Folgende Ausführungen sind ein Debattenbeitrag zum ersten Juniwochenende in Leipzig von den Anmeldern und Versammlungsleitern der nicht verbotenen Versammlung: Am 3. Juni 2023 sollte in Leipzig die sogenannte Tag-X-Demonstration stattfinden, die durch die Stadt wenige Tage vorher verboten wurde. Das Verbot wurde im Eilverfahren sowohl durch das Verwaltungsgericht Leipzig, das Oberverwaltungsgericht bis hin zum Bundesverfassungsgericht gehalten.

Dennoch fand am 3. Juni 2023 eine Demonstration statt, die vor dem Verbot des sogenannten Tages X angemeldet und nicht verboten wurde und sich gegen die Allgemeinverfügung der Stadt zum Verbot sämtlicher Kundgebungen richtete. Diese Versammlung endete mit dem viel diskutierten Leipziger Kessel und einer juristischen Aufarbeitung, die noch Monate dauern wird.

Versammlungsfreiheit und Kontrollen

Die Versammlungsfreiheit ist essenziell für die Demokratie. Zusammen mit der Meinungsfreiheit bildet sie das Grundkorsett des Meinungsstreites im demokratischen Rahmen. Sie ist ein Minderheitenrecht und schafft damit die Möglichkeit, auf Anliegen aufmerksam zu machen, und zwar unabhängig davon, wie man individuell oder von staatlicher Seite dieses Anliegen bewertet.

Jede Einschränkung der Versammlungsfreiheit, insbesondere wenn sie auf ein faktisches Verbot der Ausübung eines Grundrechts hinausläuft, muss daher zwingend auf Kritik stoßen und diskutiert werden. Dass viele Menschen jedoch derartige Verbote gutheißen und sich durch Versammlungen gestört fühlen, zeigt eher ein problematisches Demokratieverständnis, was uns als Gesellschaft mehr zu denken geben sollte.

Faktisch gesehen hat die Stadt, in der Annahme, dass es Gewalt geben könnte, die Ausübung eines Grundrechts in einem speziellen Kontext untersagt. Verkannt wird dabei, dass auch Gerichtsurteile in einem demokratischen Rechtsstaat diskutiert und hinterfragt werden können, insbesondere dann, wenn diese nicht rechtskräftig oder abschließend sind.

Wir haben die Einschränkung der Grundrechte und das Verbot von Versammlungen 2011 kritisiert, als ein rechtsextremer Aufzug untersagt wurde und wir haben bereits im April 2020 gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu Corona Zeiten unsere Stimme erhoben. Jede einzelne Einschränkung eines Grundrechts, jeder Eingriff in ein Grundrecht muss hinterfragt werden.

Wie kann man anders gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit demonstrieren, indem man sich eben auf diese Versammlungsfreiheit beruft?

Hinzu kommt, dass nicht nur die Versammlungsfreiheit an diesen ersten Tagen des Junis stark eingeschränkt war, sondern auch in weiten Teilen der Stadt eine Kontrollzone eingerichtet wurde, mit der es möglich war, Menschen anlasslos zu kontrollieren.

Die Auswahl, also die Einschätzungsprärogative, lag allein bei den jeweiligen Polizeibeamt*innen, deren Aufgabe darin bestand, Menschen, die man explizit als Linke gelesen hat, zu kontrollieren.

Hier griff eine Art racial (besser: political) profiling entlang einer politischen Zuordnung durch das äußere Erscheinungsbild.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Staat willkürlich Menschen kontrollieren konnte in der Annahme, dass diese möglicherweise sich einer Demonstration anschließen könnten, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig verboten war.

Der Polizeieinsatz am ersten Juniwochenende lässt einige ratlos zurück. Foto: LZ

Allein die Vorstellung, dass der Staat entlang von politischen Einstellungen willkürlich Menschen kontrollieren kann, sollte jedem aufgeklärten Menschen den Angstschweiß ins Gesicht treiben.

Massive Polizeipräsenz, anlasslose Kontrollen und Demonstrationsverbote sind eher Kennzeichen eines totalitären Staates. Dass viele Menschen dies bedenkenlos mittragen, ist die beunruhigende Erkenntnis dieses Wochenendes.

Eine Gesellschaft in Angst und Konsumlust

Der Staat, der wir alle sind, denn wir sind Teil davon, hat auch die Aufgabe, Gefahren für Menschen abzuwehren. Entsprechend hat er Schutzpflichten, die im Lichte des jeweiligen Grundrechts in das eingegriffen wird, auszulegen und abzuwägen sind.

In Corona-Zeiten wurden weitgehende Grundrechtseingriffe und damit auch Versammlungsverbote mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit des Virus und bei dessen unkontrollierter Ausbreitung für vulnerable Gruppen gerechtfertigt.

So wichtig diese Fragestellung zur öffentlichen Sicherheit ist, so sehr muss es uns auch mit Unbehagen erfüllen, dass sehr viele Menschen diese Eingriffe völlig diskussionslos hinnahmen und weitere Eingriffe rechtfertigten.

Am ersten Juniwochenende wurde die Einschränkung der Versammlungsfreiheit damit gerechtfertigt, dass Gewalt angekündigt war. Gewaltankündigung, die mehrheitlich anonym auf einer Internetseite veröffentlicht wurden, auf der jeder veröffentlichen kann.

In der Endkonsequenz läuft dies darauf hinaus, dass man zukünftig jede unliebsame Versammlung unterbinden kann, wenn in deren Kontext und in Bezugnahme darauf Gewalt, gleichgültig von wem, angekündigt wurde.

Denken wir diese Konstruktion bis zum Ende, wird es zukünftig immer leichter, die Ausübung von Grundrechten einzuschränken. Während es zu Coronazeiten noch bei echter Gefahr um den Schutz von Leben ging, reicht nunmehr auch der Schutz des Eigentums vor vermeintlicher Bedrohung aus.

Faktisch gesehen hat der Staat die Eigentumsfreiheit höher gewichtet als die Versammlungsfreiheit. Es ist, wie richtig beschrieben wurde, die dystopische Gleichzeitigkeit von Konsum bei Stadtfest und Fußball einerseits und faktischen Grundrechtsverbot andererseits, die Sorgen bereiten muss.

Wenn der Staat das Recht auf ungestörten Konsum höher gewichtet als den Protest, in der Annahme, dass die Mehrheit dies auch so sieht, handelt der Staat nicht demokratisch, sondern autoritär.

Jürgen Kasek redet mit Personen der Polizeibehörde und der Polizei.
Versammlungsleiter Jürgen Kasek im wiederholten Kooperationsgespräch mit Polizeibehörde und Polizei. Foto: LZ

Wir stellen eine Entwicklung fest, dass in der Annahme, Sicherheit zu gewinnen, die Bereitschaft, in Grundrechte einzugreifen, seit Jahren immer mehr zunimmt. Aus Angst unterminiert der Staat damit seine eigenen Grundfesten und bereitet autoritären Einstellungen den Weg.

Antifaschismus und Militanz

Worüber wir reden müssen. Das Geschehen in Leipzig bildet die Grundlage für eine neuerliche Diskussion über vermeintlichen Linksextremismus und warum der Staat handeln müsste. Wie bestellt, schlägt der Innenminister direkt danach ein Handlungskonzept Linksextremismus vor.

Was tatsächlich geschieht, ist der Versuch, Antifaschismus generell zu kriminalisieren. In der Lesart der meist konservativen Meinungsmacher wird in der öffentlichen Wahrnehmung auf eine Verknüpfung von Antifaschismus und Gewalt hingearbeitet, die dazu dient, Antifaschismus als Handlungskonzept zu delegitimieren.

Vergessen wird dabei, dass unser Grundgesetz in Abkehr des Nationalsozialismus verfasst wurde und damit speziell eine positive Bezugnahme auf das dritte Reich verbietet. Der Antifaschismus war damit einst Grundkonsens der Bundesrepublik und selbst die CDU machte auf ihren Wahlplakaten in den 50er Jahren damit Werbung.

Auf welchem Weg befinden wir uns, wenn dieser Grundkonsens mehr und mehr ins Wanken gerät?

Das ursprünglich auch durch die CDU erdachte Konzept „Wohlstand für alle“ unter Kanzler Ludwig Erhard, hatte die Idee, dass Menschen in Wohlstand weniger empfänglich für Totalitarismus sind. Es ging um eine Immunisierung gegen Totalitarismus, bis sich das Konzept im Turbokapitalismus verselbstständigte und es nicht mehr um Wohlstand für Alle ging, sondern um Kapitalakkumulation, die diejenigen begünstigt, die bereits Kapital akkumuliert haben und womit letztlich die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben wird.

In Zeiten der multiplen Krisen, nehmen Zukunftsängste zu, die Gesellschaft driftet auseinander, Antifaschismus wird diskreditiert und der Staat regiert autoritär? Ist es so schwer zu verstehen, wohin solch eine Entwicklung führen kann?

Historische Analogien sind mitunter gefährlich, aber ohne diese wird es nicht möglich, Geschichte zu verstehen und daraus zu lernen. Parallelen zu 1923 sind aktueller denn je zu ziehen und zu hinterfragen.

Viel wurde über Gewalt gesprochen und nur wenige haben sich damit auseinandergesetzt. Konstatiert werden brennende Mülltonnen und geborstene Scheiben, die Hintergründe und Grundlagen werden nicht erfragt.
In dem Urteil vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichtes Dresden hat das Gericht ausgeführt, dass es Zustände wie Eisenach nicht hätte geben dürfen. Zustände also, wo es Angstzonen für Nichtrechte Menschen gibt und sich, als Teil des Alltags akzeptiert, Neonazis auf den Sturz des Systems vorbereiten.

Das Handlungskonzept des militanten Antifaschismus ist aus der bitteren Erkenntnis entstanden, dass man sich auf diesen Staat nicht verlassen kann. Erinnern wir an die Baseballschlägerjahre, als es für Nichtrechte Menschen notwendig war, sich selbst zu organisieren, Stadtviertel oder Gegenden zu meiden oder im Ernstfall mit seinem Leben zu bezahlen.

Als die Skinheads Sächsische Schweiz verboten wurden, zog man bei den Durchsuchungen Kräfte aus anderen Regionen hinzu, da ein Teil der Verdächtigen engen Kontakt zur lokalen Polizei und zum Teil Polizeibeamt*innen in der Familie hatten.

Wer die Notwendigkeit des antifaschistischen Selbstschutzes anzweifelt, möge bitte mit einem sichtbaren Kleidungsstück, auf dem die grundgesetzliche Losung des „Nie wieder“ abgedruckt ist, in irgendeiner Form durch weite Teile Ostdeutschlands fahren. Wo ein durchgestrichenes Hakenkreuz als Ausdruck einer Haltung in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz als Mutprobe und Provokation zählt, ist antifaschistischer Selbstschutz bittere Notwendigkeit.

Wer sich daher weigert, über menschenfeindliche Einstellungen, No Go Areas und strukturelle Gewalt zu sprechen, mag von linker Militanz schweigen.

Das Märchen der Gewalt

Gern wird behauptet, dass es keine gute oder schlechte Gewalt gebe. Gewalt sei damit immer Teil des Problems. Diese Aussage mag auf den ersten Blick überzeugen, blendet aber die Problemstellungen aus.

Gewalt hat Ursachen und Pole, an denen sie sich entlädt. Wer Gewalt bekämpfen will, muss sich mit den Ursachen auseinandersetzen.

Nach dem ersten Juniwochenende wird gern behauptet, nachdem sich viele bürgerliche Medien in einen Gewaltrausch angesichts mackerhafter Verbalradikalismen im Internet hineingeschrieben haben, dass die Polizei Schlimmeres verhindert hätte. Genauso gut lässt sich allerdings sagen, dass die Polizei und ihr Vorgehen der Auslöser für das schlimme Geschehen waren.

Aber in der Gesellschaft der Aufregung fixieren sich alle auf die Gewalt und das voyeuristische Element des Geschehens. Die Gewalt als Projektionsfläche für verborgene Sehnsüchte und Ängste und eine Diskussion, die nicht mal versucht, die Oberfläche überhaupt zu erfassen.

Angesichts angekündigter Gewalt wird in einer Demokratie legitimer Protest bereits vorab untersagt und der Staat geriert sich als hochgerüsteter Leviathan, der Grundrechte als Gnadenrechte interpretiert. Es mutet im Ergebnis nur noch tragisch an, dass diejenigen, die vom staatlichen Gewaltmonopol schreiben, dies als sakrosankt behandeln und nicht mehr hinterfragen.

In diesem Anflug, solches nicht mehr zu hinterfragen und anzuerkennen, liegt jedoch gleichsam die Idee begründet, dass Gewalt eben nicht nur im Einzelfall gerechtfertigt sein kann, sondern es generell gute Gewalt gebe und diese sogar notwendig sei.

Wer, ohne zu hinterfragen, die Gewalt des Staates akzeptiert, akzeptiert damit auch die Gewalt als Grundlage staatlichen Handelns und, dass es gute Gewalt gibt. Dies gilt allerdings nur so lange, wie die Gewalt sich nicht gegen einen selbst richtet, denn immer dann wird der Staat als ungerecht empfunden. Gewalt als Handlungskonzept ist dabei aber freilich bereits anerkannt und dient nun als Grundlage des eigenen Handelns.

Denken wir all dies zu Ende, kommen wir nicht umhin, umso stärker vor einem neuen Autoritarismus zu warnen.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Es gibt 3 Kommentare

Kurt Mondaugen las bei der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz einen Text, in dem er sein persönliches Trauma verarbeitet. Es ist auch hier nachzulesen und wirft ein weiteres Schlaglicht auf die Ereignisse am 3./4. Juni:
rhttps://leipzignirwana.wordpress.com/2023/07/01/ich-will-das-nicht/

Ãœber den Satz “Das Handlungskonzept des militanten Antifaschismus ist aus der bitteren Erkenntnis entstanden, dass man sich auf diesen Staat nicht verlassen kann.” muß ich noch weiter nachdenken. Ich frage mich bisher, ob das Wort Handlungskonzept hier geeignet ist.

Daß die Staatsmacht an dem Tag unter allen Umständen ein Exempel zu statuieren bereit war, zeigen m.E. die eingeschleußten Vermummten, von den zu lesen war, heute erst in der LVZ, nämlich, daß sogar ein Staatsanwalt als Vermummter in der Menge mitgetan hätte. Und die Autoren, die m.E. zurecht monieren “Angesichts angekündigter Gewalt wird in einer Demokratie legitimer Protest bereits vorab untersagt und der Staat geriert sich als hochgerüsteter Leviathan, der Grundrechte als Gnadenrechte interpretiert.” sind nun erschrocken, wie ihre Demo gegen Gewalt ausgegangen ist, sozusagen. Aber Anmelder und Polizei hatten ungleich lange Spieße, um mal einen Helvetismus einzuflechten, es konnte an dem Tag nicht anders ausgehen, aber das haben sich Demo-Organsatoren, darunter eben die SPD-Vorsitzende und der Bündnisgrünenstadtrat, also die Autoren, damals anscheinend nicht zuvor klarmachen können.

Es seien damals nicht nur 3000, sondern 4000 Polizisten in der Stadt gewesen, las ich diese Woche. Weiß man inzwischen, was dabei für Kosten aufgelaufen sind? Ich rate mal, mehrere Millionen Euro.

Mich würde aus der Sicht von Frau Kokot oder Herrn Kasek interessieren, warum es so schlimm gewesen wäre, zum Zweck der Deeskalation einfach eine Woche später gegen die Versammlungsverbote zu demonstrieren.

Schreiben Sie einen Kommentar