Dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Kränkung zum täglichen Erleben gehört und Menschen in den eigenen Ressentiments gefangen sind, das hat der Historiker und Philosoph Jürgen Große schon in den drei Miniaturen-Bänden „Der gekränkte Mensch“ filigran und bildhaft analysiert. Die große Freiheit einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nicht einfach einen Platz zuweist, den sie ein Leben lang ausfüllen müssen, macht sie nicht wirklich glücklich. Den wo Glückserfüllung zum Grundversprechen gehört, sorgt jeder nicht erfüllte Wunsch für eine Kränkung.
Der moderne Mensch fühlt sich also höchst unbehaglich in dieser Welt. Alles spiegelt ihm: Du bist deines eigenen Glückes Schmied, mach was draus! Doch jede Niederlage sorgt dafür, dass dieses Glücksversprechen zum Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit wird. Da hilft alle Show nicht, alles Aufbrezeln für den Laufsteg des Lebens.
Drinnen im Kopf weiß der aufgehübschte Mensch ja, dass er nicht genügt. Nicht genügen kann. Denn wo – versprochenermaßen – alles möglich ist, werden die Optionen unüberschaubar und jeder Versuch, in diesem Reich der unendlichen Möglichkeiten etwas zu werden, zu einem Tappen im Nebel. Und oft genug zu einer Verfehlung des eigenen Selbst. Manche sind ein Leben lang danach auf der Suche – und finden es nicht.
Also muss ja jemand Schuld sein an ihrem Ungenügen. In seinem Buch „Die kalte Wut“ griff Große 2024 das Thema wieder auf und beschrieb recht eingängig, wie die zunehmenden Ressentiments in unserer Gegenwart zustande kommen und sich gegenseitig aufschaukeln. Denn der Bewohner der heutigen Konsumwelt spürt sehr wohl, wie unsicher seine Lage ist.
Sein sozialer Status ist prekär, hängt von Konjunkturen ab und kann in Krisen sofort gefährdet sein. Er ist nichts von Geburt – anders, als es einst der Adel war. Er kann etwas werden – aber nichts Endgültiges. Denn was er erwerben kann, sind nur labiler Status und eine Welt von lauter Dingen, die keinen dauerhaften Wert haben. Weshalb er zum Konsumieren verdammt ist, zur permanenten Bestätigung seines Erfolgs. Der ihm zwischen den Fingern zerrinnt.
Die Träume der kleinen Bürger
Er nennt sich zwar gern Bürger. Aber jede eingehendere Analyse der heutigen Bundesrepublik – genauso wie der alten BRD und der hingeschiedenen DDR – zeigt, dass diese Bezeichnung für ihn eine Nummer zu groß ist, dass die beiden deutschen Landeshälften immer vor allem kleinbürgerliche Lebensräume waren. Was Große der alten BRD auch zugesteht.
Mit der DDR kann er nicht so viel anfangen, sonst würde er die einschlägigen Untersuchungen der Soziologie zum Konstrukt Arbeiter-und-Bauern-Staat kennen: Im Alltag war auch die DDR eine kleinbürgerliche Republik mit kleinbürgerlichen Träumen von Aufstieg, Status und Besitz. Selbst die Funktionäre der alleinseligmachenden Partei dachten in diesen Kategorien, selbst der allmächtige Geheimdienst.
Was da 1990 zusammenkam, hatte letztlich dieselben Träume und Vorstellungen von einem erfolgreichen Leben. Nur dass es den Neuankömmlingen aus dem Osten unendlich erschwert wurde, diese Träume auch zu erfüllen. Was eigentlich die Basis für eine wirklich gründliche Untersuchung des so gern malträtierten Ostdeutschen wäre: Wie sein Traum von einem bürgerlichen (und gesicherten) Leben millionenfach scheiterte und sich in Ressentiment verwandelt. Irgendwer muss ja schuld sein an diesem Scheitern.
Das freilich untersucht Große in diesem Buch nicht. Es hätte nahe gelegen, weil es den Urgrund der derzeit wallenden Ressentiments beleuchtet hätte. Ressentiments, die es in Ost wie West gleichermaßen gibt. Denn hüben wie drüben meldet sich das gekränkte Kleinbürgertum zu Wort.
Denn aus gutem Grund geht es davon aus, dass diese Gesellschaft ihm gehört. Denn sie ist durchdrungen von seinen Idealen, Träumen und Gefühlen. Was bei Große natürlich etwas analytischer klingt: „Der bürgerlich gemachte Mensch fühlt sich merkwürdig betrogen und weiß doch nicht wodurch. Seine Verstörtheit wird zur Dauergrimasse. Die gekränkten Mienen, die gepressten Münder tragen es einem auf allen Straßen entgegen …“
Wohlstand für die kleinen Bürger
Man kann es auch so formulieren: Der aus seinen alten Standesbanden geschleuderte Mensch fühlt sich arg unwohl in der Welt, die er nun bewohnt. Und er fühlt sich nicht angekommen, nicht wirklich zum Bürger geworden.
Denn er weiß, dass dazu mehr gehört: Unternehmertum, Selbstbewusstsein und Besitz. Er ahnt es – auch wenn ihm seine Medien davon nichts erzählen – dass es über ihm tatsächlich eine bürgerliche Klasse gibt, die Einfluss hat, Gestaltungsmacht und die nötige Rücksichtslosigkeit, ihre Interessen auch hemmungslos durchzusetzen.
Eine bürgerliche Klasse, auf die der alte Begriff vom Bourgeois noch allemal passt. Während dem kleinen Bürger bestenfalls der Citoyen bleibt, der Staats-Bürger, eine Rolle, mit der er zutiefst hadert, wie Große in mehreren Kapiteln feststellen kann.
Und dabei war das ja mal – nach Hitlerreich und verlorenem Krieg – die Rolle, in der er sich bewähren durfte, die er sich überziehen konnte, um flugs über Nacht zum braven Demokraten zu werden. Unschuldig in seiner neuen Rolle. Er musste jetzt nur noch die richtigen Parteien wählen, am besten – im Westen – die beiden großen Volksparteien.
Dann wäre alles gut, er wäre rehabilitiert und wieder respektiert. Und als Belohnung gab es Wirtschaftswunder und „Wohlstand für alle“. Wohlverhalten wird mit der Fähigkeit zu wachsendem Konsum belohnt. Eine Art psychologische Plombe, die aber nicht mehr funktioniert, wenn das Aufstiegsversprechen vor den Augen der kleinen Bürger zerplatzt. Was bleibt dann?
Und hier wird es jetzt kompliziert. Jürgen Große versucht dem Phänomen mit einer Untersuchung der gesellschaftlichen Mitte beizukommen, der Mittelklasse (die etwas völlig anderes ist) oder dem Mittelstand (zu dem die kleinen Bürger schon mal gar nicht gehören). Es ist die Beleuchtung einer Empfindungssphäre, die sich nicht recht fassen lässt.
Auch nicht mit statistischen Daten zu Einkommen und Besitz. Und schon gar nicht mit Befragungen, wozu sich die Befragten eigentlich rechnen. Da wäre fast jeder Befragte überzeugt, zur Mitte zu gehören. Was dann gern als wohltemperiert und ausgeglichen verstanden wird. Einerseits. Und andererseits auch als maßstabgebend und normsetzend. Wer will schon zu den Extremen gehören?
Das Unbehagen in der gefühlten Mitte
Was deutlich wird: Es ist das falsche Empfinden eines statischen Zustands. Eine Wunsch-Verortung, die mit dem tatsächlich Gefühlten und Gedachten nicht übereinstimmt. Und auch schon lange nicht mehr mit der Zugehörigkeit zu einer der alten großen Volksparteien, die mal CDU/CSU und SPD hießen. Große geht davon aus, dass heute ganz andere Parteien die neuen Volksparteien sind: AfD und Grüne. Was zu beweisen wäre.
Aber es geht den Philosophen wie den Leuten im Nachbarhaus auch: Auch sie haben ihre Ressentiments, ihr gespürtes Unbehagen.
Auch ihnen geschieht ein Unbehagen in der Bürgerlichkeit: „Letztere ist traditionell ein Leben in der Spannung zwischen Absturz und Aufstieg, adaptiertem aristokratischen Kulturornament und andrängendem Plebejerelend relativ stabil als seelischer und sozialer Mittelstand mit entsprechend verfestigten Negativwerten (nicht in Trägheit versinken, aber auch nicht durch Hochleistung exzentrisch auffallen)“, so Große.
Man fühlt, dass man nicht dazugehört, nicht wirklich zur Oberschicht gehört. Und fürchtet gleichzeitig, dass ein böses Geschick einen aus der Bahn kegelt, sodass man ruckzuck ganz unten landet – bei den Plebejern, Malochern und Proletariern. Die es immer noch gibt. Nur habe die Soziologen peinlichst aufgehört, über Klassen zu sprechen.
Bei Große tauchen die Proletarier wenigstens auf – all die Leute, die für ihren sauer verdienten Lohn malochen müssen. Und tatsächlich stolz darauf sind, wenn sie etwas geschafft haben. So gesehen drängt dieser Essay eigentlich hin zu einer sensiblen Analyse unserer Gesellschaft, wie sie wirklich tickt und fühlt.
Aber Große deutet mit seiner Fokussierung auf AfD und Grüne an, dass es heute zwei wesentliche Formen von kleinbürgerlichem Artikulieren gibt: die Blaubürgerlichkeit („Alternativspießertum von rechts“) und die Grünbürgerlichkeit. Man könnte an dieser Stelle gespannt sein, wie er diese beiden bürgerlichen Empfindungsfelder untersucht.
Aber tatsächlich fokussiert er sich nur auf eines – die Grünbürgerlichkeit. Wobei ja stimmt: Auch hier gibt es Formen des Ressentiments, der öffentlich demonstrierten Gefühligkeit, der geäußerten Moralität.
Anspruch und Moral
Große spricht zwar immer wieder von den Grünen. Aber ganz zum Schluss merkt man, dass er eigentlich ein ganz anderes Phänomen aufs Korn nimmt, das sich beileibe nicht bei einer einzigen Partei und ihren Wählern auffinden lässt: Es sind die Bobos, die von David Brooks 2000 so in die Begrifflichkeit gesetzten „bourgeois bohémien“.
Ein sozialer Typus, der in den westlichen Ländern seit den 1990 Jahren sichtbar geworden ist – in zumeist akademischen Berufen erfolgreich, erfolgsbewusst und gleichzeitig darauf bedacht, weiterhin rebellisch zu wirken, sich also immer neue Zeichen von Subkulturen zuzulegen, frei nach dem Motto: Ich hab’s geschafft, aber ein Rebell bin ich doch noch.
Für Große verbinden sich im Bobo klassische bürgerliche Ansprüche: ein zutiefst materialistischen Denken mit übersteigerten moralischen Ansprüchen, die man nun den Anderen, den kleinen Bürgern unter die Nase reibt. Verständlich, dass er die Bobos so überhaupt nicht mag.
Der „Ampel“-Regierung von 2021 bis 2025 attestiert er gar eine stark vertretene Bobo-Mentalität. Man ahnt also, woher sein Unbehagen kommt. Das durchaus seine Berechtigung hat. Denn von regierenden Parteien erwartet man eigentlich keine moralischen Belehrungen, sondern praktische Problemlösungen.
Aber hängt es nur an Parteien? Die Frage bleibt offen am Ende. Auch weil Große ganz offensichtlich die Ressentiments anderer kleinbürgerlicher Milieus auslässt, regelrecht ausblendet. Und da geht es nicht nur um die AfD, die sich zu einer einzigen Ressentiment-Partei entwickelt hat, die ganz offensichtlich das Unbehagen der kleinen Bürger am besten abzugreifen vermag, indem sie es verstärkt und verwildern lässt.
Aber wie ist das eigentlich mit den sogenannten bürgerlichen Parteien? Sind die frei von Ressentiments und höheren Moral-Attitüden? Daran darf gezweifelt werden. Schon gar in einer Zeit, in der der erhobene Zeigefinger geradezu zum ersten Instrument politischer Wortmeldung geworden ist.
Und damit zur tatsächlichen Wortmeldung des kleinen Bürgers, der so gern die Mitte und den Maßstab von allem wäre. Und anderen nur zu gern erzählt, wie sie sich zu benehmen haben. Denn es sind ja immer die Anderen, die sein Unbehagen wachrufen, ihn daran erinnern, wie prekär und vorläufig seine eigene Existenz ist.
Die Ängste der empfundenen Mitte
Und eigentlich lautet ja die Diagnose, dass unsere Gesellschaft ganz zwangsläufig eine durch und durch kleinbürgerliche Gesellschaft geworden ist, in der schon die geringsten Nuancen von Einkommen und Status darüber bestimmen, ob sich der kleine Bürger zur Mitte zählt, zur Oberschicht oder zu jener gefährdeten Gruppe der Erfolglosen, der immerfort der Abstieg in die Unterschicht droht.
Also gibt man sich alle Mühe, nicht nur mit wildem Konsum seinen Status herauszukehren, während man gleichzeitig alle anderen permanent darüber belehrt, wo ihr eigentlicher Platz ist.
Was natürlich nichts daran ändert, dass die sogenannte bürgerliche Gesellschaft permanent die tatsächlichen Verunsicherungen und Ungewissheiten produziert, die in der ach so viel beschworenen Mitte die Ängste um Abstieg und Verlust am Leben erhält. Disruption und Globalisierung sind ja keine seelischen Empfindungen, die sich die Leute nur einbilden.
Sie sind wesentliche Teile einer enthemmten Gesellschaft, in der Stabilität immer schon eine schöne Einbildung war, gleichzeitig aber immer wieder neues Wahlversprechen von Parteien, die damit bei jeder Wahl die Wähler einkauften, obwohl keine Partei dergleichen auch nur garantieren kann. Aber der kleine Bürger träumt davon. Und ist zutiefst gekränkt, wenn ihm dieser Traum nicht erfüllt wird.
Deswegen haben Parteien beim gelebten Kleinbürgertum die größten Chancen, wenn sie ihm einreden, alles könne und werde beim Alten bleiben. Niemand würde ihm etwas zumuten. Und die Steuern würden auch sinken. Wahlen sind reine Märchenstunden, eben auch deshalb, weil sich eine klare Mehrheit der Wahlbürger tatsächlich dem obskuren Ort zurechnet, der da Mitte genannt wird. Eine Mitte, die sich selbst dann noch als Träger der Gesellschaft begreift, wenn sie sich längst radikalisiert hat.
Noch so ein Aspekt, den Große antippt und der natürlich einen anderen Strang der Analyse nach sich ziehen würde: Wie sehr unser Bild von der Mitte und den Extremen den Blick darauf verstellt, dass es eine wohltemperierte und ausgeglichene Mitte gar nicht gibt.
Schon gar nicht in Zeiten, in denen die Pflege von Ressentiments zur Hauptbeschäftigung des politisierten Bürgers geworden ist, der sich so gern selbst als den Mittelpunkt der Welt versteht. Auch wenn er ahnt, dass er wohl nie dazu gehören wird. Und das macht natürlich wütend, hilflos und unsicher.
Jürgen Große „Gefühlte Bürgerlichkeit“ Büchner Verlag, Marburg 2025, 28 Euro.
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