Manchmal muss man auch bei Gedichtbänden auf das Erscheinungsjahr achten. „A Terceira Miséria“ erschien 2012 in Lissabon. Das war gerade einmal vier Jahre nach der Finanzkrise, die ja auch Europa in die Staatsschuldenkrise stürzte. Doch während sich Deutschland ab 2010 aus der Krise herausarbeiten konnte, wurde kein anderes europäisches Land so zum Symbol lähmender Schuldenpolitik wie Griechenland. Und der Verachtung des Westens, der in diesem Fall der Norden war.

Dabei stand dem Land das Schlimmste noch bevor. Aber auch die große Hoffnung mit dem Wahlsieg der SYRIZA 2015, der freilich am Ende die ganze Machtlosigkeit einer linken griechischen Regierung zeigte, die sich den harten Auflagen der sogenannten Troika beugen musste und genau jene radikalen Schnitte im Sozialsystem vornehmen musste, die sie eigentlich verhindern wollte.Hätte die portugiesische Dichterin Hélia Correia diesen Gedichtzyklus fünf Jahre später geschrieben, wäre er wohl noch bitterer ausgefallen. Noch enttäuschter darüber, was wir aus der stolzen Idee der griechischen Polis gemacht haben. Oder haben machen lassen. Denn dass Märkte, Banken und Insolvenzverwalter darüber bestimmen, wie mit Völkern und Menschen umgegangen wird, ist mehr als eine Verirrung, sondern ein Elend.

Das dritte Elend, wie es die Dichterin im 23. Gedicht des Zyklus’ benennt: „Das dritte Elend ist dieses von heute. / Das derer, die nicht mehr hören, nicht fragen, / Derer, die nicht erinnern. Und anders als / Der stolze Perikles, zu Beliebigen / Unter Beliebigen werden…“

Wer jetzt ins Grübeln kommt, wer denn nun Perikles war, der hat möglicherweise die ganze stolze griechische Geschichte im Schulunterricht verpasst. Gut möglich, dass sie dort auch gar nicht mehr so behandelt wird, wie sie einst an humanistischen Gymnasien behandelt wurde, als die Klassiker von Homer bis Cicero auch noch zum Unterrichtsstoff gehörten.

Auch so könnte man sagen: Gerade wir, die wir uns rühmen, die stolze Idee der Demokratie von den Griechen übernommen zu haben, gehen lumpig damit um, haben sie den Krämern und Schwarzen Nullen überlassen, denen die Schicksale der Völker völlig egal sind.

Und dabei klingt, was Correia geschrieben hat, gar nicht trotzig, eher erstaunlich vertraut. Zumindest, wenn man den Klang der griechischen Dichtung im Ohr hat. Was in Deutschland schon deshalb viel leichter ist, weil die griechische Verskunst – Correia erwähnt insbesondere Euripides – einst das große Vorbild für unsere besten Dichter war.

Oh ja, Griechenland hat die Deutschen einmal fasziniert. Und keiner hat das so klassisch in Verse gesetzt wie Friedrich Hölderlin, den Correia geradezu als Zeugen aufruft für das Elend des Westens, wie er da – schon längst abgesondert von der Welt – die Schönheit besang in einer von Göttern entblößten Welt. „Denn ohne Götter, ohne das Gefühl / Auch nur ihrer Abwesenheit, sind wir geboren / Und unfähig, uns zu erinnern …“

Wer sich aber nicht erinnert, hat keine Geschichte, der lebt ohne Bezug in der Welt, ohne Ideal der Schönheit – folglich in einer Dürftigkeit, die vielleicht wirklich nur die Dichter spüren. Vielleicht auch nicht nur sie, denn wir begegnen ihnen ja überall, den Dürftigen, die nicht mal wissen, dass sie bedürftig sind, dass sie nichts wissen.

Schon gar nicht von der Größe dieses stolzen Athens, das uns so reich beschenkt hat – und das die Perser aus dem Norden, die blondgelockten, immer nur schäbig behandelt haben. Schon zu Hölderlins Zeit, als die Griechen um ihre Freiheit kämpften und auch der stolze Byron hinfuhr, um sie in ihrem Befreiungskampf zu unterstützen.

Natürlich erwähnt sie ihn auch, genauso wie sie Friedrich Nietzsche erwähnt, der seine Verzweiflung über die Dürftigkeit seiner Zeit in wuchtige Lyrik goss, die geradezu einlud zum Missverstehen. Und so landeten ja beide Friedriche als Feldausgabe in den Tornistern der deutschen Weltkriegssoldaten. Beide missverstanden und missbraucht für eine dürftige Ideologie, die nichts mehr zu tun hatte mit dem Stolz und der Größe Griechenlands.

Man merkt schon: Griechenland kommt in Correias Versen in doppelter Version vor. Als reales Land und als Idee der Polis, die genauso geschunden und zertreten wird, wenn das Land gemartert wird. Im Spiegel sehen darf sich: der Westen. „Auf unseren Schultern lasten / Die Werkzeuge der Zerstörer, / Schießpulver nicht, nein: die Überheblichkeit, / In die sich der Westen verrannt hat.“

Genau die Überheblichkeit, die sich dann in Schuldendiktaten und Belehrung austobt. Wer nicht gegenhalten kann mit Geld, wird gedemütigt, die Akropolis zum „gedemütigten Ort“. Die „siegreiche Athene, die sich beugt …“ Doch da sie für die Polis steht, klingt das immer mit: wie wir die große Idee der Demokratie verlumpt haben, vergessen haben den „Gebrauch des Worts, des brodelnden / Worts, das der Demokratie eigen ist, / Das alles verändert und alles beleuchtet …“

Es war dieses Griechenland mit seiner Agora, das Europa erleuchtete und Zuversicht schuf, den Menschen eine Vision vom Möglichen zeigte. Aber dann haben wir all das den Krämern, Geizigen und Knausern überlassen, den Leuten, die Geld mit Leistung verwechseln und Arroganz mit Gerechtigkeit. Natürlich sind das jetzt meine eigenen Worte.

Correiras Wut ist eine andere Wut, eine lyrische, die ganz anders lodert, wenn sie genauso wie Hölderlin zu griechischen Versmaßen greift: ein Hymnus auf die geschändete Polis, die Machtlose, was die Machtlosen nur zu leicht vergessen. Immer wieder wählen sie Machthungrige in Ämter und Regierungen. Und sind hinterher verwirrt, dass nichts für sie getan wird, gar nichts. Im Gegenteil. Auf jedem Fleckchen Erde steht: „Betreten verboten. Privatbesitz!“ Oder auch: „Du kommst hier nicht rein!“

Oder mit der poetischen Kraft Correias formuliert: „Über welche Waffen verfügen wir, wenn nicht jene, / Die im Körper selbst sind: das Denken / Die Idee der Polis, gerettet / Aus einem riesigen Missbrauch, die Vorstellung / von einem Haus / Und von Gastfreundschaft …“

Gastfreundlich ist dieser Westen schon lange nicht mehr. Und dabei kamen die Flüchtlinge erst drei Jahre später. Auch das gehört in den Verrat der Polis. Wer die Welt nur nach nützlich und faul beurteilt, hat die Idee der Demokratie schon vergessen und verraten, hält sich für was Besseres, einen Auserwählten.

Obwohl er nur ein arroganter Lump ist. Meine Worte. Aber die Wut ist da, nicht nur hier oder in Griechenland, wo man sehr wohl gemerkt hat, wenn man nicht wie Gleichwertige behandelt wird. Auch in Portugal und anderswo in diesem Europa, das einst mit der Idee der Polis gegründet wurde, aber wieder trunken ist von Machtphantasien und Selbstgerechtigkeit, Krämergeist und Bedürftigkeit.

Das „ökonomisch verwaltete Europa“, wie es der Verlag nennt, hat den Völkern ihre Souveränität genommen, den Stolz der gelebten Demokratie, die die Würde des Menschen wahrt. Als Warnung kann man das leben – oder als wütende Rede auf der Agora. Die Rede all jener, die in diesem Elend keine Macht haben.

Nur ihre Stimme und das Wissen um die eigene Schwäche, die nur dann keine Schwäche ist, wenn sie in einer gelebten Demokratie aufgehoben wird. Aber dazu muss man ihr Licht sehen und ihren Glanz und zumindest so eine Ahnung haben, dass die Polis eigentlich für die Schwachen da ist und sie vor den Rücksichtslosen schützen sollte.

Aber wo ist sie geblieben, diese Idee? Eine berechtigte Frage, die Hélia Correia in ihrem Poem stellt. „Wo ist es, / Dein schönes Athen, welches unter den / Menschen Gerechtigkeit kommen sah / Und das freie Wort und darüber hinaus / Sichtbarkeit, öffentliche Bilanzen, / Ein Hochmut unter Gleichen. …“

„Uma altivez de iguais“, kann man auch als „Hochmütigkeit von Gleichen übersetzen“. Oder als Stolz, denn hier geht es um den hohen Mut der Athener gegenüber den Persern, denen sie ins Gesicht sagten, warum sie besser kämpften. Denn wir „kämpfen für uns selbst / Und für unser Land. Kämpfen nicht / Auf Befehl. Weder beugen wir uns, noch / Unterwerfen wir uns den Sterblichen.“

Was ist davon geblieben? Von diesem Stolz? Nicht nur bei den Griechen. Eigentlich wieder Zeit für Gedichte – auf der Agora und in den Köpfen. Eine Erinnerung daran, dass wir mal stolz waren und wussten, wofür die Polis da war, bevor wir sie den Krämern und Befehlsempfängern überlassen haben.

Es ist ein Poem über die eigentliche Idee Europas. Und es wäre ein eigenes Diskussionsforum wert gewesen auf der diesjährigen Buchmesse in Leipzig, auf der Portugal das Gastland gewesen wäre. Die Übersetzung von Michael Kegler lag pünktlich vor. Der Gastauftritt ist ins nächste Jahr verschoben – aus bekannten Gründen. Das Thema bleibt aktuell.

Hélia Correia Das dritte Elend, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2021, 12,95 Euro.

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