Das kam bei den Betroffenen genauso schlecht an wie bei den Eltern der vielen Minderjährigen, die in der Nacht vom 3. zum 4. Juni in der Südvorstadt über elf Stunden ohne Versorgung und medizinische Betreuung durch die Polizei eingekesselt worden waren, als sowohl OBM Burkhard Jung als auch Polizeipräsident René Demmler dieses Vorgehen für angemessen erklärten. Beide bekamen dieser Tage deutliche Briefe. Demmler gleich mal einen mit einer Rücktrittsforderung.

Die steht in einem Offenen Brief der „Eltern gegen Polizeigewalt“. Denn was sich einige Polizeibeamte da leisteten, ist mit dem Wort Grenzüberschreitung noch ziemlich harmlos umschrieben.

Der Offene Brief der „Eltern gegen Polizeigewalt“.

An René Demmler, Polizeipräsident der Polizei Leipzig.

Als wir Eltern gegen Polizeigewalt (@ElternggPG) uns Ende März mit Ihnen und Ihrem Polizeisprecher Herrn Hoppe trafen, um die unverhältnismäßige Polizeigewalt auf den faschistischen Montagsdemos zu kritisieren, sprachen Sie davon, dass „dies nicht die Polizei sei, die sich wünschten“, „es sei nicht Ihre Polizei“. Als dann nicht mal 4 Tage später, ein Leipziger Polizist und zwei Bundespolizist:Innen, jugendliche Menschen am Augustusplatz gewaltsam, anlasslos, gefährlich zu Fall brachten, telefonierten wir mit Ihnen. Sie erwähnten einen schweren Krankheitsfall in der Familie des Leipziger Polizisten, was evtl. die Ursache für sein Handeln gewesen sein könnte. Wieder versicherten Sie, dass dies nicht Ihre Polizei sei, Sie ein Umdenken, was unverhältnismäßige Handlungen anbelangt, nicht befehlen könnten, sie wollen von den Beamten „verstanden“ werden.

Die Vehemenz und Ãœberzeugung,  mit der Sie den fatalen und an Unmenschlichkeit kaum noch zu überbietenden Einsatz verteidigen (obwohl Sie inzwischen Stimmen von unter der Repression leidenden Menschen vernommen haben dürften), ihn bis heute als richtig und alternativlos bezeichnen, macht uns sprachlos und lässt uns daraus schließen, was mit ihrer Aussage: “dies ist nicht meine Polizei, das ist nicht die Polizei, die ich mir wünsche” gemeint war.

Am vergangenen Wochenende (03.-04.Juni 2023) konnten wir uns alle davon überzeugen, welches Ihre Polizei ist. Wir wurden Zeugen von unsäglicher Gewalt, ausgehend von Polizist:Innen. Ob jeder von denen, schwere Erkrankungen innerhalb der Familie hat, dass er emotional am Abgrund stehend, in Gewaltfantasien ausbricht, ist schwer vermittel- und kaum vorstellbar. Eher sind diese Gewaltexzesse mit systemischen Ursachen für Polizeigewalt zu erklären. Ihr Interview in der LVZ lässt nur in Teilen erahnen das Sie weder Kosten noch Mühen gespart haben, um durch gezielte Provokationen, eine Eskalation herbeizuführen, die ein Eingreifen rechtfertigte. Selbst vor eingeschleusten, sogenannten taktischen Provokateur:Innen, machten Sie nicht halt. Sollte das nicht Ihre Entscheidung gewesen sein, stellt sich die Frage, ob Sie Ihren Untergebenen weiterhin vertrauen können, oder ob sich schon eine Subkultur gebildet hat, die an Ihnen vorbei Entscheidungen trifft.

Polizist:Innen fanden Gefallen daran Kindern, jungen und erwachsenen Menschen an sehr intimen Stellen, massiv zu berühren und sogar mit Taschenlampen in deren Unterwäsche zu leuchten. Weiblich gelesene Menschen wurden bei der Durchsuchung teilweise nur an Brüste und Po gefasst. Das ist an Demütigung bis hin zur Perversität nicht mehr zu überbieten. Menschen wurden gezwungen in der Öffentlichkeit in Parkanlagen eines Kinder-Spielplatzes zu urinieren, zu koten und Menstruationsartikel unter den undenkbarsten, menschenunwürdigsten hygienischen Bedingungen zu wechseln, alles bei Flutlichtbeleuchtung und unter der Beobachtung Ihrer Beamt:Innen. Das ist eine Form von sexueller Gewalt! Was gehen in den Köpfen der Beamt:Innen für kranke Fantasien vor, die sich solcherlei perverse unmenschliche Qualen ausdenken?

Während Ihre Beamt:Innen bestens mit Wasser, Softdrinks und Speisen versorgt waren, einen Sanitärtransporter gestellt bekamen und sogar Wasser um die Hände zu reinigen, verwehrten sie den eingekesselten Menschen Getränke, Speisen und zu später Stunde warme Kleidung und Decken und stellten sie durch das grelle Licht und das immer wiederkehrende Eindringen in den Kessel, unter Schlafentzug, Schlafentzug wird unter manchen Umständen als Folter gewertet. Gänge zu zivilisierten Toiletten waren nur möglich bei gleichzeitiger Zustimmung zu einer ED Behandlung. Nur der Intervention von Sanitäter:Innen die auch wiederum nur nach hartnäckigem Betteln zu den eingeschlossenen Personen vorgelassen wurden, war es zu verdanken, dass diese Menschen mit dem allernötigsten versorgt wurden. Alles ist durch zahlreiche Aussagen und Zeugen belegbar.

Da zu dem Zeitpunkt kein anderes Wasser zu den Gefangenen durchgelassen wurde, verteilten die Sanitäter auch das Tankwagenwasser, welches nur in abgekochtem Zustand verzehrt werden sollte. Durch Ihre Beamten niedergeknüppelte Personen durften nicht sofort von Sanitätern versorgt werden.

Alle späteren gewaltsamen, sexualisierten und demütigenden Maßnahmen den Kessel betreffend waren hatten keine Verhältnismäßigkeit und keinen Bezug, zu den vorgeworfenen “Straftaten” sondern dienten einzig und allein der Einschüchterung.

In Anbetracht und rückblickend auf die Ereignisse macht Ihr Interview in der Leipziger Volkszeitung nun auch Sinn: „Das lässt sich nicht mit Mitteln der Deeskalation verhindern“! Sie haben sich selbst demaskiert. Gewalt von Seiten der Polizei war von vornherein gewünscht und geplant, sollte es keinen Anlass geben, so würde man einen schaffen.

Wir finden, Herr Demmler, es ist Zeit, den Polizeihut in eine Hutschachtel mit reichlich Mottenpapier auf dem Schlafzimmerschrank ruhen zu lassen.

Bitte, treten Sie zurück.

***

Einen Offenen Brief bekam auch Oberbürgermeister Burkhard Jung. Unterschrieben von mehreren Organisationen, Akteuren und Initiativen, die sich in Leipzig für Demokratie und Demonstrationsfreiheit einsetzen, welche in Leipzig am sogenannten Tag X mit massivem Polizeiaufgebot deutlich eingeschränkt wurde.

Der Offene Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Burkhard Jung

Sehr geehrter Herr Jung,

wir blicken auf eine verstörende Woche zurück. Eine Woche, in der Grundrechte in der Stadt, in der wir leben und politisch wirken, suspendiert wurden. Als Einwohner*innen dieser Stadt wurde uns unser Recht auf Versammlungsfreiheit und unser Recht auf freie Meinungsäußerung genommen. Innenministerium, Polizei und Landesamt für Verfassungsschutz haben ein massives Bedrohungsszenario konstruiert und die Stadtverwaltung hat willfährig unsere Freiheit geopfert. Zuerst mit einer Allgemeinverfügung, die pauschal allen das Demonstrieren faktisch untersagte, die am Samstag gegen Neonazismus, rechte Bedrohung und in Solidarität mit der antifaschistischen Bewegung auf die Straße gehen wollten. Folgend wurden Versammlungen konkret untersagt, sowohl am 3. als auch am 4. Juni 2023.

Der Tiefpunkt war sicherlich die behördliche Verhinderung der Demonstration am Alexis-Schumann-Platz. Die Untersagung einer Demonstration, die sich laut Motto einfach nur für die Versammlungsfreiheit einsetzt, in der selbsternannten Stadt der Friedlichen Revolution: Das ist nicht nur symbolisch eine Bankrotterklärung – sondern eine Schande, die am Ende von 1.000 Personen in einem fast elfstündigen Kessel ausgebadet werden musste. Die Wahrung und Sicherung der Grundrechte wurde schlichtweg ausgesetzt, was einem wesentlichen Merkmal einer funktionierenden Demokratie innerhalb eines Rechtsstaates widerspricht.

Wir sind empört, dass die Stadtspitze dies tat, ohne dabei irgendwelche Zweifel oder Skrupel zu zeigen. Sie ignorierte damit den offensichtlichen Wunsch vieler Tausender (vor allem Leipziger*innen), sich öffentlich zu antifaschistischer Politik und zu dem am 31.5.2023 in Dresden gesprochenen Urteil gegen vier Antifaschist*innen zu äußern.

Wir sind wütend darüber, dass über 1000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen – ohne WC, Verpflegung und Kälteschutz – elf Stunden und über Nacht in einem Polizeikessel auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. Unter den Betroffenen waren auch zahlreiche Minderjährige, von denen mindestens einige nicht mal ihre Eltern sehen durften. Die Menschen im Kessel und drum herum wurden von Polizist*innen beleidigt und teilweise tätlich angegriffen, psychische und physische Folgen nahm die Polizei bewusst in Kauf. Wie zum Hohn forderte die Polizei per Lautsprecherwagen alle Anwesenden auf, politische Meinungsäußerungen zu unterlassen. In was für einem Land und in welcher Stadt leben wir mittlerweile, dass die Meinungsäußerung verboten und mit Repression beantwortet wird?

Nicht unerwähnt lassen wollen wir die Tatsache, dass der von der Stadt verhangene, tagelange Ausnahmezustand in großen Teilen der Stadt direkt Menschen in ihrem Alltag betroffen hat – während gleichzeitig die Bürger*innen in der Innenstadt ein “Stadtfest” feiern sollten. In dieser dystopischen Gleichzeitigkeit war vor allem der Süden Leipzigs am Wochenende von Polizei belagert, die jede und jeden ins Visier nahm und vorverurteilte, der oder die irgendwie links oder alternativ aussah. Zahlreiche Menschen mussten sich unwürdigen Kontrollen und Durchsuchungen unterziehen lassen.

Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut. Eine so weit reichende Aussetzung dient nicht der Deeskalation. Gerade kritische oder unliebsame Meinungen müssen dieses Grundrecht wahrnehmen dürfen.

Vor allem steht es der Stadt Leipzig, die sich so gern als Bürger*innenstadt und mit der Tradition von Bürger*innenrechten schmückt, nicht gut zu Gesicht, demokratische Meinungskundgaben zu unterbinden. Wir fragen uns sorgenvoll: Will sich die politische Spitze der Stadt Leipzig nun vollends dem sächsischen Konformitätsdruck, wie er aus dem Innenministerium kommt, beugen? Wer Demonstrationen mit Verboten begegnet, wirft plötzlich einen ganz ähnlichen Schatten wie jene Demokratieverächter (a lá Orbán), die man in der Stadt Leipzig so gern kritisiert – während dabei regelmäßig die Erinnerung an 1989 aktiviert wird.

Wir appellieren an die Stadtspitze, das Vorgehen am letzten Wochenende kritisch zu reflektieren, uns als gleichwertigen Teil dieser Stadt wahr- und ernstzunehmen und auf Pauschalisierungen und Kriminalisierung des so wichtigen antifaschistischen Engagements zu verzichten!

Erstunterzeichner*innen:

Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.

Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz

Kritische Jurist*innen Leipzig

Omas gegen Rechts

Eltern gegen Polizeigewalt

say it loud e.V.

linXXnet

Fridays for Future Leipzig

Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation (GG/BO)

Alternative Wohngenossenschaft Connewitz eG

VVN-BdA Leipig e.V.

Space Leipzig

Best Day e.V.

Lisa Falkowski (Vorstand BUND Regionalgruppe Leipzig)

Boris Frentzel (Demobeobachter des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Leipzig)

Christian Keil, Gewerkschaftssekretär

Gesine Oltmanns

Kanwal Sethi, Kulturschaffender

Leipzig, 09. Juni 2023

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Es gibt 5 Kommentare

Mißverständnis, lieber User “Kaisen”, “unverhältnismäßiges Vorgehen von Behörden und Polizei”, wie Sie schreiben, ist vermutlich viel zu gelinde ausgedrückt. Aber nach allem, was ich, der ich nicht am 3.6. auf der Karl-Liebknecht-Straße dabeiwar, mir dazu angelesen habe, war es Vorsatz der Polizei mit Einheiten aus insgesamt 11 Bundesländern, während des Ausnahmezustandes (oder wie das offiziellerweise auch immer hieß) ein Exempel zu statuieren. Mit der Demo, die J. Kasek und ein paar andere anzumelden die Kühnheit hatten, mit einem, wie ich las, viel zu kleinem Lautsprecher, hat man dem Vorsatz in die Hände gespielt.

Schön, wie hier mal wieder von geneigter Seite das wiederholt(!) unverhältnismäßige Vorgehen von Behörden und Polizei relativiert wird und natürlich alle Demonstrationswiligen mit einigen Steinewerfern in einen Topf geworfen werden. Da kann man verbriefte Grundrechte schonmal grundsätzlich außer Kraft stellen und ganze Stadtteile in den Ausnahmezustand versetzen. Ich verweise passend zum Thema Polizeigewalt hierhin:

https://www.l-iz.de/leben/faelle-unfaelle/2023/06/grafik-der-woche-polizeigewalt-12000-faelle-538564

Wir haben es offensichtlich mit einem systemischen Problem zu tun, für das es Ursachen und Gründe gibt.

Laut einem LVZ Interview war Herrn Kasek doch ungefähr klar, dass seine Versammlung auch als Ersatz für die verbotene Veranstaltung dienen würde:
“Ich bin sicher, dass es den 3000 am Samstag eingesetzten Polizeikräften möglich gewesen wäre, die maximal 30 Prozent Störer aus der Menge von rund 2000 Menschen bei der Demo zielgerichtet herauszuholen.”
Wenn ich mir überlege, was ich tun würde, wenn ich eigentlich eine” ganz andere” Demo angemeldet hätte und zusehen muss, wie an dem Wochenende wo ich die abhalten möchte Dinge sich zuspitzen, dann würde ich das doch sicher nicht durchziehen und darauf bestehen, dass Versammlungsfreiheit höher zu wichten wäre und es ja gar nichts mit Lina und so weiter zu tun hätte. Ich würde das alles einfach eine Woche später veranstalten und gut.

Und meine persönlichen Highlights aus den zwei Briefchen:
– Bürger*innenstadt
– Bürger*innenrechte
Die wollen echt überhaupt nicht ernst genommen werden. Null. Die Stadt schmückt sich garantiert nicht damit, wie behauptet…

Jeder weiß doch mittlerweile, wie “Demos” in solchen Konstellationen enden. Wer da seinem minderjährigem Kind nicht mindestens von der Teilnahme dringend abrät, der sollte sich eher Gedanken über seine elterlichen Pflichten machen, statt auf andere zu zeigen.

Was ich immer wieder im Nachgang solcher eskalierter “Demos” vermisse, ist die Distanzierung von der ausgeübten Gewalt aus den eigenen Reihen und den entsprechenden Teilnehmern. Statt dessen kommen schon fast reflexartig immer wieder Vorwürfe, die Polizei wäre ja an allem Schuld. Mir wäre neu, dass die Polizei Demoteilnehmer zum Wurf von Pflastersteinen und Co auf sie auffordern würde.
Die eigene Mitschuld sieht man nie.

Herr Kasek hätte wissen können und müssen, dass seine Demo vom “erlebnisorientierten Teil” als Ersatzveranstaltung für den untersagten “Tag X ” missbraucht/unterlaufen werden wird. Dafür ist er in dem “Geschäft” zu lange aktiv, um auf unwissend/naiv zu machen.

Man wirft der Stadt/Polizei Provokation vor, man könnte allerdings auch in der Gesamtschau die Demo-Anmeldung als Provokation deuten.

Ungeachtet dessen, sollte den Vorwürfen nach Polizeigewalt/sexueller Gewalt natürlich unbedingt nachgegangen und diese aufgeklärt und sofern bestätigt auch geahndet werden.

Besonders interessant ist die Stelle mit den eingeschleusten taktischen Provokateuren. Wenn Eltern das anscheinend schon vorab wußten, wieso hat sich das nicht bis zu Jürgen Kasek als Anmelder rumgesprochen? Damit bestand eigentlich doch die Gewähr, daß es böse ausgeht!?

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