Migration ist eines der zentralen Themen im Bundestagswahlkampf und wird für die nächste Bundesregierung hohe Priorität haben. Dabei geht es nicht nur grundsätzlich darum, eine offene Gesellschaft zu sein und zu bewahren, sondern auch um die Integration von ausländischen Mitmenschen und Fachkräften. Ohne deutlich mehr Arbeitskräfte wird die wirtschaftliche Transformation scheitern und viele Unternehmen werden insolvent gehen, stellt jetzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin fest. Und macht damit deutlich, wie falsch die Migrationsdebatte im Bundestagswahlkampf derzeit geführt wird.

Die neue Bundesregierung sollte sich deshalb das Ziel setzen, in den nächsten vier Jahren mindestens 1,6 Millionen ausländische Menschen in gute Arbeit zu bringen, schreiben Sabine Zinn und Marcel Fratzscher. Nur so könne die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität in Deutschland gesichert werden.

Damit dies gelingt, muss Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiver werden, die Integration bereits hier lebender Schutzsuchender in den deutschen Arbeitsmarkt besser gelingen und ein Narrativ geschaffen werden, das Migration nicht als Bedrohung darstellt, sondern als Chance – auch im ökonomischen Sinne.

Und das Problem fängt nicht erst mit dem rabiaten Fünf-Punkte-Plan von CDU-Chef Friedrich Merz an. Schon die Ampel-Bundesregierung ist in den letzten beiden Jahren in der Migrations- und Integrationspolitik einen gefährlichen Schlingerkurs gefahren, stellt das DIW fest. Sie hat mehr Abschiebungen sowie Restriktionen für die Zuwanderung angekündigt und plant Kürzungen in den Bereichen der Migrationsberatung für Erwachsene und in der psychosozialen Versorgung. Dabei hat sie in den Jahren 2022 und 2023 noch zusätzliche Mittel bereitgestellt, um Integrationskosten zu decken.

Erst am 29. Januar 2025 hat der Deutsche Bundestag einen Antrag der Unionsfraktion zur Verschärfung der Migrationspolitik in Form eines sogenannten „Fünf-Punkte-Plans“ verabschiedet. Die erforderliche Mehrheit kam durch die Unterstützung der AfD zustande. Ziel des Plans ist es, die „illegale“ Migration nach Deutschland weiter einzudämmen und die innere Sicherheit zu stärken. Diese Entscheidung wurde jedoch getroffen, obwohl empirische Daten zeigen, dass die Zahl der illegalen Einreisen bereits rückläufig ist.

Zudem lassen sich Gewalt- und andere Straftaten nicht vorrangig auf illegale Migrant/-innen oder ausreisepflichtige Personen zurückführen, so das DIW. Vielmehr sind sozioökonomische Faktoren, wie Armut und fehlende gesellschaftliche Teilhabe, entscheidende Ursachen für Kriminalität – unabhängig von der Herkunft oder dem Aufenthaltsstatus.

Ohne Zuwanderung kein Wirtschaftsboom

Aber CDU und AfD wollen noch weiter gehen: Die AfD fordert eine Remigration, bei der nicht nur die Zuwanderung gestoppt, sondern viele Menschen mit und ohne deutschen Pass zur Ausreise gezwungen werden sollen. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat jüngst die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft gefordert und will die Reform der Staatsbürgerschaft der Ampel-Bundesregierung – durch die die Einbürgerung beschleunigt und die Hürden für eine duale Staatsbürgerschaft abgebaut werden – rückgängig machen.

Dabei ist Tatsache, dass Deutschland auf die aktive Beteiligung seiner Bürger/-innen mit Migrationshintergrund sowie auf gelungene Integration und Zuwanderung angewiesen ist, um das Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft wieder auf einem moderaten Niveau von knapp einem Prozent zu stabilisieren.

Auch beispielsweise der Wirtschaftsboom der 2010er Jahre wäre ohne Zuwanderung von innerhalb und außerhalb Europas nicht möglich gewesen. Ohne diese Zuwanderung gäbe es heute keinen Höchststand von 46,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland, sondern seit vielen Jahren bereits schrumpfende Beschäftigtenzahlen. Mehr als 80 Prozent des Beschäftigungsaufbaus der letzten fünf Jahre geht auf ausländische Arbeitskräfte zurück – viele davon sind selbstständig, was wichtige Impulse für wirtschaftliche Innovationen gibt.

Seit 2023 wird der Aufbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sogar ausschließlich von Ausländer/-innen getragen. Vor allem in kritischen Jobs der Daseinsvorsorge, wie in der Pflege und im Gesundheitsbereich, wären viele Leistungen ohne die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte heute nicht möglich.

Der eigene Nachwuchs fehlt

Ohne Migration droht ein Schrumpfen der Bevölkerung, das nicht nur die wirtschaftliche Aktivität, sondern auch die Stabilität vieler Branchen und die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen gefährden würde, stellt das DIW fest.

Begleitet wird dieses demografische Problem von einem akuten Arbeitskräftemangel. Es gibt derzeit knapp 1,7 Millionen offene Jobs. Viele Branchen wie das Gesundheitswesen, Ingenieurwesen, die IT-Branche und die Fertigungsindustrie leiden unter Fachkräftemangel. Besonders das deutsche Gesundheitssystem ist zunehmend auf ausländische Ärzt/-innen, Pflegekräfte und Betreuer/-innen angewiesen, um den steigenden Bedarf einer alternden Bevölkerung zu decken. Gleichzeitig fehlen Arbeitskräfte für essenzielle, aber weniger spezialisierte Tätigkeiten wie in der Landwirtschaft, der Logistik oder im Bauwesen, die oft von Migrant/-innen übernommen werden.

In den nächsten zehn Jahren werden schätzungsweise fünf Millionen Babyboomer mehr in Rente gehen als junge Menschen die Erwerbstätigkeit erreichen. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass Deutschland über das nächste Jahrzehnt eine Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften aus dem Ausland pro Jahr benötigt, um diese Arbeitskräftelücke halbwegs schließen zu können.

Ein gängiger Irrglaube – so das DIW – ist, nur Hochqualifizierte seien wirtschaftlich und finanziell „lohnenswerte“ Arbeitskräfte für Deutschland. Dies ist grundfalsch und ein Schlag ins Gesicht für jeden deutschen Beschäftigten, der hart für mittlere oder geringe Löhne arbeitet. Gerade in vielen systemrelevanten Berufen der Grundversorgung arbeiten Menschen mit Einwanderungsgeschichte und sichern die Daseinsvorsorge. Fakt ist: Jeder berufstätige Mensch trägt seinen Teil zum Unternehmen und zur Gesellschaft bei, unabhängig von der Höhe des Stundenlohns.

Diese immense Lücke bei den Arbeitskräften wird nicht allein durch die Mobilisierung bereits in Deutschland lebender Menschen gefüllt werden können. Bereits heute zählt für deutsche Unternehmen der Mangel an Arbeitskräften zu den wichtigsten Problemen, neben einer schwachen Nachfrage und überbordender Bürokratie und Regulierung.

Reformvorschläge

Wenn die neue Bundesregierung das massive Arbeitskräfteproblem adressieren will, muss sie als oberste Priorität die vielen Hürden für die Erwerbstätigkeit von ausländischen Mitmenschen abbauen, betont das DIW. Es bestehe ein breiter Konsens, dass die Hürden für die Erwerbstätigkeit vor allem von Geflüchteten in Deutschland nach wie vor hoch sind. Diese Hürden müssen dringend abgebaut werden. Dazu gehören mehr Schnelligkeit und Flexibilität bei der Anerkennung von Qualifikationen. Denn vielen Menschen aus dem Ausland und auch der deutschen Wirtschaft ist nicht geholfen, wenn ausländische Arbeitskräfte nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten können, sondern gezwungen werden, in anderen Bereichen tätig zu werden, für die sie keine oder weniger gute Qualifikationen haben.

Weiterer Reformbedarf besteht in einer besseren Unterstützung der vielen Unternehmen, die ausländische Mitmenschen ausbilden und beschäftigen.

Ein dritter Bereich für Reformen sind die staatlichen Institutionen selbst. Komplexe und langwierige Verfahren behindern Migration und die Integration von Migrant/-innen. Eine nachhaltige Politik setzt auf die Digitalisierung und Vereinfachung von Prozessen, insbesondere bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen und bei Visa-Anträgen. Effizientere Verfahren sparen Kosten, entlasten Behörden und fördern die schnelle Integration in den Arbeitsmarkt. Zudem zeigen DIW-Studien, dass Restriktionen wie Wohnsitzauflagen kontraproduktiv sein können und eine höhere Erwerbsquote womöglich verhindern.

Der vierte Bereich betrifft die Gesellschaft als Ganzes. Migration sollte nicht als Bedrohung, sondern als Chance dargestellt werden, betont das DIW. Ein Narrativ der politischen Akteure, das Migrant/-innen und Einheimische als Partner bei der Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft sieht, kann Polarisierung abbauen. Die gemeinsamen Werte und Vorteile, die durch Migration entstehen, sollten betont werden.

Zudem sollte Deutschland in der EU eine Führungsrolle übernehmen, um eine gerechte Verteilung von Geflüchteten sicherzustellen. Solidarität unter den Mitgliedstaaten und die Entwicklung eines effizienten europäischen Asylsystems sind entscheidend, um Geflüchteten faire und nachhaltige Perspektiven zu bieten. Dies stärkt die gesamte EU und fördert ein solidarisches Miteinander.

Eine ehrliche Debatte

Es gibt kaum eine Debatte, die so emotional und ideologisch aufgeladen ist wie die um Migration und Identität. Zur Ehrlichkeit gehört das Eingeständnis, dass die allermeisten der heute 3,5 Millionen schutzsuchenden Menschen in Deutschland auch langfristig in unserem Land bleiben werden, stellt das DIW fest. Genauso sollten wir anerkennen, dass Deutschland einen erheblichen Teil seines wirtschaftlichen Wohlstands und seiner Wettbewerbsfähigkeit verlieren wird, wenn die Arbeitskräftelücke in Deutschland nicht geschlossen werden kann.

Zudem sollte die Politik in Zukunft wieder mehr Rechenschaft für ihr Handeln ablegen. Anstelle warmer Worte sollte die nächste Bundesregierung sich konkret verpflichten, während ihrer Regierungszeit bis 2029 mindestens 1,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte – dies sind 400.000 Beschäftigte netto pro Jahr, die auch von der Bundesagentur für Arbeit (BA) als notwendig angesehen werden – erfolgreich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies wäre einer der größten und effektivsten Beiträge für die deutsche Wirtschaft, den die neue Bundesregierung leisten könnte. Und es ist ein realistisches Ziel.

Das Märchen vom starken „Pull-Faktor“

Zwei abschließende Anmerkungen finden die DIW-Autoren wichtig, um Kritikpunkte auszuräumen: Zum einen wird gerne kolportiert, ein Abbau von Migrationshürden und eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt stellten einen starken „Pull-Faktor“ dar und würden Deutschland als Zielland für geringer qualifizierte Zuwanderung noch attraktiver machen. Wissenschaftliche Studien unterstützen dies laut einer Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags jedoch nicht.

Eine Fortsetzung oder weitere Erhöhung der Hürden für eine erfolgreiche Integration dürfte den gegenwärtigen Status quo eher noch stärker zementieren: Vor allem relativ geringer qualifizierte Geflüchtete werden weiterhin nach Deutschland kommen, um hier entsprechend den EU-Asylbestimmungen Schutz zu suchen. Hochqualifizierte Fachkräfte dagegen werden einen großen Bogen um Deutschland machen und in andere, attraktivere Länder gehen.

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Balance zwischen „Fördern und Fordern“: Schutzsuchende erhalten in Deutschland Leistungen, die ihre Grundbedürfnisse sichern und ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Damit erfüllt Deutschland seine Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention, die grundlegenden Schutz und Rechte für Flüchtlinge garantiert.

Anstatt über Leistungskürzungen zu debattieren, sollte der Fokus stärker auf Fördermaßnahmen liegen. Die Integrationserfolge der letzten Jahrzehnte belegen, dass eine hohe Beschäftigungsquote und eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft möglich sind, wenn den Schutzsuchenden Chancen eröffnet werden, statt ihnen Steine in den Weg zu legen.

Den kompletten Beitrag des DIW findet man hier.

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