Reinhard Münch ist der Autor in Leipzig, der sich am intensivsten mit all den bunt zusammengewürfelten Truppen beschäftigt, die in den napoleonischen Kriegen zum Einsatz kamen. Und verfolgt damit die eigentlich wichtigste Idee, die auch im Leipziger Völkerschlachtdenkmal steckt: zu würdigen, wie viele Menschen unterschiedlichster Nationen sich in diesen Schlachten als „Feinde“ gegenüberstanden.

Denn dahinter steckt auch eine ethische Dimension, die fast immer ausgeblendet wird, wenn Historiker über all diese Schlachten schreiben, die Könige, Generäle, die Ausrüstung, die Zahlen. Zahlen, in denen das Leben der eingesetzten, verwundeten, getöteten Soldaten völlig verschwindet. Soldaten, die fast alle nicht freiwillig in diesen Schlachten waren.Und die ganz bestimmt nicht träumten von dem Tag, an dem sie in ihren Kohorten in die Schlacht geführt wurden. Was sicher auf der Ebene der Offiziere schon ganz andres war. Aber selbst im kurzen Gespräch mit Reinhard Münch wird deutlich, dass wir darüber sehr wenig wissen. Denn Erinnerungen an all das konnten nur jene aufschreiben, die es überlebten.

Und natürlich sind diese authentischen Aufzeichnungen heiß begehrt. Sie erzählen manchmal das, was in den offiziellen Bulletins eben nicht steht, vom Chaos in der Schlacht, dem Leiden und Sterben, von Momenten der Menschlichkeit und Szenen der gleichgültigen Brutalität. Denn in der Schlacht geht es nur noch ums blanke Überleben, wird der einzelne Soldat zum Teil einer riesigen Maschine, in die die Truppen manchmal regelrecht verheizt werden.

Und das ist auch die Kluft, die sich auftut, wenn man die von Münch gesammelten Berichte liest und gleichzeitig liest, wie Napoleons Große Armee in diesem russischen Herbst und Winter verreckte. Regelrecht verheizt wurde. Von den 475.000 Mann, die mit Napoleon die russische Grenze überschritten hatten, kehrten nur noch 60.000 mit ihm zurück.

In seinem Roman „Im Aufwind der Macht“ hat Wolfgang David ebenfalls auf Grundlage solcher Erinnerungen sehr plastisch beschrieben, wie die Soldaten schon in der Schlacht von Borodino starben und später auf dem Rückmarsch von Moskau regelrecht aufgerieben wurden, verhungerten und erfroren.

Wie sie sich aber auch aufopferten – so wie die holländischen Pontonniere beim Brückenbau an der Beresina. Sie ertranken oder verkühlten sich beim Aufenthalt im eiskalten Wasser so stark, dass die meisten in den Folgetagen starben. So ist es durchaus ein seltener Fund, wenn auch ein überlebender holländischer Offizier berichten kann über die Ereignisse an der Beresina.

Mit seiner kleinen Übersicht macht Münch sichtbar, wie sehr Napoleons Grande Armée eigentlich eine europäische Armee war, zusammengesetzt aus den französischen Truppen und den Truppen der Verbündeten. Dass die Sachsen dabei waren und ihre Truppen in diesem russischen Winter fast völlig aufgerieben wurden, hat ja David sehr anschaulich erzählt.

Aber Münch lenkt den Blick auch auf Truppenkontingente, an die man meist gar nicht denkt, wenn Napoleons Russlandfeldzug thematisiert wird. Sowohl im Kapitel Borodino als auch im Kapitel Beresina bekommen diese beteiligten Landsmannschaften eigene Unterkapitel – zumindest, wenn es historische Quellen dazu gibt.

So erfährt man eigentlich erstmals in dieser Kürze und Knappheit, was für eine wichtige Rolle nicht nur die sächsischen Einheiten bei diesem Russlandfeldzug spielten, sondern auch die gut geschulten und ausgerüsteten Einheiten aus Bayern, Württemberg, Westphalen (dem damaligen Königreich Westphalen) und Polen.

Manches erscheint einem viel zu knapp. Etwa der Abschnitt zu den Polen, die sich in den napoleonischen Feldzügen besonders auszeichneten, denn für sie ging es um die Wiederherstellung ihres Vaterlandes, sie hatten etwas zu gewinnen, wenn Napoleon siegte. Und umso heftiger waren ihre Verluste.

Manche Nationen begegnen einem erst im Kapitel Beresina – nicht nur die Holländer, sondern auch die Badener, Schweizer, Hessen und Berger. So rücken auch einmal die kleineren Fürstentümer ins Bild, die ihre Kontingente zu stellen hatten, alles sauber nach Bevölkerungszahl und Proporz gerechnet.

Was die zitierten Berichte freilich auch sehr deutlich machen, ist die Unübersichtlichkeit des Geschehens selbst aus Sicht der beteiligen Offiziere. Man bekommt durchaus auch eine Ahnung davon, wie sehr damalige Feldzüge und Schlachtenverläufe davon beeinflusst waren, wie gut die Feldherren über alle Truppen, Stellungen, Verluste und die Bewegungen des Gegners informiert waren.

Oder eben nicht informiert waren, weil Befehls- und Versorgungsketten rissen und ganze Landschaften verwüstet waren. Napoleon selbst scheint nur ganz kurz auf, die zentrale Gestalt, um die sich für die beteiligten Mannschaften alles drehte. Am Ende kommt auch er nur noch mit letzter Not über die Beresina, rettet den Kern seiner Truppen, überlässt aber die meisten Soldaten der Verbündeten ihrem Schicksal. Ein Schicksal, über das niemand wirklich berichten kann, weil Tote nichts erzählen können.

Reinhard Münch hat dem Buch wieder Grafiken mit zeitgenössischen Zeichnungen der beteiligten Truppen beigegeben, sodass man auch einen Eindruck bekommt, wie sie uniformiert waren, als sie sich dem riesigen Armeetross anschlossen. Einige wenige Bilder zeigen dann auch die dramatischen Ereignisse bei Borodino und an der Beresina, Bilder, die freilich der (späteren) Phantasie der Schlachtenmaler entsprangen.

Die wirklichen Tragödien werden eher in den zitierten Erinnerungen spürbar, wenn die Beteiligten – oft aus der späteren Erinnerung heraus – versuchen, das Erlebte in Worte zu fassen. Wohl wissend, dass diese Ereignisse eben nicht nur welthistorisch waren, sondern auch etwas, was in seiner tiefen Tragik die historischen Erzählweisen sprengt.

Hätten sie es nicht aufgeschrieben, würde uns ein ganz wesentlicher Teil der Erinnerung fehlen. Denn Feldherren veröffentlichen stets nur die geschönte Variante der Ereignisse, möchten vor den „Augen der Geschichte“ stets genial und siegreich dastehen. Dass sie freilich in ihren Schlachten die Leben von zehntausenden jungen Männern verheizen, kommt in den Bulletins nie vor. Denn genau hier steckt die menschliche Dimension. Nicht in den Feldzugsberichten.

Dass ihre Söhne und Geliebten im russischen Winter verreckt sind, erfuhren ja die Daheimgebliebenen meist nur durch ein Ausbleiben aller Nachrichten. Es dauerte lange, bis auch in Sachsen und Württemberg und Hessen die Gewissheit wuchs, dass die Große Armee praktisch ausgelöscht war und die zum Dienst zusammengetrommelten Männer nicht zurückkehren würden.

Mit dem Buch setzt Münch eine ganze Reihe von Titeln fort, mit denen er die einzelnen Landeskontingente würdigt, die für Napoleon in den Krieg ziehen mussten. Doch während er dort die einzelnen Länder und Fürstentümer in den Mittelpunkt stellte, fokussiert er jetzt mit einer neuen Reihe auf die großen (Schlachten-)Ereignisse, die die napoleonische Zeit markieren und in denen Truppen aus deutschen Fürstentümern immer wieder auch in den napoleonischen Armeen eingesetzt wurden.

Deutschland war eben nicht nur besetzt – die zu „Verbündeten“ gemachten Fürstentümer wurden auch dazu eingespannt, Napoleons Armeen aufzufüllen und seine Kriegszüge zu unterstützen. Bis zur großen Schlacht bei Leipzig, wo Truppen aus deutschen Landesteilen auf beiden Seiten kämpften, die Preußen aber – die 1812 noch mit Napoleon nach Moskau ziehen mussten – diesmal aufseiten der Russen.

Und ein Teil der Sachsen wechselte ja während der Schlacht die Seiten, sehr zum Ärger Napoleons, der nur zu gern die Truppen der Verbündeten dazu einsetzte, seinen Rückzug zu decken. Das war an der Beresina genauso wie in Leipzig. In dem Büchlein steckt auch ein wenig Entzauberung des Mannes, der ja auch die eigenen frisch ausgehobenen Soldaten rücksichtslos verheizte, wenn er damit Schlachten gewinnen konnte.

Und Münch hat noch nicht einmal alle Nationen erfasst, die mit nach Russland mussten. Die Österreicher etwa fehlen noch und die sächsischen Herzogtümer (Sachsen-Weimar usw.). Allein der Rheinbund musste 130.000 Soldaten stellen. „Solche Truppenstärken waren durch freiwillige Werbung alleine nicht zu erreichen, sodass in diesen Ländern die Wehrpflicht (Konskription) immer weiter ausgebaut werden musste“, heißt es auf Wikipedia.

Und das hörte ja nach dem Russlandfeldzug nicht auf. Danach wurden neue Truppen ausgehoben für neue „welthistorische“ Schlachten. Ein blutiges Zeitalter, in dem Borodino und Beresina bis heute für den immer neuen Irrtum westlicher Feldherren stehen, sie könnten Russland einfach mal so mit ihren Armeen überrennen. Aber lernen die von Macht Berauschten jemals aus der Geschichte?

Wie es aussieht, eher nicht. Sie sehen nicht das Leid, das sie anrichten, nicht die Not und nicht den Zorn der Besiegten. Die Schlacht können sie vielleicht noch einigermaßen überschauen. Was jenseits des Schlachtfeldes passiert, ignorieren sie meist. So wie Napoleon in Spanien und Russland. Und neuere Strategen in Afghanistan.

Umso wichtiger ist es, die Erinnerungen der Soldaten zu bewahren, die dabei waren und gesehen haben, wie der Krieg alles verschlingt.

Reinhard Münch 1812 – Mit Napoleon in Borodino und an der Beresina, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2021, 12 Euro.

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