Dieses Buch ist wie ein Backflash. Als wäre alles wieder auf Anfang gestellt, auf 1989, dem Jahr, als Deutschland eine einmalige historische Chance erhielt – und sie mit aller Macht gründlich versiebte. Man hat es ja beinah vergessen, dass ein Kernelement der Friedlichen Revolution einmal grün war. Grün wie die Klimagerechtigkeit.

1989 erschien die zweite Auflage von Ernst Paul und Marianne Dörflers Buch „Zurück zur Natur? Mensch und Umwelt aus ökologischer Sicht“. Die erste Auflage war 1986 erschienen – und zwar nicht nur in Frankfurt am Main, sondern auch beim Urania Verlag in der DDR. Das Buch war praktisch sofort vergriffen.

Lange vor dem Herbst 1989 hatten die Dörflers aufgeschrieben, warum die DDR auch wirtschaftlich auf dem Holzweg war, sich die falschen Ziele setzte und die Menschen genauso wie im Westen zum falschen Konsumdenken erzog, während die bildungspolitische Besessenheit von den Wundern der Technik schon die Kinder entfremdete von der lebendigen Natur, ohne die wir alle nicht existieren können.In der Friedlichen Revolution steckte auch ein apokalyptisches Element. In den Jahren davor waren eine Reihe Bücher erschienen, die literarisch oder populärwissenschaftlich beschrieben, welche fatalen Folgen die rücksichtslose Industrialisierung auch in den Ländern des Ostblocks anrichtete. Und in der DDR war zu sehen und zu riechen, wie Flüsse und Seen, Wälder und Luft belastet waren. Über den Städten hing der Smog.

Und wie die Gewässer aussahen, wusste keiner besser als Ernst Paul Dörfler, der von 1978 bis 1982 als Ökochemiker am Institut für Wasserwirtschaft in Berlin und Magdeburg arbeitete und sämtliche Zustandsdaten für die Gewässer im Osten zusammengetragen hatte. Das Papier verschwand in Ostberlin wohl zuerst im Panzerschrank und dann auf Nimmerwiedersehen. Fortan galt in der DDR ein striktes Verbot, Umweltdaten überhaupt noch zu veröffentlichen.

Was Dörfler dazu brachte, den sicheren Job zu kündigen und fortan als freier Schriftsteller seine Brötchen zu verdienen. Natürlich mit Büchern, die sich genau mit dem beschäftigten, was in der Umweltpolitik der DDR unter die Räder kam. Und das Verblüffende ist: Im Grunde greift er in „Aufs Land“ dasselbe Thema wieder auf, das er 1986 im gemeinsamen Buch mit Marianne Dörfler noch mit Fragezeichen versehen hatte. „Zurück zur Natur?“

Eigentlich gilt für das Thema ein uralter DDR-Witz: Gestern standen wir noch am Abgrund. Heute sind wir schon einen Schritt weiter.

Und wer heute so tut, als hätte er all das nicht gewusst, der kann „Zurück zur Natur?“ noch einmal lesen. Der kann auch ein Buch von Rudolf Bahro wieder lesen, dem es ja ganz ähnlich ergangen war wie Dörfler, nur dass er nach Verhaftung und Knast in den Westen abgeschoben worden war. In diesem Fall mal nicht „Die Alternative“, sondern „Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik“, erschienen 1987 in Stuttgart.

Das Wissen darum, wie in Ost wie West auf Grundlage rücksichtsloser Ressourcenausbeutung unsere Lebensgrundlagen zerstört wurden, war lange vor der Wiedervereinigung da und hätte spätestens – so betont Dörfler – ab 1994 in Politik umgesetzt werden müssen. Aus westdeutscher Sicht schon ab 1990. Aber das verhinderten ausgerechnet die Ostdeutschen, indem sie mehrheitlich die D-Mark, Helmut Kohl und „Freie Fahrt für freie Bürger“ wählten, also genau den Dreiklang, der die Klima- und die Artenkrise weiter verschärfte.

Was natürlich auch ein Zeichen dafür ist, wie stark die Suggestionen der Konsumgesellschaft sind und wie sehr Bürger Politik mit Konsum verwechseln und mit der Abgabe aller Verantwortung an der Wahlurne.

Aber für Dörfler war 1982 schon klar, dass der Weg des entfesselten Wachstums und der Zwang zur Verstädterung der falsche Weg war. Mit Freunden ging er schon damals „aufs Dorf“, gründete mit ihnen eine Dorfgemeinschaft um dort gemeinsam ein Leben abseits der städtischen Beengtheiten und hohen Umweltbelastung zu probieren. Im Grunde das erste ökologische Dorfexperiment im heutigen Sachsen-Anhalt.

Später fand er ein Häuschen in einem kleinen Dorf gleich am Biosphärenreservat Mittelelbe, Teil des 1979 eingerichteten UNESCO-Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe. Man glaubt es kaum – aber die DDR hatte schon elf Jahre vor der Wiedervereinigung mehr Biosphärenreservate als der Westen. Was den Umgang mit der Natur im Osten umso schizophrener erscheinen lässt.

Und umso vertrauter. Denn gerade in dieser Zeit, in der das Land tief in die Krise rutschte und ohne die Strauß’schen Milliardenkredite schon bald bankrott gewesen wäre, wurde alles der Wirtschaft untergeordnet, wurde alles auf Verschleiß gefahren. Es hieß zwar Planerfüllung, war aber dieselbe heilige Kuh, die heute Politik und Behörden noch immer blind macht: Wachstum. Wachstum um jeden Preis.

Heilende Wirkung der Natur

Und Dörfler hat den großen Vorteil: Er hat sich diese Entwicklung rund 40 Jahre lang aus der Außenperspektive anschauen können, hat sich mit den damals vorhandenen Mitteln und viel solidarischer Unterstützung einen Lebensmittelpunkt auf dem Dorf aufbauen können und ganz bewusst auf die Segnungen eines hohen Einkommens verzichtet.

Was auf den ersten Blick ja wie ein Verlust aussieht. Das ist ja der Punkt, vor dem sich so ziemlich alle Bewohner der Wohlstandsgesellschaft am meisten fürchten: Sich nicht mehr alles kaufen zu können und wieder auf das angewiesen zu sein, was die Natur tatsächlich hervorbringt, auf die eigene Arbeitskraft im Garten und den Kontakt zu Nachbarn, die man in der Großstadt in der Regel überhaupt nicht kennt.

Aber Dörfler weiß nun, dass der Schritt in diese Freiheit, die aus Wohlstandssicht ein absoluter Rückschritt ist, nicht nur möglich ist, sondern dass man dadurch auch wieder Verfügungsgewalt über den größten Teil seines Lebens gewinnt. Denn wer sich dem Zwang nicht mehr aussetzt, des immer weiter steigenden Einkommens wegen jeden Tag mit schwerem Gerät zur Arbeit in die zunehmend von Grün entblößten Städte zu fahren mit ihren sich aufheizenden Asphaltstraßen und Betongebirgen, der muss zwar ebenfalls rotieren, damit er kreative Projekte umsetzt, die seine Existenz sichern.

Aber gleichzeitig gewinnt er Zeit, die er sich ganz allein einteilen kann, den Blick ins Grüne, die Nähe zur Natur, zwangsläufig auch wieder uraltes Wissen über Gemüse, Obst und Kräuter im Garten. Und der Körper kommt wieder in die natürlichen, dem Menschen gemäßen Rhythmen von Tag und Nacht, zurück in den Lauf der Jahreszeiten. Logisch, dass es in Dörflers Buch ein ganzes Kapitel zur heilenden Wirkung der Natur gibt.

Und dazu muss er nicht mal irgendwelche Naturmagie beschwören. Dazu kann er einfach die Gesundheitsstatistiken der Krankenkassen zitieren, die jedes Jahr ausführlich darüber berichten, wie die sogenannten Zivilisationskrankheiten um sich greifen, die allesamt mit einer ungesunden, naturfernen und durch falsche Ernährung gegründeten Lebensweise in den großen Städten zu tun haben, mit Stress, Bewegungsmangel, Sucht.

Wir wissen zwar alle, dass wir falsch leben. Aber wir ändern unser Leben nicht. Auch dann nicht, wenn die Besserverdienenden von uns in die Speckgürtel der Großstädte ziehen – in ein klimatisch höchst bedenkliches Eigenheim aus dem Musterkatalog, mit getrimmter (biologisch toter) Wiese drumherum und täglichen Stunden beim Pendeln zur Arbeit in die Stadt.

Dörfler weiß sehr wohl, dass das mit Zwängen zu tun hat. Das war auch schon 1982 sichtbar: Die gute Ausbildung, die gut bezahlten und hochqualifizierten Arbeitsplätze gab es nur in den großen Städten. Dasselbe galt auch damals schon für das Warenangebot und die Kultur. Weniger für die medizinische Versorgung. Darin unterschied sich die DDR deutlich vom Westen: Die medizinische Versorgung war auch in den Dörfern flächendeckend gedeckt über Landambulatorien und Schwesternstationen.

Heute sind viele ländliche Regionen regelrecht Versorgungswüsten: kein Arzt, kein Supermarkt, kein Gemeindebüro, keine Polizeistation, kein Zug, kein Bus. Alles, was 1982 schon im Kern vorhanden war, hat sich seitdem noch weiter verschärft. Mit allen Problemen, die die heutigen dicht bebauten und im Sommer massiv überhitzten Städte mit sich bringen.

Und unsere beiden großen Hauptprobleme haben genau mit diesem falschen Verständnis von Wohnen, Leben und Arbeiten zu tun – die Klimakrise genauso wie das Artensterben. Denn mittlerweile gehört auch die industrielle Landwirtschaft zu den Haupttreibern von Klimaerhitzung und Artensterben.

Die Landschaften wurden ausgeräumt – und zwar nach der Vereinigung viel gründlicher, als das vorher in der DDR schon der Fall war: Hecken, Wiesenraine, Tümpel und Gräben wurden beseitigt, Moore und Nasswiesen trockengelegt, Waldinseln kamen unter den Pflug, um riesige plane Felder zu schaffen, auf denen nur noch ertragreiche Monokulturen wachsen, die mit künstlichem Dünger gepäppelt werden müssen und fast wöchentlich einer Spritzkur mit Pestiziden.

Ausweg Ökolandwirtschaft

Weshalb heute die Roten Listen in Deutschland ausgerechnet von all den Tieren und Insekten angeführt werden, die noch vor wenigen Jahren in der Feldflur zu Hause waren. Ihr Zuhause wurde plattgemacht, ihr Futter vergiftet. Und die Bauern selbst konnten sich gegen diese Entwicklung nicht wehren, denn die (Billig-)Preise in Deutschland bestimmen die riesigen Einzelhandelskonzerne, deren Besitzer nicht ohne Grund zu den reichsten Deutschen gehören.

Sie ködern zwar die Konsumenten mit „Dauertiefstpreisen“. Aber selbst von diesen Tiefstpreisen kommen nur Cents bei den Erzeugern, den Bauern an. Doch die können nicht ausweichen. Die großen Konzerne bestimmen als Monopolisten die Marktpreise.

Ein Ausweg ist nur die Ökolandwirtschaft, über deren heute zu findende Modelle Dörfler am Ende seines Buches schreibt. Denn längst finden sich wieder Menschen, die bereit sind, naturverträglich zu ackern und auch die Natur wieder zu reparieren, wo sie Landwirtschaft betreiben – klassische Biobauern genauso wie Solidarische Landwirtschaften. Und ihre Produkte verkaufen sie direkt an die Städter, die diese Projekte unterstützen und gleichzeitig wissen, dass das, was sie dafür in der Gemüsekiste finden, gesünder ist als das industriell hergestellte Grünzeug aus dem Supermarkt.

Gerade das letzte Kapitel nutzt Dörfler, um durchzudiskutieren, ob wir nicht Wege finden, die Dörfer wieder zu beleben. Denn die jungen Leute ziehen ja nicht nur weg, weil alle attraktiven Einrichtungen geschlossen wurden, sondern weil auch die attraktiven Arbeitsplätze fehlen. Die Landwirtschaft ist ja selbst zum Modell der radikalen Arbeitsplatzvernichtung geworden.

Die riesigen Felder und durchcomputerisierten Massentierhaltungen sind ja auch entstanden, um die Arbeitskräfte einzusparen und unsere (Billig-)Nahrung noch billiger herstellen zu können. Mehr qualifizierte Arbeitsplätze gibt es in der Landwirtschaft tatsächlich erst wieder, wenn die Ökolandwirtschaft deutlich wächst. Die aktuellen 10 Prozent Anteil decken nicht mal die Nachfrage nach Bio-Produkten. Und die Bauern müssen endlich auch honoriert werden dafür, wenn sie die Umwelt auf ihrem Stück Land wieder reparieren, zu echten Landschaftspflegern werden.

Was neue Qualifikationen verlangt. Aber wir sind längst so unter Druck, dass wir genau das bezahlen müssen, wenn wir nicht unsere Lebensgrundlagen verlieren wollen. Denn darauf setzen, dass unsere Nahrungsmittel dann, wenn Böden, Wälder Insektenvielfalt, Teiche, Bäche und Grundwasserkörper kaputtgehen, immer noch aus dem globalen Süden eingeflogen werden können, sollten wir aus guten Gründen nicht. Denn dort gehen Böden und Wälder noch viel schneller kaputt als in Europa. Aus der Klimakrise wird ziemlich bald eine Nahrungskrise.

Wachstums-Dilemma der Gesellschaft

Und mit gutem Recht weist Dörfler darauf hin, dass es ein ziemlich dummer Gedanke ist, wenn ein Land wie Deutschland sich von diesen unsicheren Lieferungen aus aller Welt so abhängig macht, wie wir es im ersten Corona-Jahr alle erlebt haben. Deutschland braucht eine autarke Nahrungsversorgung. Und die bekommt es auch nur, wenn vor allem die klimaschädlichen Teile unserer Nahrungsmittelproduktion verschwinden – zuallererst die Massentierhaltung, die der Haupttreiber der klimaschädlichen Emissionen ist.

Manch ein Leser dieser Zeitung wird staunen, wie viele Themen Ernst Paul Dörfler aufgreift, die seit 2004 auch zum Standard der Berichterstattung in der LZ gehören. Denn natürlich zeigt er den einzigen Weg, wie wir aus dem Wachstums-Dilemma einer Gesellschaft herauskommen, die in ihrem Wahnsinnshunger nach immer mehr vor allem unsere natürlichen Grundlagen zerstört.

Und gleichzeitig autogerechte Städte geschaffen hat, in denen Menschen ganz zwangsläufig krank werden und leiden. Denn längst wissen es auch die Ärzte, dass der Mensch vor allem darunter leidet, wenn er aus seinen natürlichen Zusammenhängen gerissen wird, wenn er keine Bäume mehr sieht und kein Vogelzwitschern mehr hört, dafür aber schon auf dem Weg zur Arbeit durch lauter Stresssituationen muss, die er nirgendwo wieder ausgleichen kann.

Ganz davon zu schweigen, dass unsere Städte über Jahrzehnte zwar regelrecht aufgerüstet wurden, um autogerecht zu werden. Aber dafür haben sie ihr Grün verloren, können mit Hitzewellen und Starkregenereignissen nicht mehr umgehen. Alles ist betoniert und kanalisiert. Wenn es jetzt immer öfter zu solchen Regenereignissen wie an der Ahr kommt, wird es noch viel mehr Ortschaften wegspülen, das Wasser wird mit ungebändigter Wucht durch die Kanäle schießen.

Logisch, das Dörfler auch auf die Rolle der Flussauen zu sprechen kommt, von denen Leipzig ja eine direkt vor der Nase hat. Flussauen, die in fast ganz Deutschland nicht mehr wirklich funktionieren, schon gar nicht als Hochwasserschutz.

Nicht ganz grundlos nennt Dörfler den Konsumzwang als wichtige Stellschraube. Das ist unser eigener Zwang, auch wenn wir oft glauben, dass wir dem nicht entkommen können, weil wir unbedingt das neueste Smartphone, den neuesten Flachbildfernseher, das neueste Automodell brauchen, oder was der Dinge mehr sind, ohne die wir nicht leben können, obwohl wir gleichzeitig einen riesigen Hunger nach echter menschlicher Nähe, nach wirklichem Welt- und Naturerleben haben, den wir aber nicht mehr befriedigen können.

Dabei schafft bewusster Verzicht Reichtum. Dörfler weiß es nur zu gut. Um all die Dinge, die wir eigentlich gar nicht brauchen, müssen wir uns auch nicht kümmern, wenn sie nicht da sind. Man kommt mit wesentlich weniger Geld aus, wenn man wirklich nur das kauft, was man wirklich braucht – und einen Großteil der Nahrung direkt aus dem eigenen Garten holen kann, und zwar dann, wenn die Früchte reif sind.

Aber so ein kleiner Nebengedanke steckt natürlich auch in Dörflers Überlegungen: Kann es sein, dass der Konsumzwang erst entsteht, wenn Menschen zu viel Geld haben, Geld, das bei ihnen den Druck erzeugt, irgendetwas kaufen zu müssen? Und zwar umso teurer und eindrucksvoller, je mehr Geld sie „übrig“ haben?

Kann es sein, dass Menschen überhaupt nicht klug mit Geld umgehen können, sondern sich vom Geld nötigen lassen, sich falsch zu verhalten? Und zwar gegen ihr eigenes Wissen darum, wie dieses Immermehr die Welt um sie herum zerstört?

Eine berechtigte Frage. Die eben auch impliziert, wie wenig die meisten Menschen darum wissen, dass sie selbst einen unerhört großen Beitrag leisten können, die Welt wieder zu einem besseren Ort zu machen. Egal, ob sie die Möglichkeit nutzen, ihr Leben wieder aufs Dorf zu verlagern (sofern es da endlich die nötigen Infrastrukturen vom Breitband bis zum Nahverkehr gibt – sage keiner, dass unsere phlegmatischen Regierenden nicht Teil des Problems sind), oder ob sie beginnen, die überhitzten Städte wieder zu lebendigen Orten zu machen. (An dieser Stelle bitte wieder der Chor der empörten Autobesitzer: …)

Und auch diese Initiativen gibt es ja von der Gründung urbaner Gärten in der Stadt über die Städte, die wieder naturnahe Parkanlagen zulassen oder die Stadtverwaltungen, die Pestizide verbieten und Laubbläser und Unkrautabflammer gleich mit. Denn eigentlich ist es ein Leichtes, die schlimmsten Lebensvernichter aus unseren Städten zu verbannen. Und Autos gehören nun einmal dazu.

Raus aus der Sackgasse

Zu Recht erwähnt Dörfler die Tatsache, dass noch immer 80 Prozent aller Gelder für Mobilität für Autobahnen und andere Kfz-Trassen ausgegeben werden, dafür viel zu wenig Geld für ÖPNV, Rad- und Fußwege. Das Auto sitzt im Kopf der Entscheider. Und es sorgt so sehr wie kaum ein anderes technisches Gerät dafür, dass unsere Situation heute so festgefahren wirkt, so, als hätten wir seit 1989 immer nur versucht, durch dieselbe Sackgasse vorwärtszukommen. Mit den fatalen Ergebnissen an Bodenverlust, zerschnittenen Landschaften, 70 Prozent Insektenverlust, von Feldtieren entleerten Feldfluren, hochbelasteten Flüssen und null Vorbereitung auf die kommenden Wetterextreme.

Ganz trocken stellt Dörfler etwas fest, was in den Köpfen etlicher unserer Politiker schlicht nicht ankommen möchte: „Unser Heimatplanet ist fragil, zerbrechlich geworden. Das Klima, die natürliche Vielfalt, die Gesundheit – sie lassen nicht mit sich verhandeln.“ Der Größenwahn des von seiner Allmacht überzeugten Menschen ist gescheitert und führt die Menschheit gerade in die größte Katastrophe, die sie je erlebt hat.

Und das alles, obwohl wir seit 40 Jahren wussten, was vor sich ging. Und gleichzeitig subventioniert die Bundesrepublik immer noch klima- und umweltschädliche Praktiken mit 57 Milliarden Euro jährlich. Es wäre also mehr als genug Geld da, um unsere Umwelt wieder in Ordnung zu bringen und jene Menschen zu bezahlen, die das als Experten und Landschaftspfleger zustande bringen.

Dörfler verweist bei seiner großen Rundreise durch die demolierte Gegenwart auf hunderte solcher Quellen, die allesamt öffentlich zugänglich sind. Und der Verlag hätte gut daran getan, sie alle auch noch einmal in einem Quellenverzeichnis zu versammeln. Für die Zweifler und Nörgler, die nie wirklich glauben wollen, wie schlimm es ist, wenn sie nicht eine amtliche Quelle gezeigt bekommen.

Ein Gang ins Umland oder ein Urlaub in einer der noch relativ intakten Landschaften wird da nicht helfen, denn diese Leute haben in der Regel kein Gedächtnis und nehmen schon ein gelbes Rapsfeld für intakte Natur. Was es meist nicht ist. Was aber alles schon verloren gegangen ist an Wiesen, Teichen, sauberen Bächen, Magerrasen, Mooren, Nasswiesen, Auenwäldern – das sieht er nicht, kann er nicht sehen.

Dafür ist der von sich selbst überzeugte Stadtbewohner in der Regel blind. Und taub. Er hört nicht mal, wenn das Surren der Insekten fehlt und die Vielfalt der Vogelstimmen. Die Natur stirbt leise vor unseren Augen. Und wer im 21. Jahrhundert groß geworden ist, hat sowieso schon nicht mehr erlebt, was 1982 oder 1986 noch alles da war.

Und so kehrt Ernst Paul Dörfler mit seinem Buch eigentlich zurück auf Anfang, dorthin, wo er einst die blindlings planenden Genossen auf den Irrsinn ihres Weges aufmerksam machte. Ein Irrsinn, der im heutigen Wachstumswahn genauso steckt. Und aus dem wir durchaus herauskommen könnten, wenn wir beginnen könnten, uns wieder als Teil der Natur zu begreifen, ohne deren Gaben wir nicht überleben können.

Nicht die von sich selbst so begeisterten Ingenieure sind gefragt, sondern die Bewahrer und Renaturierer, Menschen, die unsere Umwelt mit Wissen und Aufmerksamkeit wieder zum Leben erwecken. Und die das nicht nur in den Städten versuchen, sondern auch begreifen, dass das lebendige Land draußen vor den Städten genauso wieder gesunden muss. Auch als Gabe und Geschenk an unsere Kinder und Enkel.

Wir haben 40 Jahre verloren, weil wir uns den Konsumzwang und die Wachstumsnot haben einreden lassen. Es ist ein Buch wie eine Ermunterung: Probiert es einfach. Es ist aufregend, anstrengend und fordernd – aber es ist nicht schlimm, wenn wir uns nicht mehr von den falschen Versprechungen einer irre gewordenen Wachstumsgesellschaft pampern lassen.

Ernst Paul Dörfler Aufs Land, Hanser Verlag, München 2021, 22 Euro.

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