Der Klimawandel ist nicht nur menschgemacht oder Ergebnis eines heiß diskutierten „Anthropozän“, er ist direkte Folge unserer Externalisierungsgesellschaft. 150 Jahre lang haben wir eifrig fossile Brennstoffe verheizt und so getan, als wenn der ganze Ruß und die Treibhausgase in der Atmosphäre einfach verschwinden. Aber in einem so kleinen System Erde „verschwindet“ nichts. Alles hat Folgen.

Denn wenn weltweit die Regenwälder abgeholzt werden, damit billige Nahrung für den Norden produziert werden kann, fehlen natürlich auch die CO2-Senken, die die Folgen der Kohleverbrennung auffangen könnten. Millionen Tonnen Plastik schwimmen in den Weltmeeren, während die Fische daraus verschwinden.

Und warum ändert sich nichts daran? Warum ändern wir nichts daran, wo wir es doch könnten? Gibt es nicht all die tapferen Initiativen für einen fairen Welthandel? Für Klimaschutz und Weltfrieden?

Das Problem steckt als Struktur in unserer Wirtschaftsweise, stellt Lessenich fest. „In der Externalisierungsgesellschaft besteht Macht in der Chance, die Kosten der eigenen Lebensführung auf andere abzuwälzen – und diese Chance ist strukturell ungleich verteilt.“ Die einen tragen die Kosten, die anderen, die die Macht dazu haben, streichen die Profite ein. Und diese Verhältnisse teilen nicht nur die Welt, sie durchherrschen auch unsere Gesellschaft, was Menschen in regelrecht schizophrene Situationen bringt, weil sie diese Ausbeutung der Welt selbst dann unterstützen, wenn sie es gar nicht wollen. Zum Beispiel, weil sie gezwungen sind, die billig produzierten Produkte zu kaufen. Oder weil sie ihre Arbeitskraft Unternehmen andienen müssen, die ihre Profite auf einer exzessiven Ausbeutung der Welt aufbauen.

Überall, wo in den letzten Jahren mal billig drauf stand, steckt in Wirklichkeit eine Externalisierung von Kosten drin. Mal sind es die heimischen Bauern, denen die Preise von übermächtigen Discountern diktiert werden, mal sind es Beschäftigte in den großen Tech-Fabriken Chinas, die die teuren Mobil-Spielzeuge für die Europäer zusammenbauen, selbst aber in unwürdigen Beschäftigungsverhältnissen schuften bis zum Selbstmord. Mal sind es die überfischten Meere, die für die überladene Speisekarte der Europäer geplündert werden, mal sind es Leihmütter und Organspender aus den Entwicklungsländern, die sich regelrecht verkaufen müssen, um ihr Leben zu fristen. Und verkaufen muss sich jeder, der am kürzeren Hebel sitzt.

Und der Druck ist allgegenwärtig, spätestens, seit sich die europäische Politik die Versatzstücke der neoliberalen Denkschule zu eigen gemacht hat, die mit liberal nichts zu tun hat, wie Lessenich feststellt. Auch da nicht, wo sie von der „Liberalisierung“ von Märkten oder Freihandelsverträgen schwadroniert. Denn dort herrscht nur eine Freiheit: die Freiheit dessen, der das Geld und die Macht hat, seine Schulden einzutreiben. Das ist eine ganz moderne Sklavenhalterei, in der auch schon ganze Staaten in der Schuldknechtschaft stecken. Und in der sich die Finanzminister der (noch) mächtigen Staaten als Zuchtmeister gerieren.

Deutsche Politik ist Externalisierungspolitik. Den Wohlstand nimmt man gern hin – die Reparatur der Schäden aber, die das Ganze anrichtet, sollen andere bezahlen. Die schrecklichen Griechen zum Beispiel. Lessenich als Soziologe hat einen sehr genauen Blick auf die Argumentation, die dann jedes Mal die Medien beherrscht. Da werden nicht nur „Terroristen“ gemacht, da werden ganze Staaten und Regierungen ruckzuck für korrupt erklärt, unfähig, mit Geld umzugehen, eine einzige Vetternwirtschaft. Die nächsten Blendwerke werden aufgebaut, damit nur ja keiner daheim anfängt darüber nachzudenken, warum die Welt immer instabiler wird und selbst die eben noch so beliebten Urlaubsländer kippen und sich in Bürgerkriegszonen verwandeln.

Noch können die (billigen) Ferienflieger ausweichen und andere, friedlichere Ziele ansteuern. Aber der Kreis wird kleiner. Die Probleme, die das Auslagern der unschönen Begleiterscheinungen westlichen Wirtschaftens in der Welt erzeugt, kehren zurück, klopfen an die verrammelten Pforten Europas und Amerikas. Und das, obwohl schon weltweit überall neue Zäune und Mauern aufgebaut wurden, um Menschen daran zu hindern, Ländergrenzen zu überschreiten. Menschen, die in der Regel gar nicht aufbrechen wollen. Viele haben nicht einmal die Mittel für so eine Flucht. Deswegen leben die meisten der rund 60 Millionen Flüchtlinge auch oft direkt in den Nachbarländern jener Regionen, die ins Kriegschaos gestürzt wurden. Nur ein Bruchteil hat die Kraft und den Mut, in die wohlhabenderen Länder aufzubrechen. Niemand muss ihnen erzählen, wie unerwünscht sie dort sind. Das wissen sie – noch viel besser als alle diese falsch-besorgten Bürger. Es ist die blanke Existenznot, die sie treibt und die Hoffnung auf ein klein bisschen Goodwill.

Denn tatsächlich weisen Europas Bürokraten mögliche Einreisewillige aus all den gebeutelten Ländern schon gleich vor Ort ab, geben die Ablehnungsschreiben in den Konsulaten vor Ort aus. In den reichen Westen einkaufen kann sich nur, wer selbst reich ist.

Aber was nutzt eigentlich den besorgten Ich-will-nix-Wissern die Gnade (oder der Zufall) ihrer Geburt am richtigen Ort? Noch machen sie sich lautstark für eine noch härtere Abschottung stark. Der Brexit war ja nichts anderes, quasi eine zusätzliche Abschottung vom eh schon abgeschotteten Europa.

Aber das löst die Probleme nicht. Nicht die im Inneren, wo man ja auch fleißig all die am Rande der Armut Hausenden auffordert, die „Gürtel enger zu schnallen“, weil „wir über unsere Verhältnisse gelebt“ haben. Aber auch nicht die Probleme, die diese Lebensweise da draußen angerichtet hat. „Wir leben über den Verhältnissen anderer“, stellt Lessenich fest.

Und wir verdrängen es. Oder lassen es zu, dass es verdrängt wird, dass andere Nachrichten die wirklichen Probleme übertönen und uns gar nicht mehr bewusst wird, wie sehr unsere Wohlstandsgesellschaft davon lebt, dass der Wohlstand der ärmeren Nationen fortwährend geplündert wird. Unsere Nachrichten konstruieren diese geplünderte Welt als ein „Draußen“, stellt Lessinich fest. Er bezieht sich auf den amerikanischen Umweltforscher Rob Nixon, wenn er feststellt: „Die imperiale Lebensweise der ‚überentwickelten‘ Gesellschaften beruht zudem auf der Macht der Unwissenheit, auf einem kollektiven Habitus, den Nixon ‚imperialen Provinzialismus‘ (…) nennt: die Macht, sich über die Folgen seines Handelns nicht nur keine Rechenschaft ablegen, sondern diese nicht einmal zur Kenntnis nehmen zu müssen, das Recht auf Nicht-Wissen für sich in Anspruch nehmen zu können.“

Wenn man das so betrachtet – und jede andere Betrachtungsweise führt ja in die Irre – dann wird klarer, was hinter dem Erfolg eines Donald Trump, einer Ukip und diverser anderer, gern als populistisch bezeichneten Parteien in Europa steckt. Hier tobt sich das (gewollte) Nicht-Wissen-Wollen einer Gesellschaft aus, die nicht bereit ist, sich überhaupt noch mit den Grundlagen ihres Wohlstands und dessen sich mehrenden negativen Folgen zu beschäftigen. Das ist Vogel-Strauß-Politik, ein regelrecht kindischer Glaube, die Probleme würden verschwinden, wenn man es nur schafft, die Flüchtlinge wieder zurückzuschaffen in ihre (zu sicheren Herkunftsstaaten erklärten) Herkunftsländer.

Selten war auch deutsche Politik derart verlogen und ignorant. Und man ahnt, warum sich linke Parteien so schwer tun, dieser geballten Angst der Privilegierten (die nicht mal wissen wollen, dass sie privilegiert sind) ein politisches Konzept entgegenzusetzen. Stattdessen schwenken selbst Leute, denen man ein bisschen politischen Sachverstand zugetraut hätte, auf den Panikkurs ein. Der natürlich nur eines zur Folge haben wird: Es werden keine zukunftsfähigen Lösungen gesucht. Man macht einfach weiter wie bisher in der blinden Hoffnung, es könne irgendwie gutgehen.

Das wird es aber nicht. Denn wenn die ausgebeuteten Länder im Süden im Chaos versinken, versinkt auch der westliche Wohlstand im Chaos. Dann ändern sich die Verhältnisse auf eine Weise, die niemand mehr beherrscht.

Eines aber ist klar: Wir können unsere Probleme nicht mehr weiter externalisieren, unser ganzes Wohlstandsmodell steht zur Disposition. Und wenn es Lösungen geben soll, dann sind sie schon lange nicht mehr in der Zügellosigkeit des Neoliberalismus zu finden. Die Zeiten sind vorbei. Aus dem „Empört Euch!“ Stéphane Hessels muss ein „Tut was!“ werden, stellt Lessenich fest. Er deutet als Soziologe zumindest an, wie die Veränderung aussehen könnte. Ob es dazu kommt, liegt an uns allen. Und damit sind nicht nur die Reichen und Armen im Norden gemeint, sondern auch die Armen im Süden. Es geht nicht ohne neue politische Kooperationsmodelle, das Gegenteil dessen, was der Westen derzeit praktiziert, wenn ihm Staaten und Nasen nicht passen.

Aber Lessenich ging es auch noch nicht darum, die möglichen Rezepte einer anderen Politik aufzuzeichnen. Ihm ging es erst einmal darum, ein aufrüttelndes Buch zu schreiben, das bewusst macht, wie sehr unser Wohlstand darauf beruht, dass wir sämtliche negativen Folgen unseres Wirtschaftens exportiert und externalisiert haben. Wenn man das nicht mehr leugnet und mit Phrasen zuschüttet, dann gewinnt man erst einmal ein Bewusstsein dafür, vor welchen Aufgaben wir alle stehen. Das Aufrütteln gelingt ihm.

Jetzt ist eher die Frage: Wird der Soziologe auch von den üblichen Wirtschaftstheoretikern ernst genommen? Wird das Wissen Bestandteil im politischen und gesellschaftlichen Diskurs? Oder kauft es sich wieder nur weg, das Buch steht im Regal und alle machen so weiter wie bisher?

Das geht schief. Das steht tatsächlich schon fest.

Stephan Lessenich Neben uns die Sintflut, Hanser Berlin, München 2016, 20 Euro.

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Keine Kommentare bisher

Das scheint ein wichtiges Buch zu sein. Ich werds lesen, danke für die sehr gute Rezension.

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