiliberalen Regimen geprägt sein wird, die Technologie nutzen, um Menschen zu kontrollieren und Bürger- und Menschenrechte zu beschneiden.
Es kann sein, dass der Reichtum und die Macht, wie sie verteilt sind, zu groß sind, um sie demokratisch einzuhegen. Es kann sein, dass diese neue Ordnung, die der Beginn des Klima-Breakdowns sein wird, von Kaltherzigkeit und Grausamkeit geprägt sein wird. – Aber es ist nicht sicher. Es ist nicht unausweichlich.“
Denn Geschichte sei immer überraschend, stellt er fest. Und es gibt immer neue Kipppunkte, an denen völlig neue Entwicklungen ausgelöst werden. Nur kann man solche Entwicklungen – anders als bei Klima-Kipppunkten – reparieren. Man muss nur eben wieder wahrnehmen wollen, was da eigentlich falsch gelaufen ist. Und wie die Alternativen damals aussahen und heute aussehen. Denn Geschichte ist immer nur das Ergebnis von vielen möglichen Alternativen.
Und politisches Handeln wir erst dann (wieder) möglich, wenn Politiker um diese alternativen Handlungsmöglichkeiten wissen. Außer die, die dem treuherzigen Volk immer wieder erzählen, alles sei „alternativlos“. Aber genau diese Alternativlosigkeit führt in Misstrauen, Stagnation und das dumme Gefühl gerade bei den Schwächeren in der Gesellschaft, dass sie in diesem Spiel der alten Fossilien keine Rolle (mehr) spielen.
Georg Diez „Kipppunkte“ Aufbau Verlag, Berlin 2025, 26 Euro.
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