Während sich am Samstag, 22. Januar 2022 gegen 15 Uhr knapp 200 Menschen auf dem Parkplatz des Leipziger Völkerschlachtdenkmals zu ihrem „Spaziergang“ zusammenfinden, bekommt eine weitere „Querdenker“-Lüge gerade im Netz die Beine gekürzt. In sächsischen Zeitungen tauchen unzählige Stellenanzeigen von Krankenhaus- und Pflegemitarbeiter/-innen auf, die, weil ungeimpft, angeblich neue Jobs suchen. Erste Anrufversuche eines recherchierenden Journalisten blieben erfolglos, die Inserent/-innen gibt es offenbar nicht. Gleichzeitig machen sich Menschen, aus deren Kreisen solche Ideen stammen, in Leipzig zu einer Versammlung auf, um ohne Versammlungsanmeldung für ungeimpfte Pflegekräfte zu demonstrieren.

„Freie Presse“, „Sächsische Zeitung“, „Dresdner Neuste Nachrichten“ (DNN), ein Bautzener Anzeigenblatt, – die Hinweise darauf, dass sich seit kurzem in immer mehr Zeitungen hohe Zahlen von offenbar gefälschten Stellengesuchen dubioser Herkunft mehren, nehmen zu. Die „Sächsische“ meldete bereits per Twitter zurück, sich das mal näher anzuschauen, was Journalist Andreas Rausch vom RBB am Samstagmorgen bezüglich der für wenige Euro buchbaren Kleinanzeigen anstieß.Seine ersten 18 Anrufversuche bei den angeblich wechselwilligen Kranken- und Pflegemitarbeiter/-innen der Bautzener Stellengesuche blieben erfolglos. Wo eine Frau inserierte, nahm ein Mann den einzigen Anruf an und beendete ihn anschließend abrupt. Der Hintergrund der Aktion mit oft auch gleichlautenden Anzeigen: Impfgegner versuchen offenbar eine Realität zu erschaffen, die es so nicht gibt.

Um anschließend wegen dieser selbst erzeugten Eindrücke „spazieren“ zu gehen – ein propagandistisches Perpetuum Mobile, angetrieben durch ungeprüfte Nachrichten, Falschberichten bis hin zu Hetzbeiträgen zumeist auf Telegram in diesen Tagen.

Der allergrößte Teil, man spricht von 85 bis 90 Prozent des Pflege- und Krankenhauspersonals, sind längst geimpft, sie trifft die berufliche Impfpflicht ab 15. März dieses Jahres nicht. Ein Umstand, den manche nicht mehr wahrnehmen können, seit sie, außer in Telegram-Gruppen und Facebook vorgeframte Videoschnipsel und Textbeiträge zu konsumieren, aufgehört haben über den Tellerrand von diversen „alternativen Medien“ hinauszusehen.

Für sie ist die Welt anders: düster, apokalyptisch und nicht selten fern jeder Realität. Nimmt man ihre Perspektive ein, sind die beängstigenden Informationen über eine angeblich bald totgeimpfte Gesellschaft ein brutaler Angriff auf ihre Freiheit und Gesundheit.

Ein Video aus der richtigen Perspektive und aus 200 werden „Tausende“: Screenshot Telegram „Freie Sachsen“.

Selbst der einfache Hinweis auf die bislang milliardenfach verabreichten Anti-Covid-Injektionen, erwiesenen Übersterblichkeiten unter Ungeimpften und das Ausbleiben massenhafter schwerer Impfschäden oder gar Todesfälle hilft nichts mehr: Wer anderes sagt, als die zur Überzeugung geronnene Propaganda, ist Teil „des Systems“.

Und der Kampf gegen dieses manifestiert sich in solchen „Spaziergängen“ wie am heutigen Samstag, nach welchem dann quasi zeitgleich die Propaganda der rechtsextremen „Freien Sachsen“ einsetzt. Diese melden heute live bei Telegram „Tausende spazieren durch Leipzig“, wo in der nachprüfbaren Realität vor Ort 200 Menschen vom Völkerschlachtdenkmal zum Ostplatz und ab da, begleitet von einer deutlich verstärkten Polizei, wieder zurückliefen (siehe Videos/Fotos).

Die Zahlenlüge der „Freien Sachsen“ wiederum beweist, was die „Spaziergänger“ stets abzustreiten versuchen: Die Filmer der Rechtsextremisten aus dem Raum Chemnitz sind unter ihnen, oft genug in der ersten Reihe, koordinieren und propagieren den „Systemsturz“ in einem Telegramkanal mit mittlerweile über 140.000 Fans. Und niemand von denen, die sich hier von Rechtsextremisten zu Propagandazwecken filmen lassen, distanziert sich von ihnen.

Auf kurzen Beinen

Zum „Spaziergang“ auf kurzen Beinen selbst gibt es letztlich genauso wenig wirklich Neues zu berichten, wie viele andere Male in den letzten Monaten. Nach der neuen Corona-Schutz-Verordnung Sachsens können aktuell bis zu 1.000 Menschen gemeinsam (angemeldet) demonstrieren, auf das Tragen von Mund-Nasen-Masken achtet Sachsens Polizei mittlerweile kaum noch.

Dennoch verstieß die zuvor beworbene, also wenig spontane Versammlung mal wieder gegen das Versammlungsgesetz, wie die Pressestelle der Leipziger Polizei auf LZ-Nachfrage hin bestätigt.

„Es liegt keine Versammlungsanmeldung vor“, so Sprecherin Dorothea Benndorf von der Polizeidirektion Leipzig gegenüber LZ. Auch vor Ort sei keine angezeigt worden, einen oder eine Versammlungsanmelder/-in gab es nicht. „Eine Straftat, die wir noch zur Anzeige bringen werden“, so Benndorf weiter zur fehlenden Ansprechperson.

Dieser Vorgang hat nichts mit den Corona-Schutz-Verordnungen, dafür umso mehr mit dem seit Jahrzehnten geltenden Versammlungsrecht zu tun. Vor Ort habe man „zu wenige Kräfte verfügbar gehabt“, um den Zug der 200 Menschen aufzuhalten. Dafür vertrieb man – fast schon Routine der letzten Monate – auf der Prager Straße, Nähe Ostplatz den etwa 30-köpfigen Gegenprotest mit polizeilichen Mitteln, als dieser den Demozug kurzzeitig zum Halten zwang.

Für die Polizei eine Frage des Kräfteeinsatzes: die kleinere Gruppe musste also weichen, die größere Gruppe durfte weiterlaufen: Versammlungsrecht als Mengenfrage.

Eine Situation, wo sicher auch nicht zum ersten Mal auch die Polizeibeamten feststellen konnten, dass die „Spaziergänger“ auch deutlich unfriedliche Teilnehmer/-innen – im Jargon eher als „Hooligans“ rechter Fußballclubs bezeichnete Männer – in ihren Reihen haben. Auch das ist seit Monaten für die „Spaziergänger“ kein Grund, sich zu fragen, mit wem sie da gemeinsam unterwegs sind. Dafür gab es offenbar in dieser Situation einen Pfeffersprayeinsatz durch einen Gegendemonstranten, welchem die Polizei nun ebenfalls nachgehen wird.

Anschließend liefen die 200 „Spaziergänger“ (siehe Slow-Motion-Aufnahme) weiter Richtung Universitätsklinikum, drehten dann am Friedenspark von der Polizei nun deutlicher gelenkt wieder Richtung Süden, um am Startort Völkerschlachtdenkmal ihre strafbare Handlung abzuschließen. Diese haben „zu wenige Mittel“ gehabt, um den Zug vor Ort zu stoppen und die Personalien festzustellen, so die – angesichts der tagelangen Mobilisierung in verschwörungsnahen Telegramgruppen und -kanälen – wenig beruhigende Mitteilung aus der polizeilichen Pressestelle.

Schuld an dem heute erneut stattgefundenen Zurückweichen des staatlichen Gewaltmonopols sind sicher auch die unzähligen Polizei-Einsätze in ganz Sachsen, heute auch in Dresden, wo die Behörden das vollständige Verbot von Versammlungen beschäftigt haben könnte.

Nun darf man gespannt sein, ob die Strafermittlungen gegen die 200 Demonstranten Ergebnisse zutage fördern.

Die Impressionen vom 22. Januar 2022

Video: LZ

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