Dass die Arbeiten eines Künstlers auch seine direkte Kommunikation mit der Welt sind, wird selbst in der Kunstkritik oft vergessen. Da versteckt man sich dann oft genug hinter schwammigen, irgendwie wissenschaftlich klingenden Zuschreibungen, wird abstrakt und theoretisch. Aber dass Bilder davon leben, dass sie den Betrachter direkt ansprechen, scheint kaum noch formulierbar. Aber gerade da erst wird Kunst spannend. Das zeigt auch der Kunsthistoriker Uwe M. Schneede in diesem Buch, in dem er seine Sicht auf die Bilder des Leipziger Malers Sighard Gille lebendig werden lässt.
Auch das muss man erst einmal können. Aber Schneede ist ja nicht nur Kunsthistoriker, sondern leitete auch bis 2006 die Hamburger Kunsthalle, weiß also auch, wie man Kunst vermitteln muss, damit sie ihr Publikum erreicht. Was nicht bedeutet, dass das Publikum auch in die Ausstellung kommt.
Denn oft fehlt den möglicherweise Interessierten einfach auch der Mut, die Schwelle zu überschreiten. Kunst wird noch viel zu oft wie ein heiliger Gral verkauft, als wüssten nur die Eingeweihten wirklich, was da zu sehen ist. Und der landläufige Mensch würde sowieso nicht begreifen, was Künstler und Kuratoren so treiben.
Denn natürlich muss der unverstellte Blick auf Kunst (erst wieder) gelernt sein. Irgendwie ist es wie bei der Literatur, deren ungezwungene Eroberung den Kindern schon in der Schule gründlich und theorielastig ausgetrieben wurde. Die Abenteuer liegen vor unserer Nase. Aber wir dürfen sie nicht sehen. Sollen uns nicht ganz unvoreingenommen hinstellen vor die Bilder und uns darauf verlassen, dass wir auch sehen, was wir sehen.
Erwartungshaltungen unterlaufen
Was im Fall von Sighard Gille natürlich doppelt von Bedeutung ist. Denn als Teil der Leipziger Schule gehört er natürlich auch zu jenen Malern, die mit zunehmender Unabhängigkeit den verklemmten Kunstkanon der SED-Funktionäre unterliefen und aufbrauchen. Er gehört zur zweiten Generation der Leipziger Schule.
Seine Bilder „Brigadefeier – Gerüstbauer“und „Fähre“ sorgten in den 1970er Jahren für Aufsehen, forderten die Betrachter heraus zur Auseinandersetzung. Und zum Schauen natürlich. Es war auch die Zeit, in der Schneede auf Gille aufmerksam wurde und dessen bildnerisches Schaffen fortan begleitete, wohl selbst verblüfft, wie radikal Gille in den Folgejahren mit Erwartungen brach und sich eine eigene Bildsprache erarbeitete, die das vermittelte, was ihn tatsächlich bewegte.
Brav sein wollte er nie. Dafür bewegte ihn die ganze Zeit etwas, in dem sich viele Ostdeutsche wiederfinden können: der Drang, die Dinge ungeschminkt und überdeutlich beim Namen zu nennen bzw. eben ins Bild zu setzen. Im Zentrum immer: das Menschliche, der Maßstab für alles, was wirklich wichtig ist.
So unterlief Gille schon die von den Funktionären erwarteten Brigade-Bilder gründlich, so unterlief er das von der Partei so erwünschte „sozialistische Menschenbild“ auch in den 1980er Jahren, als er Künstlerfreunde und -freundinnen porträtierte, scheinbar deutlich überspitzt, als würden die Charaktere den Bildrahmen sprengen. Aber das kam ganz offensichtlich auch bei den Dargestellten an: Sie erkannten sich wieder.
Gerade weil Gille darauf verzichtete, sie naturalistisch abzupinseln, sondern das Besondere und Rahmensprengende an ihnen sichtbar machte.
Zum Schauen herausgefordert
Und darum geht es wohl am Ende in der Kunst: Sichtbar zu machen, was man für gewöhnlich übersieht. Dabei entstehen eben Bilder, die zum Schauen geradezu herausfordern, die den Betrachter zwingen, sich selbst ins Verhältnis zu setzen zum Geschehen. Auch wenn es frappiert oder gar verwirrt.
Und damit hörte Gille auch nach 1990 nicht auf, nachdem die ganze Welt der vormundschaftlichen Funktionäre verschwunden war – damit aber auch der ganz spezielle Kunstbetrieb der DDR, der für Kunstschaffende durchaus auch einen existenzsichernden Rahmen bot. Selbst für die schrägen Typen aus der Leipziger Schule, die mit ihrer Art Malereiverständnis den ganzen alten Denkkanon der Funktionäre aushebelten.
Nur: 1990 war nicht nur die DDR futsch. Da merkten auch die viel diskutierten Künstler der einstigen DDR schnell, dass sie nun auf einmal in einen Kunstmarkt hineingeworfen waren, in dem eigentlich kein Platz für sie vorgesehen war. Alle Plätze am Tisch waren schon besetzt. Und auch das thematisiert Gille in seinen Bildern.
Und Schneede spricht es deutlich an, wohl wissend, dass sich außer ein paar privaten Sammlern im westdeutschen Kunstbetrieb kaum eine Institution für die Kunst aus dem Osten interessierte. Es sei denn, man konnte sie als Staatskunst diffamieren. Man hatte sie 40 Jahre lang ignoriert und machte mit der Ignoranz einfach weiter.
Was auch leichter fiel, weil man sich schon lange in einem abstrakten Verständnis von Kunst eingerichtet hatte, das sich auf die tatsächliche und bildliche Begegnung von Künstler und Betrachter gar nicht mehr einlassen musste. Deswegen sind die meisten Kunstkritiken so ungenießbar und letztlich phrasenhaft. Zeichen einer institutionalisierten Nicht-Begegnung.
Aber Gilles Bilder (und auch die der anderen Vertreter der Leipziger Schule) leben von der Begegnung, davon, dass die Betrachter sich mit dem Dargestellten auseinandersetzen können, sich einlassen auf Bilder, in denen – gerade bei Gille – das Surreale des menschlichen Daseins geradezu greifbar wird. Ganz zu schweigen davon, dass Gille selbst in seinem Werk immer wieder auftaucht, oft in frappierenden Selbstporträts, in denen der Maler auch die Fragilität des eigenen Wahrnehmens sichtbar macht: Wer bin ich wirklich? Wer bin ich heute?
Im Zirkus
„Albträume und Freiheitsverlangen“ hat Schneede das letzte Kapitel in diesem Buch überschrieben, in dem er sich mit den jüngsten Arbeiten des Malers beschäftigt, darunter großformatige Clownsbilder, in denen auch das „Clowneske als Haltung“ greifbar wird.
Eigentlich als doppelter Haltung – die des Künstlers, der auch seine durchaus ignorierte Rolle als Kritiker der erlebten Wirklichkeit darzustellen weiß, und des Gegenwartsbewohners, der sich Tag für Tag wie in einem Zirkus vorkommen kann, als wäre er unter lauter Clowns gefallen. Schneede sieht im Harlekin eher das „Alter Ego des Künstlers“. Womit sich Gille in eine ganze Kunsttradition von Picasso über Klee bis Beckmann einreiht.
Aber sieht sich der Künstler nicht gerade deshalb auch als in die Verrücktheiten der Welt geworfener Mensch? Also doch irgendwie genauso wie der Betrachter? Es ist, als würde die von Gille und den anderen Maler/-innen der Leipziger Schule in Auseinandersetzung mit dem starren Kunstverständnis der DDR-Funktionäre entwickelte Bildsprache auch heute noch wirksam und ein ideales Instrumentarium, den Menschen mit seiner Rolle in einer Welt zu konfrontieren, in der die Clowns den Bildschirm bestimmen und selbst der nüchternste Mensch sich wie ein Clown vorkommt.
Als wäre tatsächlich nur die Außenseiterrolle noch denkbar, wenn man an den Narreteien der allgegenwärtigen Selbstdarsteller keinen Teil mehr haben will – oder kann.
Denn manchmal kann man einfach nicht. Und so werden die Begegnungen mit Gilles Bildern eben auch Selbst-Begegnungen des Betrachters. Und das erleichtert dieser Band, indem er die jeweiligen Bilder Gilles aus den einzelnen Schaffensphasen groß und farbenprächtig neben Schneedes Texte setzt, in denen er schildert, wie er Gilles Bildern begegnete und darin immer den Künstler fand, der mit kräftiger Palette von sich selbst sprach und seinem zuweilen Befinden in einer ganz und gar nicht nüchternen Welt.
Uwe M. Schneede „Sighard Gille. Zeitbilder“ E. A. Seemann, Leipzig 2025, 30 Euro.
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