Was sich am 9. Februar in der Diskussion um die Dieskaustraße schon andeutete, entfaltete sich gleich anschließend beim Beschluss zur Komplexmaßnahme Berliner Straße in aller Pracht. Vier Varianten hatte das Verkehrs- und Tiefbauamt (VTA) für den Straßenabschnitt zwischen Wilhelm-Liebknecht-Platz und Eisenbahnüberführung entwickelt und Variante 4 als Vorzugsvariante vorgeschlagen. Aber bei „Reduzierung der Fahrspuren“ sehen Leipzigs Autofahrer rot.

Und eine Diskussion entfaltet sich, bei der man als Zuschauender nur die Frage stellt: Haben die das denn in den Ausschüssen nicht ausführlich diskutiert und sich von den Verkehrsplanern erklären lassen? Augenscheinlich nicht. Denn mit immer neuen Argumenten stellten insbesondere Stadträte der CDU-Fraktion, der AfD-Fraktion und Andreas Geisler aus der SPD-Fraktion die Planung infrage, zogen gleich auch noch die Fachkompetenz der Planer in Zweifel und kämpften eigentlich doch wieder – genau wie bei der Dieskaustraße – nur darum, dass sich am gewohnten Straßenbild für Autofahrer nichts ändert.

Heißt: Weiterhin auf diesem 200 Meter langen Straßenabschnitt bitte vierspurig fahren – auch wenn es davor und dahinter zweispurig weitergeht.

Beschlussvorlage zur Vorplanung der Berliner Straße.

Und bitteschön neue Verkehrsströme von Autofahrern mit einplanen, weil ja an der Berliner Straße auch neue Wohngebiete entstehen. Bestimmt werden die Leute da alle Auto fahren wollen. Oder doch nicht? Geht es doch eher um die Pendler, die von außen in die Stadt kommen und sich an der Berliner Straße zusammen mit dem Wirtschaftsverkehr stauen?

Der Abschnitt der Berliner Straße, welcher umgebaut werden soll. Karte: Stadt Leipzig
Der Abschnitt der Berliner Straße, der umgebaut werden soll. Karte: Stadt Leipzig

Da hatte sichtlich auch Baubürgermeister Thomas Dienberg Mühe, seine Emotionen im Zaum zu halten und sich alle diese Einwürfe, die eigentlich sämtlich in die Ausschüsse gehört hätten, zu verbitten. Aber auch Oberbürgermeister Burkhard Jung betonte am Ende, dass er die Diskussion um die Berliner Straße lieber hat laufen lassen, weil das Thema wohl doch noch ausdiskutiert werden muss.

Der schwere Abschied vom Primat des Automobils

Und zwar trotz des einmütigen Beschlusses des Stadtrates von 2018 zur nachhaltigen Mobilitätsstrategie, die nun so langsam endlich in den Planungsvorlagen aus dem VTA sichtbar wird. Natürlich geht es da um eine Umverteilung des Verkehrsraums und mehr Platz für den ÖPNV, den Radverkehr und den Fußverkehr, wie Grünen-Stadträtin Kristina Weyh noch einmal erklärte.

Auch ihr war anzumerken, dass ihr dieser verspätete Aufstand der Autofahrerfraktionen gewaltig auf die Nerven geht. Denn hier versucht mindestens eine Fraktion mit einer ganz offiziellen Aufkündigung der Mobilitätsstrategie von 2018 schon einmal Punkte für den Wahlkampf 2024 zu sammeln und den Wählern zu suggerieren, dass die Mobilitätsstrategie gescheitert sei. Obwohl erst jetzt tatsächlich die ersten Planungen zu komplexen Straßenumbauten auf den Tisch kommen, die diese Mobilitätsstrategie auch berücksichtigen

Am stärksten natürlich die Variante 4 aus der Vorlage, die jeder Verkehrsart auf der Berliner Straße jeweils eine eigene Spur zuweist. Und damit eben auch die Verkehre entflechtet, die sich jetzt oft noch gegenseitig behindern.

Aber eben diese Konsequenz wollte gerade die CDU-Fraktion nicht ziehen und stellte die Planungsvariante 2 zur Abstimmung, die dann wieder vier Spuren bedeutet hätte und damit aber auch einen teilweisen Erhalt der jetzigen Zustände – ohne den Verkehrsfluss der Berliner Straße in irgendeiner Weise flüssiger zu machen. Denn das Problem – so erklärte es Thomas Dienberg geduldig – sind die Knotenpunkte, da, wo die Hauptverkehrsstraßen aufeinander treffen und die Verkehrsströme mit Ampelschaltungen reguliert werden müssen. Und das führt schon jetzt dazu, dass in der Berliner Straße Tempo 30 gilt und die Ampelschaltung Richtung Gerberstraße genau dosiert werden muss.

Aber man merkte an der Diskussion eben auch, dass – trotz anderslautender Beteuerungen – gerade die CDU-Stadträte nur den Autoverkehr im Blick haben. Nichts anderes. Dass hier künftig nicht nur breitere Straßenbahnen fahren werden, sondern noch deutlich mehr, blieb unerwähnt. Lieber erklärte Falk Dossin die LVB zu einem Unternehmen, das die Fahrgäste in Scharen verliert. Völlig weglassend, dass es die Corona-Pandemie war, welche die Fahrgastzahlen hat einbrechen lassen.

Gerade an der Berliner Straße werden die LVB aber noch mehr Fahrgäste bekommen, wenn dort die neuen Schulen erst einmal in Betrieb gehen. Von Schülern aber war in der ganzen Debatte nichts zu hören. Von Radfahrern auch nur wenig, obwohl der Radverkehr auf dieser Strecke noch viel stärker zunehmen wird. Das ist sicher. Viele Radfahrer meiden den Abschnitt heute nur deshalb, weil es keine Radwege gibt.

Die Autofahrerperspektive führt zu keiner Lösung

Den Planern des VTA darf man zutrauen, dass sie genau das mitbedacht haben. Den debattierenden Stadträten zum Teil wohl nicht.

Weshalb es dann zunehmend irritierender wurde, wie hier versucht wurde, gleich mal die ganze Mobilitätsstrategie infrage zu stellen.

Aber das ändert nichts daran, dass die Änderungsanträge von CDU und AfD nicht mehrheitsfähig waren.

Der Versuch der CDU-Fraktion, die Planungsvariante 2 durchzubringen, scheiterte mit einem Abstimmungsverhältnis von 21:41 Stimmen bei einer Enthaltung.

Der Versuch der AfD-Fraktion, noch auf den letzten Drücker die Variante 3 durchzubringen, schlug mit 21:42 Stimmen fehl.

Und am Ende war es dann eindeutig, dass die Variante 4 all die vom Stadtrat selbst beschlossenen Vorgaben am besten erfüllt und auch umgesetzt werden sollte. Was eigentlich auch bereits im Dezember hätte passieren sollen, als die Berliner Straße schon einmal auf der Tagesordnung stand. Aber da folgte die Stadtratsmehrheit noch dem Antrag von Andreas Geisler, die Abstimmung zu vertagen, weil das Thema beim Runden Tisch Wirtschaftsverkehr besprochen werden sollte.

Der hat inzwischen stattgefunden. Und eigentlich ändert auch der nichts an der simplen Erkenntnis, dass der Wirtschaftsverkehr in Leipzig besser fließt, wenn vor allem der MIV eingedämmt wird.

38 Stimmen gab es also für Variante 4, 24 Stimmen dagegen und eine Enthaltung.

Wann gebaut wird, ist noch offen. Aber Stadt und LVB sind eigentlich im Zugzwang, denn sowohl das Löwitz Quartier am Hauptbahnhof mit den dortigen Schulen wird gerade gebaut, und auch am Eutritzscher Freiladebahnhof sollen bald die Bauarbeiten beginnen.

Wann gibt es Fortschritte bei ÖPNV und Radverkehr?

Die Freibeuter Sven Morlok, Dr. Klaus-Peter Reinhold und Sascha Matzke hatten noch einen eigenen Änderungsantrag gestellt, der aber nicht die Variantenauswahl betraf, sondern die damit verbundene Frage, wann sich in Leipzig endlich die Bedingungen für ÖPNV und Radverkehr tatsächlich verbessern.

Denn hier habe sich seit 2018 so gut wie gar nichts getan, monierte Sven Morlok am 9. Februar.

„Der Oberbürgermeister legt dem Stadtrat bis zum III. Quartal 2023 einen Zeit- und Maßnahmenplan als Beschlussvorlage vor, aus dem hervorgeht, wann welche Maßnahmen zum Ausbau des ÖPNV-Angebots und der ÖPNV-Infrastruktur sowie des Radwegenetzes realisiert werden, welche besonders geeignet sind, Anreize für Verkehrsteilnehmer, insbesondere Berufspendler aus den Randgebieten der Stadt bzw. von außerhalb der Stadt mit dem Ziel Innenstadt, zum Umstieg vom PKW auf den Umweltverbund zu geben“, lautet das zentrale Anliegen des Freibeuter-Antrags.

Der eben auch auf das Pendlerthema abzielt. Denn wenn es autofahrende Berufspendler sind, die Leipzigs Hauptachsen verstopfen, dann steht – so Morlok – tatsächlich die Frage, warum das P+R-System in Leipzig nicht funktioniert. Und aus Perspektive von Andreas Geisler, warum auf der S-Bahn viel zu kurze Traktionen eingesetzt werden, sodass die Bahnen im Berufsverkehr völlig überfüllt sind, und an einen durchgehenden Radweg aus dem Nordwesten auch nach sechs Jahren Diskussion nicht zu denken ist – Stichwort: Radschnellweg Halle-Leipzig.

Die zwei zentralen Punkte aus dem Freibeuter-Antrag hatte Thomas Dienberg sowieso schon übernommen. Ein weiterer Punkt musste im Lauf der Diskussion noch nachgeschärft werden, bekam dann aber auch mit 31:6 Stimmen bei 25 Enthaltungen die nötige Mehrheit. Da ging es um Straßenbahnen, die möglicherweise bei Straßenumbauten auf einmal vom MIV an Kreuzungen behindert werden könnten.

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