Mitteldeutschland ist eine Flusslandschaft. Das merkt man nicht erst, wenn mal wieder ein großes Hochwasserereignis Städte unter Wasser setzt. Dutzende Städte in Mitteldeutschland sind nach den Flüssen benannt, an denen sie liegen – von Chemnitz bis Ilmenau, von Saalfeld bis Elsterwerda. An den drei wichtigsten Flüssen der Region hat Lutz Heydick schon bilderreiche Flussradwanderungen beschrieben. Wäre jetzt nicht die vierte Flusswanderung dran?

Denn dass es inzwischen auch gut ausgeschilderte Flussradwanderwege in Mitteldeutschland gibt, hat er für die Mulde, die Saale und die Unstrut schon sehr eindrucksvoll beschrieben.

Und zwei weitere Dutzend Flüsse hat er ebenso mit Rad und freundlicher Gesellschaft erkundet – stets die Kamera dabei, um die Flusslandschaften bei eindrucksvoller Beleuchtung festzuhalten. Wahrscheinlich besitzt niemand sonst im mitteldeutschen Raum so viele von dramatischen Himmeln dominierte Fotografien hiesiger Flusslandschaften.

Vom Fluss zum kleinen Rinnsal

Aber wenn einer sich so intensiv mit den Flüssen im Land beschäftigt, bekommt er einen Überblick, wie ihn meist nur Hydrologen haben. Oder die Leute, die die Gewässersysteme in große Messtischblätter eintragen und natürlich nur zu genau wissen, wie sich Fluss- und Einzugsgebiete verästeln, regelrecht fraktalisieren, weil die Gewässer, je mehr man zu den Quellen kommt, immer kleiner werden.

Aus Flüssen werden – so umgekehrt gedacht – Flüsschen, aus Flüsschen Bäche, aus Bächen Rinnsale. Und so kommt man allein in Sachsen auf hunderte namhafter Gewässer, von denen Dutzende sich natürlich ebenso anbieten, mit Rad und Kamera bereist zu werden. Sie sind in der Umschlagkarte des Buches alle zu sehen, natürlich auch die Flüsschen in Thüringen und Sachsen-Anhalt, die Heydick in seinem Buch alle streift – von der Werra bis zur Ilse, von der Bode bis zur Weißeritz.

Flüsse wieder gesunden lassen

All diese Flüsse sind nicht nur wegen ihrer Schönheit erlebenswert oder der bizarren Natur. Immerhin sind etliche noch in einem naturnahen Zustand, haben gerade die Gebirgsflüsse nie erlebt, was Tieflandflüssen wie der Elbe, der Saale, der Pleiße und der Weißen Elster angetan wurde in Zeiten, als die Flüsse nur noch als Kloake und billige Entsorger für die Industrieabwässer galten.

Auch das gehört natürlich zu Heydicks Motiven, die Flusswelt Mitteldeutschlands zu befahren: die Erinnerung an die Zeit bis 1989, als auch in Leipzig der Zustand der Flüsse zum Himmel stank und ein wesentliches Moment der Bürgerbewegung der Protest gegen diese systematische Zerstörung unserer Umwelt war – vom Pleißepilgermarsch bis zur Aktion „Eine Mark für Espenhain“.

Als die mitteldeutschen Flüsse aufatmeten

Allein schon das Ende der alten DDR-Chemie-Industrie bedeutete für die mitteldeutschen Flüsse ein Aufatmen. Seit 2002 wird symbolträchtig jedes Jahr in der deutlich sauberer gewordenen Elbe wieder gebadet. Und natürlich beginnt Heydick seinen Ausflug auch mit der Elbe, dem drittgrößten Fluss Deutschlands mit seinem riesigen Einzugsgebiet. Fast alle kleinen und großen Flüsse Mitteldeutschlands fließen in die Elbe. Sie war deshalb auch jahrhundertelang der Zugang zu dieser Region, sicherer Transportweg, auf dem die Kähne der Händler flussauf getreidelt wurden und flussabwärts die Handelsgüter nach Hamburg gingen.

Ein durchaus unsicheres Unterfangen. Denn da der Elbe im Sommer das Wasser aus den vergletscherten Hochgebirgen fehlt, ist sie – anders als Rhein und Donau – im Sommer fast immer ein Schatten ihrer selbst – in den vergangenen Dürrejahren erst recht. Denn in den Flüssen kann nur wieder zum Meer fließen, was auch regelmäßig vom Himmel regnet oder schneit.

Was zumindest für die Elbe schon lange bedeutet, dass der Fluss für moderne Frachtschifffahrt eigentlich nur wenige Monate im Jahr nutzbar ist. Ein Umstand, der nicht verhindert, dass sture Politiker und Lobbyisten immerfort an neuen Großprojekten basteln, den Fluss dennoch ganzjährig verfügbar zu machen mit immer neuen Staustufen.

Wenn Flüsse zu Kanälen werden

Was dann endgültig den Tod der so wichtigen Naturschutzgebiete in der Elbaue nach sich ziehen würde. Dabei leidet die Elbe heute schon unter all den gedankenlos gebauten Eindeichungen, Kanalisierungen und der künstlich erhöhten Fließgeschwindigkeit, verstärkt durch das Ausbleiben der Schwemmsedimente aus dem Oberlauf.

Sie gräbt sich genauso in den Untergrund hinein wie es die Neue Luppe in Leipzig tut. Denn wenn die Sedimente fehlen, hören die Flüsse auch auf, Schwemminseln und lebendige Auen zu bilden. Der Grundwasserstand sinkt. Die Auenwälder vertrocknen.

Natürlich kommen Weiße Elster, Luppe und Neue Luppe ganz zum Schluss auch noch zur Sprache. Man merkt schon, dass Lutz Heydick eigentlich zwei Intensionen verfolgt hat mit seinem Buch.

Die eine war natürlich eine möglichst lebendige Schilderung der großen, raumbeherrschenden Flusssysteme von Saale, Unstrut, Weißer Elster und den drei Mulden. Denn damit zeigt er nicht nur, wie das Netzwerk der Flüsse funktioniert und warum ein paar Extremniederschläge etwa im Erzgebirge genügen, entlang der ganzen Mulden für Alarmstimmung zu sorgen.

Historische Dimension von Flüssen und das Märchen der Lindenstadt

Ähnliche Effekte gibt es an der Unstrut und natürlich an der Weißeritz, die mitten im Dresdner Stadtgebiet eigentlich ihre uralte Mündung in die Elbe hat. Bei Hochwasser „vergisst“ das Flüsschen natürlich einfach, dass die Menschen die Mündung mehrmals verlegt haben. Dann drängen die Wassermassen wieder mitten in die Stadt.

Aber auch Dresden zeigt ja, dass alle wichtigen Städte der Region an den Flüssen entstanden sind, dass der gesamte Landesausbau – auch schon in vorhistorischen Zeiten – über die Flusstäler erfolgte. Flüsse waren Reisewege und Lebensspender, Nahrungsquelle und Garant für fruchtbare Auen.

Und wenn die Märchenerzähler irgendwann einmal aufhören, Leipzig als „Lindenstadt“ zu verkaufen, werden auch die Leipziger erkennen, dass auch ihre Stadt einen auf Flüsse zurückgehenden Namen hat, der die Lage des einstigen slawischen Dorfes direkt am Zusammenfluss von Parthe, Pleiße und Weißer Elster beschreibt – am Schwemmland, Sumpfland, Auenland. Aber das ist jetzt schon ein Abschweif. Der gleichwohl zum Thema gehört.

Zivilisation am Fluss seit über 4.000 Jahren

Denn natürlich ist Heydick wichtig, bei seinen Flussbeschreibungen auch jenen Teil mitteldeutscher Geschichte mit zu erzählen, der für gewöhnlich nicht in den Geschichtsbüchern steht: das Entstehen der urbanen Welt entlang der Flüsse.

Und das wohlgemerkt schon vor über 4.000 Jahren, als sich an der Saale wohl das früheste nachweisbare Reich in dieser Region bildete, über das Harald Meller und Kai Michael gerade wieder in ihrem Buch „Griff nach den Sternen“ schrieben, in dem sie die eindrucksvollen Funde aus der mitteldeutschen Bronzezeit einordnen in die parallelen Entwicklungen im Zweistromland, in der Levante und in Ägypten.

Die Spuren dieser frühen Zivilisation findet man natürlich vor allem in Flussnähe, genauso, wie auch die späteren Siedlungen der Slawen und die befestigten Stützpunkte der deutschen Ostexpansion ab dem 10. Jahrhundert. Flüsse waren jahrtausendelang die Lebensadern der menschlichen Zivilisation.

Flüsse als Wirtschaftsfaktor

Erst ab dem 18., 19. Jahrhundert begannen die Menschen damit, die Flüsse zähmen zu wollen. Kanäle und Grabensysteme legten sie schon früher an. (Auch der Floßgraben wird natürlich gewürdigt.) Denn die Kraft des Wassers nutzten sie schon im Mittelalter zum Betrieb von Mühlen, Hammerwerken und Bergwerken.

Das wird in Heydicks abschließendem Kapitel sichtbar, in dem er die „Änderung der Landschaft“ zum Thema macht und zeigt, wie die Menschen in Mitteldeutschland tatsächlich ganze Landschaften veränderten, um sich entweder die Kraft des Wassers gefügig zu machen oder Schiffsverkehr möglich zu machen, wo das im Ursprungszustand der Flüsse eigentlich nicht möglich war.

Ein Kapitel, in dem Heydick natürlich die frühe Technisierung der mitteldeutschen Wirtschaft thematisiert – explizit im Zusammenhang mit dem Bergbau und der Salzgewinnung. Deswegen kann man etliche der kleineren Flüsse auch unter dem Aspekt der frühen Industriegeschichte bereisen und findet tatsächlich noch etliche Hammerwerke, Bergwerke und Mühlen an Fluss und Weg, die teilweise sogar noch besichtigt werden können.

Eine Sorge abgelegt, die nächste folgt

Auch das ist ein Weg, den engen Zusammenhang der Verfügbarkeit des Wassers und des menschlichen Wirtschaftens zu erfahren. Wobei Heydick natürlich zu Recht auch kritische Punkte anspricht – Staustufen, die Fischen den Weg in den Oberlauf versperren, Kanalisierungen, die die Fließgeschwindigkeit erhöhen, den Verlust der Überschwemmungsgebiete, weil die Menschen unbedingt auch noch in den fruchtbaren Auen bauen mussten.

Aber auch die Rolle von Talsperren, die einerseits unersetzlich scheinen im Hochwasserschutz, andererseits massive Eingriffe in die Lebenswelt der Täler sind, in denen das Wasser Ebbe und Flut erlebt, als wäre es ein Meer.

Nicht grundlos steht das Wort Lebensader im Untertitel. Und vor 30 Jahren hätte wohl auch niemand damit gerechnet, dass es nach der ersten Rettung der Flüsse vor der Vergiftung durch die Industrie bald wieder berechtigte und große Sorgen um unsere Flüsse geben würde, weil ihnen nun das Wasser abhanden zu kommen droht. Nicht nur durch ausbleibende Niederschläge in Dürrejahren wie 2018 und 2019, sondern auch durch den Verlust der wasserspeichernden Wälder in den Kammlagen.

Befreit die Flüsse vom Gestaltungswahn!

Genauso fehlen die Auen, in denen die Flüsse sich wieder ausbreiten und lebendige Auwälder ausbilden können. Die Beseitigung all der Sperrwerke, Deiche und künstlichen Verengungen, die gerade den Tieflandflüssen zu schaffen machen, wird eine Mammutaufgabe. Und eine, bei der man immerzu gegen Leute kämpfen muss, die nicht aufhören, ihre teuren und ökonomisch völlig sinnlosen Großprojekte im Wasserbau als Wirtschaftsförderung zu verkaufen – sei es der Saaledurchstich im Mündungsdelta an der Elbe, sei es die nächste Staustufe für die Elbe oder ein völlig nutzloser Elster-Saale-Kanal.

Dabei kann man, wenn man sich wie Lutz Heydick auf den Weg macht, selbst erfahren, was für eine faszinierende Landschaft Flüsse bilden, wenn sie wieder befreit fließen können, wie die ursprüngliche Artenvielfalt zurückkehrt und sogar eine touristisch attraktive Landschaft entsteht, die viel mehr Menschen lockt als die künstlich gebauten Touristen-Attraktionen.

Plädoyer für Bewahrung, (Neu)Entdeckung und Schönheit der Flusslandschaften

Auf seine Weise ist das Buch ein lebendiges Plädoyer für eine Bewahrung und Wiederherstellung der ursprünglichen Flusslandschaften, wo immer es nur geht. Die Zeit, da wir die Flüsse als Brauchwasserableiter und Kanäle missbraucht haben, muss vorbeigehen.

Sie hat schlicht keine Zukunft in einer Welt, in der der Klimawandel auch den Wasserhaushalt der Region Mitteldeutschland arg in Mitleidenschaft ziehen wird. Die Zeit des technischen Machbarkeitswahns muss ein Ende finden. Und im Grunde zeigt Heydick ja sehr anschaulich, dass wir durchaus lernen können, mit den Flüssen zu leben, sie zu respektieren und ihre Schönheit (wieder) zu entdecken.

Und natürlich lädt es auch dazu ein, die Flüsse auch abseits der drei großen Radwanderwege zu entdecken, die er schon geschildert hat. Es lohnt sich. Wenn man tolles Wetter erwischt und die Kamera mitnimmt, erst recht. Und in seinem Buch findet man dann lauter Wissenswertes zur Geschichte und zur Wirtschaft der Region, das dem Leser dann auch erschließt, wie Menschen mit den Flüssen, ihrem Reichtum und ihrer Kraft diese Region erst besiedelt und dann zum Blühen gebracht haben.

Lutz Heydick Mitteldeutsche Flüsse, Sax-Verlag, Beucha 2021, 16,50 Euro.

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