Wenn Innenminister und Polizeipräsidenten merken, dass ihre Aussagen zu einem Ereignis wie der eingekesselten Demonstration zum „Tag X“ am 3. Juni in Leipzig nicht glaubwürdig klingen, dann fangen sie an, Dinge wie das Auszählen einer Menschenmenge zum unlösbaren Problem aufzubauschen. Das Einkesseln der über 1.000 Demonstrierenden auf dem Alexis-Schumann-Platz ging schnell. Aber dann bekam es die Einsatzleitung nicht hin, die eingekesselten Menschen zu zählen.

Was dann auch all die logistischen Probleme zur Folge hatte, die dann zu beobachten waren: Er gab keine Verpflegung für die Eingekesselten, nicht einmal die Trinkwasserversorgung klappte. Die medizinische Versorgung war genauso wenig gesichert wie die Bereitstellung von Toiletten. Und das alles über zehn Stunden lang, welche die Polizei brauchte, die Identitäten der Eingekesselten aufzunehmen.

Zahl der Identitätsfeststellungen steigt auf 1.323

Bislang stand die Zahl von 1.000 eingekesselten Menschen im Raum. Eine Landtagsanfrage – eigentlich eine Nachfrage zu einer schon spärlich beantworteten Anfrage – durch die Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Die Linke) brachte nun zutage, dass mittlerweile feststeht, dass zu 1.323 Personen die Identitäten festgestellt wurden. Und gegen 1.321 von ihnen bestehe jetzt, wie das Innenministerium mittelt „de Anfangsverdacht des schweren Landfriedensbruchs“. Nur die zwei erfassten Kinder werden nicht weiter verfolgt.

Die Antwort an Juliane Nagel (Die Linke) aus dem Juli.

Für den Stand 24. Juni hatte das Innenministerium noch von rund 1.000 Personen gesprochen. Dies jetzigen sind die aktualisierten Zahlen vom 24. Juli, die erst recht deutlich machen, wie unglaubwürdig die Versuche der Polizei sind zu erklären, warum man an diesem 3. Juni die eingekesselten Menschen nicht zählen konnte. Nur zur Erinnerung: Kurz nach 18 Uhr stürmten die Polizeieinheiten den Platz und kesselten die Menschen auf dem Alexis-Schumann-Platz ein.

Da war es noch hell.

Das Licht, die Bäume, die Dynamik …

In der Antwort vom 28. Juli an Juliane Nagel holte das Sächsische Innenministerium dann ganz weit aus, um zu erklären, warum es der Polizei partout nicht möglich war, die eingekesselten Menschen auf dem Platz zu zählen.

„Die Notwendigkeit der Erhebung von Personenzahlen in Menschenmengen ergibt sich für die Polizei grundsätzlich aus einsatztaktischen Erwägungen oder, wie im vorliegenden Fall, im Zusammenhang mit der Verfolgung von Straftaten. Bei Lagen, die durch unterschiedliche Faktoren der Örtlichkeit/Umgebung (z. B. Licht- und Sichtverhältnisse), der Zusammensetzung der Menschenmenge sowie dynamischer Geschehensabläufe beeinflusst werden, handelt es sich immer um Schätzungen. Hierbei lassen sich mögliche Fehlerquellen nicht in jedem Fall ausschließen“, schreibt das Innenministerium tatsächlich als Erklärung.

„Zu dem fragegegenständlichen Sachverhalt stellte sich die Schätzung der Personenzahl als herausfordernd dar. Aus diesem Grund setzte die Polizei frühzeitig einen Hubschrauber ein. Es stellte sich jedoch heraus, dass insbesondere aufgrund des Baum- und Buschbewuchses eine ungehinderte Übersichtsbildübertragung aus der Luft nicht erzielt werden konnte. Eine hinreichend genaue Schätzung der Personenzahl war somit weder vom Boden noch aus der Luft möglich“, behauptet das Innenministerium.

Und bringt dann gleich noch mehr Ausreden, warum das Zählen für die Polizei eine derart schwere Aufgabe ist: „Dynamischen Einsatzlagen ist es grundsätzlich immanent, die polizeilich relevante Lage ständig neu zu bewerten und das Einsatzkonzept entsprechend anzupassen. In der konkreten Situation hat die Polizei im Zuge der Einsatzmaßnahmen vor Ort die Anzahl der von den Maßnahmen betroffenen Personen fortwährend neu bewertet und vor dem Hintergrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen ihr taktisches Konzept für die Realisierung der strafprozessualen Maßnahmen entsprechend angepasst.

Im Zuge dessen wurde aufgrund der bewerteten Gefährdungslage von etwaigen Durchzählungen innerhalb der Umschließung abgesehen. Hierfür bestand nach Einschätzung der Polizei vor Ort ein zu hohes Aggressionspotenzial der Menschenmenge.“

Delikte konzentrieren sich auf frühen Zeitpunkt

Dass das so nicht stimmen kann, macht eine Aussage deutlich, die der Landtagsabgeordnete Valentin Lippmann (Grüne) am 5. Juli bekam. Die lautet nämlich: „Die benannten Delikte wurden für den Zeitraum am 3. Juni 2023 ab 16:30 Uhr bis zur Beendigung der in Rede stehenden Versammlung kurz nach 18:00 Uhr sowie im unmittelbaren Anschluss daran registriert. Die Polizei ermittelt gegenwärtig gesamtheitlich zu den benannten Straftatbeständen. Die Ermittlungen stehen insbesondere im Zusammenhang mit den Angriffen auf Einsatzkräfte sowie Einsatzfahrzeuge der Polizei aus der Menschenmenge heraus durch Bewurf mit Gegenständen und Pyrotechnik.“

Die Antwort an Valentin Lippmann (Grüne) zum 3. Juni.

Das heißt, die bis kurz nach 18 Uhr registrierten Vorfälle nahm die Polizei zum Anlass, den Kessel einfach über zehn Stunden aufrechtzuerhalten. Es kann sichtlich keine Rede davon sein, dass die Polizei vor dem „Hintergrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen ihr taktisches Konzept für die Realisierung der strafprozessualen Maßnahmen entsprechend angepasst“ hätte.

Womit sich jetzt viele der Demonstrationsteilnehmer verdachtsweise konfrontiert sehen, die friedlich demonstriert haben und sich unverschuldet im Kessel wiederfanden, listet der Innenminister in der Antwort an Valentin Lippmann so auf: „Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs, — Mord (Versuch), — Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, — Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, – Gefährliche Körperverletzung, — Sachbeschädigung, — Beleidigung, — Hausfriedensbruch sowie — Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz und gegen das Betäubungsmittelgesetz.“

Was wirklich dahinter steckt, klingt dann schon wesentlich anders: „Die Ermittlungen stehen insbesondere im Zusammenhang mit den Angriffen auf Einsatzkräfte sowie Einsatzfahrzeuge der Polizei aus der Menschenmenge heraus durch Bewurf mit Gegenständen und Pyrotechnik.“

Versuch, mit dem Schleppnetz einzelne Täter zu fangen

Dieses Schmeißen von Steinen, Flaschen und Pyrotechnik einer kleinen Gruppe, die von Beobachtern auf maximal 200 Personen geschätzt wird, war der Auslöser des polizeilichen Zugriffs kurz nach 18 Uhr. Normalerweise muss die Polizei diese Angriffe konkreten Personen zuweisen. Tatsächlich Haftbefehle ausgestellt wurden aber nur gegen fünf Personen, wie Lippmann am 5. Juli erfuhr.

Er erfuhr freilich auch, dass nicht einmal die lange Dauer der Identitätsfeststellungen die Polizeieinsatzleitung dazu brachte, ihre Zahlen zu den Eingekesselten zu korrigieren und die entsprechenden Versorgungsmaßnahmen abzusichern. „Die Anordnung der Maßnahmen zur Identitätsfeststellung erfolgte am 3. Juni 2023, 18:45 Uhr. Die Abarbeitung der einzelnen Identitätsfeststellungen erfolgte sukzessive bis in die frühen Morgenstunden des 4. Juni 2023. Kurz nach 5:00 Uhr stellten die Bearbeitungstrupps die letzte Identität fest.“

Gleichzeitig kassierte die Polizei über 380 Handys von den Demonstrationsteilnehmern ein. Ganz augenscheinlich schon mit der Absicht, damit möglicherweise den tatsächlichen Gewalttätern auf die Spur zu kommen. Aber bislang scheint das zu keinem Ergebnis zu führen. Wie der MDR am 29. Juli meldete, sollen die Betroffenen nun endlich ihre Handys zurückbekommen.

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