Was ist Wahrheit? Darüber zerbrachen sich schon die alten Griechen den Kopf. Es ist bis heute ein diffuser Begriff, letztlich einer, der unsere gemeinsame Gesprächsbasis definiert. Denn miteinander reden können wir nur, wenn wir ein gemeinsames Verständnis von dem haben, was wirklich ist. Und wenn wir das nicht (mehr) haben? Eine wichtige Frage, die heute brennt. Nicht ganz grundlos war Rob Wjnbergs Buch, als es 2023 in den Niederlanden erschien, sofort ein Bestseller.

Eben auch deshalb, weil er sich darin sehr ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie sich der Begriff der Wahrheit im Lauf der letzten Jahrhunderte verändert hat. Und was das mit der Auffassung der Menschen von Freiheit, Fortschritt und Individualität zu tun hat. Etwas, was wir uns heute kaum noch vergegenwärtigen, weil es für uns so selbstverständlich geworden ist.

Was es aber bis weit in die Neuzeit für die meisten Menschen gar nicht war. Lange vor Kant war Unmündigkeit gar nicht selbstverschuldet, sondern selbstverständlich. Wahrheit kam „von oben“, wurde von den Kanzeln verkündet. Der Untertan hatte sie zu akzeptieren, wie sie ihm verkündet wurde. Die sozialen Verhältnisse waren unverrückbar. Aufstieg, Freiheit und Fortschritt waren schlichtweg undenkbare Begriffe.

Moderne und entfesselter Individualismus

Das änderte sich erst mit der Rationalisierung der Welt, der Entstehung der modernen Wissenschaften und der Aufklärung. Man lernte, dass die Welt erkennbar war und die Gesetze der Natur nutzbar zu machen. Es entstand ein völlig neues Verständnis vom Menschsein, die Welt wurde als enträtselbar und veränderbar begriffen. Das hatte Folgen. Auch katastrophale.

Denn das befeuerte nicht nur die Technik, sondern auch die Ausnutzung und Übernutzung der natürlichen Ressourcen. Es ist das Zeitalter der Moderne, die der Welt auch einen ungeheuren Reichtum brachte. Was dadurch möglich wurde, dass nun Kohle, Öl und Gas in einem immer wilderen Tempo verbrannt wurden. Die fossilen Energien waren der Treibstoff einer schier unbegrenzten Dienstbarmachung der Welt.

Man merkt bei Wijnberg schnell, dass er nicht im Abstrakten bleibt wie so viele Philosophen. Er ist Journalist und Chefredakteur von „de Correspondent“, einer 2013 gegründeten Nachrichten-Website, die sich dem Alarmismus der üblichen Nachrichtenportale entzieht. Man merkt schnell: Es geht um dasselbe Anliegen.

Denn so wie Wijnberg das sich im 20. Jahrhundert noch einmal deutlich verändernde Verständnis von Wahrheit beschreibt, versteht man, wie sich das, was allgemein darunter verstanden wird, immer mehr zu einem Konsumgut wurde. Und damit beliebig, käuflich, manipulierbar.

Und es überrascht auch nicht, dass Wijnberg am Ende bei den Medien landet, den so gern gepriesenen „Hütern der Wahrheit“, die aber ganz offensichtlich heute längst dazu beitragen, die Gesellschaften des Westens zu spalten, den Lügnern und den Verbreitern von Fakenews Aufmerksamkeit zu verschaffen, damit populistische Parteien und ihre Akteure stärken und vor allem das Misstrauen in die Instanzen der Demokratie schüren und zementieren. Und das eigentlich mit ehrenwerten Motiven.

Wenn Nachrichten zu Ware werden

Sind die Medien denn nicht die „vierte Macht“? Ist es nicht ihr Job, Missstände aufzuzeigen und so als Korrektiv der demokratischen Gesellschaft zu wirken? So wie Bob Woodward und Carl Bernstein 1972 in der Watergate-Affäre? Was sicher stimmen würde, wären Medien noch so unabhängig wie damals, getragen von ihren Abonnenten und guten Werbeeinnahmen.

Ohne die Konkurrenz riesiger Nachrichtenschleudern, die die Welt mit Bullshit, Lügen und Verschwörungstheorien überschwemmen. Und so für das heillose Durcheinander in den Köpfen der Leute sorgen, gegen das selbst der beste Journalismus nichts (mehr) ausrichten kann.

Es sind Emotionsmaschinen, denen es weder um Wahrheit noch Aufklärung geht. Denn die Münze heißt Aufmerksamkeit. Die riesigen Plattformen haben „Nachrichten“ zur Ware gemacht. Und setzen damit die verbliebenen noch halbwegs professionellen Medien unter Druck, ihren „Stoff“ genauso zu präsentieren, wie es die enthemmten „Social Sedia“ tun. Denn Aufmerksamkeit und Geld generieren sie auch nur mit „Klicks“, mit der enthemmten Jagd nach immer neuen sensationellen Meldungen.

Oder mit den Worten von Rob Wijnberg: „Kombiniert man diese Eigenschaften mit einem Ertragsmodell, das darauf ausgerichtet ist, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen, möglichst viele Klicks einzuheimsen und möglichst viel Werbung zu verkaufen, muss man das Ergebnis schlicht als katastrophal bezeichnen. Denn was erhält man, wenn man Nachrichten zu einem Produkt macht, das seine Existenzberechtigung aus der Aufmerksamkeit bezieht, die es generiert?

Eine unaufhörlich heulende Sirene, die uns vom Zwischenfall zum Aufstand, zur Katastrophe, zum Wahnsinn, zur Lüge, zur Krise, zu Unglück, zur Intrige, zur Schlammschlacht, zur Beleidigung, zur Verschwörungstheorie und zum Skandal manövriert.“

Wenn Medien nur noch das Misstrauen befeuern

Das Bild, das die Nutzer vom Zustand ihrer Gesellschaft bekommen, ist das Bild einer unausweichlichen Katastrophe, permanenten Niedergangs und Zerfalls.

Dass die simplen Daten, die jedes staatliche Statistikamt liefern kann, dem völlig widersprechen, spielt keine Rolle. Denn in diesem Tohuwabohu der schlechten und immer schlimmeren Nachrichten gibt es keinen Platz für Rationalität. Denn dazu braucht man Ruhe, Besinnung, Geschichten, die sachlich und fundiert Hintergründe und Zusammenhänge erklären.

Und Wijnberg hat recht, wenn er feststellt, dass diese Abhängigkeit der Medien von der Aufmerksamkeits-Ökonomie der unregulierten Plattformen all das anfeuert, was unsere Gesellschaft derzeit angreift: Wut, Empörung, Radikalisierung und vor allem ein allumfassendes Misstrauen. Das dann die Populisten nur zu gern wieder aufgreifen und gegen die „Mainstream“-Medien richten.

„Das Problem dieser Art von zynischem Journalismus ist, dass er den Inhalt völlig in den Hintergrund drängt, während er ständig Anlass zu Wut oder Argwohn gibt“, schreibt Wijnberg. „Es ist daher nicht verwunderlich, dass Empörung heute die vorherrschende Emotion in der öffentlichen Debatte ist: Empörung ist schließlich Wut mit einer Wissenslücke.“

Eine Wissenslücke, die die Konsumenten der Nachricht gar nicht mehr bemerken, weil sie ständig von neuen Skandal- und Empörungsgeschichten bombardiert werden. Das Bild, das sich für sie ergibt, ist das einer Welt in fortschreitendem Niedergang. Eine Dystopie, von der die Populisten profitieren, denn mit dieser Untergangserzählung fundieren sie ihre eigene Erzählung, die das Heil in einer als besser gemalten Vergangenheit sucht.

Zurück in die schöne homogene Welt der verschlossenen Nationalstaaten von 1900. Ein Bild, das auch deshalb funktioniert, weil die demokratischen Parteien derzeit nicht in der Lage scheinen, ein attraktives Bild von einer möglichen anderen Zukunft zu zeichnen.

Die unsichtbare gemachte Wirklichkeit

„Versuchen Sie einmal Fortschrittsungläubigen das Gegenteil zu beweisen: Wenn man täglich vor allem liest, hört und sieht, dass die Welt korrupt und voller Missstände ist, warum sollte man dann noch an einen kollektiven Fortschritt glauben?“, fragt Wijnberg. „So gewinnt die nostalgische Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit an Terrain – und die Wahrheit verliert zunehmend ihre bindende Kraft.“

Die Wahrheit wird zu einem Konsumgut. Jeder hat seine eigene Wahrheit. Der Kitt der Gesellschaft fällt auseinander. Alles dreht sich nur noch ums Individuum und seine absoluten Freiheitsrechte. Jeder ist nur noch mit der Verteidigung seines eigenen kleinen Ich beschäftigt, bedrängt durch die „Anderen“, die natürlich alle falsch liegen und lügen.

Und dabei verschwindet auch in der medialen Berichterstattung etwas, was eigentlich das wirkliche Fundament der menschlichen Existenz, für Freiheit und Fortschritt ist. Aber das ist eben nicht das konsumierende kleine Individuum, das sich auf dem Markt alles kaufen kann. Sondern es geht um das Gemeinsame, an das Wijnbergs Landsmann Rutger Bregman 2019 mit seinem Buch „Im Grunde gut“ erinnerte.

Oder es überhaupt erst einmal ins Bewusstsein der lesenden Gegenwart rückte: Dass alles, was der Mensch geschaffen, erfunden, gebaut hat, die gesamte menschliche Zivilisation darauf beruht, dass Menschen miteinander kooperieren. Alles, was unseren heutigen Wohlstand ausmacht – von der Demokratie bis zur Technik – beruht auf der Zusammenarbeit von Millionen Menschen. Jeder trägt seinen Teil dazu bei. Wijnberg nennt es „ein alltägliches Weltwunder“.

„Die Ökonomisierung unserer Weltanschauung, die die Wahrheit zu einem Produkt und die Gesellschaft zu einer Ökonomie gemacht hat, hat uns in gewisser Weise für unseren tief verwurzelten Altruismus blind werden lassen – für alles, was wir aus Liebe und Fürsorge füreinander tun“, schreibt Wijnberg. Natürlich bedankt er sich für den regen Austausch mit Bregman.

Denn erst, wenn man mit diesem Wissen wieder auf unsere Gesellschaft schaut und merkt, dass 99 Prozent dessen, was täglich passiert, reibungslos und wie selbstverständlich in reger Zusammenarbeit von Menschen passiert, merkt man auch, dass darüber eben nicht berichtet wird. Sondern nur über die 1 Prozent Missstände, die damit ungeheuer aufgewertet und ausgebreitet werden. Und damit das Bild einer im Desaster versinkenden Gesellschaft ergeben.

Es fehlt: die Zukunftsgeschichte

Das ist dann folgerichtig ein mediales Bild, das die Menschen ängstlich, frustriert und hoffnungslos macht. Weil in diesem permanenten Reigen der wilden Missstände kein Platz ist für eine irgendwie optimistische Sicht auf die Zukunft. Obwohl die gesamte Menschheitsgeschichte beweist, dass Menschen nicht nur aus ihren Fehlern lernen können, sondern auch gemeinsam Lösungen für ihre Probleme finden. Sie sind nicht allein und hilflos. Sondern weiterhin genauso zur Kooperation fähig wie unsere Vorfahren in der Steinzeit.

Was freilich fehlt, ist die Geschichte dazu. Denn Menschen erzählen sich ihr eigenes Dasein immer in Geschichten. Geschichten, die allem, was passiert, erst einen Sinn geben. Und ein Ziel. Und hier sieht Wijnberg die Möglichkeiten vor allem eines Journalismus, der die Jagd auf immer neue Skandalmeldungen nicht (mehr) mitmacht: Er kann die Geschichten einer möglichen Zukunft erzählen.

Die übrigens überhaupt nicht utopisch sind. Sie stecken überall in unserer Gegenwart – in jungen Unternehmen, in Forschung und Stadtplanung, auch in der Politik. Doch verkauft werden diese Geschichten der Öffentlichkeit meist als Mahnung, Vorschrift, Verbot. Nicht als Erzählungen einer lebenswerteren Zukunft, an der wir alle arbeiten könnten. Auch all jene, die heute meist so wütend sind.

Eine offene Frage

Dazu verweist Wijnberg auf einige fundierte Studien, die belegen, dass auch das Bild einer völlig polarisierten Gesellschaft, das immer wieder beschworen wird, falsch ist. Denn tatsächlich herrscht über die meisten Dinge, die die Menschen in unserer Gesellschaft beschäftigen (und da unterscheiden sich die Niederlande gar nicht von Deutschland) größtenteils Konsens.

Nur nehmen das die befragten Menschen nicht mehr wahr, weil ihnen die Medien eine völlig zerstrittene und unversöhnliche Welt präsentieren, permanent in Schwarz und Weiß, Sieger und Verlierer teilen. Und einfach ausblenden, dass 99 Prozent der politischen Entscheidungen Kompromisse sind, auf die sich Politiker einigen konnten, ohne sich die Schädel einzuschlagen.

Ob Medien tatsächlich Wege finden, wieder zu einer Berichterstattung zu finden, die unsere Gesellschaft und ihre Potenziale tatsächlich zeigt und dem um sich greifenden Misstrauen etwas entgegensetzen kann, lässt Wijnberg freilich offen. Denn die „Marktmacht“ bei den Nachrichten liegt nach wie vor bei den riesigen Plattformen, die sich mit Radikalisierung und Entgrenzung goldene Nasen verdienen und die klassischen Medien dabei an den Rand gedrängt haben.

Hier bleibt also eine wesentliche Frage offen. Auch wenn „de Correspondent“ tapfer gegenhält und zeigt, dass profunder Journalismus auch ohne Anklage, Misstrauen und Skandalisierung arbeiten kann. Und dafür eher Geschichten erzählt, die den Leserinnen und Lesern zeigen, dass man gemeinsam für alles eine Lösung finden kann. Wenn man sich zusammentut und daran arbeitet. Und sich von den skandalisierenden Medien nicht permanent entmutigen lässt.

Rob Wijnberg „Ruinen der Wahrheit“ C. H. Beck, München 2025, 24 Euro.

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