Oft bekomme ich zu hören „So könnte ich nicht leben“. Das dachte ich auch, als ich hier das erste Mal vor acht Jahren herkam, ungefähr zwei Jahre, bevor ich einzog. Diese Aussage formt sich im vertrauten Hinterstübchen und hangelt sich an den Grenzen der eigenen Komfortzone entlang. Sie lässt auch ein wenig von der Irritation anklingen, dass andere das sehr wohl können. Die Frage, die sich daraus ableiten lässt, ist: Wie will ich eigentlich leben?

Mit meinem Einzug auf dem Wagenplatz karlhelga erntete ich Erstaunen bis hin zu Entsetzen. Meine damals 40 Lebensjahre passten gerade noch so in den Rahmen einer bürgerlichen Normalbiographie. Den Ideen über das Wagenplatzleben in den Köpfen meiner näheren Umgebung bot sich ein Ventil. Projektionen, geprägt von wildem Punkrock, Vorstellungen von Anarchie, die auch mir Angst machten, von gedankenlosem Chaos (weshalb das ja auch nur eine Phase sein kann) wurden mit meiner Person abgeglichen. Inzwischen ist Normalität eingekehrt, Freunde und Familie haben ihren Frieden damit gemacht und finden es sogar ganz interessant, wie das Wagenleben zu mir mit meinen zwei Kindern, den Hunden, meiner Arbeit und meinem zweiten Zuhause in Bulgarien passt.

Vielleicht kann es uns mal das Leben retten, wenn sich Menschen aufmachen und die gegebenen Verhältnisse hinterfragen? Die Menschheit befindet sich ökologisch und sozial auf Selbstzerstörungskurs. Braucht es nicht eine Vereinfachung, das Schaffen neuer Gewohnheiten orientiert an ökologischen und gemeinschaftsfähigen Werten?

Was ich hier erlebe, ist dass Nachhaltigkeit nicht im klassischen Sinne entbehrungsreich sein muss. Teilen schafft Bereicherung. Wenn ich mir anschaue, wie überlaufen wir mit Einzugsanfragen sind, hat das Leben auf Rädern längst Schule gemacht.

Nach außen sind wir ein bunter Haufen, jonglieren die Organisation der Ausbauplatte, Küfa (Küche für alle), Konzerte, Workshops, bieten Menschen unkompliziert ein Dach überm Kopf und vieles mehr. Im täglichen Miteinander sind wir vor allem Nachbar/-innen, die viele sehr schöne Momente miteinander teilen, aber auch Herausforderungen zu meistern haben. Was uns eint, ist die Erkenntnis, wie wertvoll es ist, unseren Raum selbstbestimmt gestalten zu können.

Zu experimentieren mit Formen der Mitbestimmung, auszuhandeln, was uns im Kern antreibt und wo Toleranz und Akzeptanz unsere Konsensfähigkeit erhöhen. Gerade nehmen wir uns viel Zeit, um unsere Vetoregel auf den Prüfstand zu stellen. Für mich sind das kostbare Lernmomente, die einen echten Bezug zu meinem Leben haben.

Genauso zuverlässig, wie unsere Lebensform mitten in einer weltoffenen Stadt wie Leipzig zum Nachdenken anregt, ist der Reflex auf die Information, dass das Grundstück, auf dem sich der Wagenplatz befindet, von einer Untergruppe der Gröner-Group, GG, gekauft wurde: „Da werdet ihr jetzt also geräumt.“ Nein. Aber das ist das Schreckgespenst, das uns zum Teil schlaflose Nächte bereitet.

Die Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, bindet Lebensentwürfe an Profit, Konsum und materiellen Reichtum. Es fiel mir nicht leicht, rechtliche Gegebenheiten als Gestaltungsmasse mit entgegenstehenden Logiken zu betrachten. Klar gefällt mir vieles nicht. Meine Schlussfolgerung daraus war bislang, unterm Radar der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben. Das geht nun nicht mehr. Plötzlich geht es uns an den Kragen. Und mit uns soll gleich das ganze Viertel umgekrempelt werden. Eine gewachsene Nachbar/-innenschaft soll einfach so im Mülleimer des Neoliberalismus landen?

Meine Mutter ist während des zweite Weltkrieges geboren, hat die DDR von Anton bis Zylinder kennengelernt und wusste danach die Vorzüge von Westdeutschland zu schätzen. Dass der Kapitalismus die einzig gültige Antwort auf die Frage nach einer geeigneten Gesellschaftsform sein soll, zieht sie zunehmend in Zweifel. Da sind wir uns einig.

Der Beitrag entstand im Rahmen der Workshopreihe „Bürgerjournalismus als Sächsische Beteiligungsoption“ – gefördert durch die FRL Bürgerbeteiligung des Freistaates Sachsen. *Jasmin Binar ist ein Pseudonym, der Name der Autorin ist d. Red. bekannt.

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