Es ist eine klassische Geste, dass Dichter ihre Standeskollegen auch mal mit Widmungsgedichten würdigen. Aus Verbundenheit, echter Freundschaft oder auch später Dankbarkeit. Denn ihnen ist durchaus bewusst, dass auch Dichter Lernende und Schüler sind. Das poetische Sehen haben sie mit und von Anderen gelernt. Aber da steckt noch mehr in Wolfgang Eschkers Gedichtband.

Denn das „An“ gehört zwar zuerst den im ersten Teil des Bandes gesammelten „Reverenzen und Referenzen“, aber als Buchtitel umfasst es auch Eschkers Erinnerungen an seine ursprüngliche Heimat, die Altmark, und an seine Wirkungsstätte als Leiter des Goethe-Instituts in Zagreb.

Da kann man natürlich einwerfen: Das machen doch nicht alle Leute, die Lyrik veröffentlichen. Manche sind doch originale Genies, die alles aus sich selber schöpfen …

Die Logik der Lyrik

Das denken manche tatsächlich von sich. Entsprechend leer ist ihre Ware dann tatsächlich. Denn auch Dichtung lebt vom Gewebe unseres gemeinsamen Sprechens und Erinnerns. Wer Gedichte liest, erweckt ja nicht das zum Leben, was der Bursche gedacht, gefühlt und gesehen hat, der die Verse schrieb, sondern seine eigenen Bilder. Gedichte korrespondieren mit dem, was wir selbst erfahren und erlebt haben.

Wenn sie da nichts zum Klingen bringen, funktionieren sie schlichtweg nicht.

Wenn sie das nicht tun, sind sie praktisch schon tot, bevor sie auf Papier gedruckt werden.

Den Kollegen beim Dichten zuschauen

Eschker weiß, dass sein Dichten immer im Gespräch mit anderen und mit der Welt vonstattenging. Und mit „An“ macht er diese Beziehungen sichtbar. Auch wenn es nicht wirklich „An“-Gedichte sind, keine Blumengebinde und keine Lobgesänge. Eschker macht es viel nüchterner, so wie es einem beim Erschließen von Gedichtwelten als Dichter ja geht: Er sieht die schreibenden Kollegen und Kolleginnen beim Arbeiten, beim Leben und Sterben, schafft kleine Miniaturen, in denen er die oft schon vor vielen Jahren Verstorbenen kurz lebendig werden lässt.

Manchmal baut er Verse und Gedanken von ihnen in seine Gedichte ein. Manchmal spielt er mit den gültigen Zeilen seiner Vorbilder und verbindet sie mit eigenem Erleben – ein Benn-Gedicht etwa mit dem verwüsteten Ort seiner Kindheit.

Man merkt, wie nah ihm die erwähnten Autoren sind – oder wie fern. Auch wenn er – etwa im Fall Peter Rühmkorf – nicht verrät, was ihn an dem 2008 verstorbenen Kollegen so verärgert hat. Das Gedicht wird fast zur Xenie im Goetheschen Sinn, einem streitbaren und bissigen Epigramm. Mit „N“ schummelte sich auch ein völlig unpoetischer „Herrscher auf hohem Roß“ in seine Sammlung. Oft sind es freilich auch die Orte der Dichter, an denen er den großen Alten begegnet und versucht, eine Beziehung zu ihnen zu finden – zu Brecht in Buckow etwa oder zu Lichtenberg in der „Hannöverschen Provinz“.

Die Landschaft der Kindheit

So taucht auch die Landschaft auf, in der Eschker heute lebt. Weit hat er es trotzdem nicht rüber über die alte verschwundene Grenze in die Altmark, wo er – so erwähnt es zumindest ein Gedicht – die ersten 18 Jahre seines Lebens verbrachte. Nun sieht er die Landschaft seiner Kindheit mit den Augen des Zurückkehrenden – und entdeckt die poetische Schönheit wieder. Jeder hat so eine Beziehung zu den Orten seiner Kindheit. Nicht jeder kann es wieder in Worte und Bilder fassen.

Und leicht macht es die Altmark ihren Kindern sowieso nicht. Sie ist spröde. Und dennoch findet Eschker diesen Glanz in Stendal, Arneburg (gar als Idyll) oder Uchtspringe. Und wie das so ist: Auch die Stunde im Russischunterricht fällt ihm wieder ein, in welcher der Russischlehrer mal vom Stoff abwich (Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“) und die Kinder mit der Weltraumnachricht vom Hund Lajka beglückte, den die Sowjets in die Erdumlaufbahn geschossen hatten.

Erneut zeigt sich der Epigrammatiker, den solche Erinnerungen auf Gedanken bringen: „Ich war gelehrig, / folgsam wie ein Hund …“

Auf einmal ist sie da, die schwierige Beziehung zur eigenen Vergangenheit, zum fremd gewordenen Land, aus dem er noch rechtzeitig davonging, um Slawistik und Volkskunde in Göttingen, Wien, Belgrad und Sarajewo zu studieren. Es ist nicht nur Idylle, was er erinnert bei diesen Besuchen. Kastanien bringen ihn in Uchtspringe auf ganz eigentümliche Bilder: „Graue Gestalten / lesen sie als Geheimdokumente / und nehmen sie, getarnt als Souvenir, / auf irre verschlungenen Wegen / heimlich mit in ihr Quartier.“ Am Ende vermisst er die Schwalben, die es in seiner Kindheit noch in Scharen gegeben haben muss. „Wo keine Klinke mehr / bekannte Türen öffnet, / wo kei God dag / mir mehr entgegen fliegt.“

Von Krieg, Verwüstung und Verscharrten

In gewisser Weise wurde ihm für Jahre der Balkan zur Heimat. Davon handelt der dritte Teil der Gedichte „Balkanblitze rot“. Auch hier entdeckt er die Poesie der Landschaft, die Herzlichkeit der Menschen, das Vertraute im Fremden. Keine Tür verschlossen, „Jeder Stein ist ein Gelübte.“ Hier ist er dem Dichter Milos Crnjanski ganz nah. Doch hier begegnet er auch dem Krieg und seinen Verwüstungen – in „Bosnien“ etwa oder „Srebenica“. Sein Mitgefühl mit den oft anonym in den Wäldern Verscharrten ist riesengroß. Mit der Trauer klingt der Gedichtband aus. Das bleibt so stehen. So wie Gedichte immer stehen bleiben, wenn sie das Wesentliche gesagt haben.

Das, was sich so manch ein durchs Leben Eilender nicht zugestehen will, weil es niemals „cool“ ist: das Berührtsein vom Leben, vom Dasein und einer höchst verletzlichen Welt.

Wolfgang Eschker „An. Gedichte“, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2022, 16,95 Euro.

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