Dieses Buch war eigentlich schon eine ganze Ecke früher geplant – nämlich zum Bachfest 2020, als Leipzig unter dem Motto „BACH – we are family!“ zum Treffpunkt für Bachfreunde und Chöre aus aller Welt werden sollte. Und dann musste das Bachfest wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Die große Bach-Community hätte sich über eine zweisprachige Biografie auf neuestem Forschungsstand natürlich riesig gefreut.

Und sie wird sich auch jetzt noch freuen, da der Lehmstedt Verlag das opulent bebilderte Buch auch ohne Bachfest herausbringt, mit englischen und deutschen Texten, sodass auch die englischsprachige Bach-Welt in lesenswerten kurzen Texten erfährt, wo man in Leipzig inzwischen steht bei der Erforschung von Leben und Werk des berühmten Thomaskantors.Man unterschätzt Michael Maul ja nur zu leicht, weil er sehr lebendig erzählen kann und auch schreiben. Was ihn deutlich von vielen ernsthaften Forschern unterscheidet, die selbst mit jeder Menge Kaffee nie über einen trockenen, höchst theoretischen Schreibstil hinauskommen.

Maul adressiert seine Texte nicht nur an das wissenschaftliche Publikum. Was er 2014 schon bewiesen hat mit dem ersten Band der dreibändigen Reihe „Musikstadt Leipzig“ aus dem Lehmstedt Verlag, in dem es bis ins 18. Jahrhundert ging. Sein 2012 ebenfalls bei Lehmstedt erschienenes Buch „Dero berühmter Chor“ über den Thomanerchor und seine berühmten Kantoren ist längst vergriffen. Natürlich auch, weil Maul seine Leser/-innen manchmal geradezu spielerisch mit hineinnimmt in eine nur auf den ersten Blick ernsthafte Materie.

Auf den zweiten Blick entdeckt man immer Menschen wie unsereins, begabte und manchmal auch unbegabte, Spieler und Gegenspieler, Musikverliebte und trockene Bürgermeister, einen übermächtigen Vater und Kinder, die in seine Fußstapfen traten, Frauen, ohne die so ein Kantoren- und Kapellmeisterhaushalt nie funktioniert und von denen trotzdem keine Bildnisse existieren.

Ein Leben in 141 Puzzle-Teilen

Und dass Leipzig überhaupt zwei authentische Bildnisse von Johann Sebastian Bach besitzt, erweist sich immer mehr als Glücksfall. Auch weil es aus dem alltäglichen Leben Bachs so gut wie keine Zeugnisse gibt. Jeder, der sich an einer Bach-Biografie versucht, kommt ohne Rekonstruktionen nicht aus. Dass man dabei sehr weit gehen kann, hat ja John Eliot Gardiner mit seinem 2103 erst auf Englisch, dann 2016 auch auf Deutsch veröffentlichten Buch „Bach. Musik für die Himmelsburg“ gezeigt.

Als musikalischer Praktiker hat Gardiner ja auch Bachs Kompositionen als Ausdruck seiner Persönlichkeit gewertet und interpretiert. Und damit natürlich seinen eigenen Bach erzählt. Einen, den viele Bachverehrer/-innen durchaus nachempfinden können.

Prof. Dr. Michael Maul als Musikwissenschaftler kann sich so der historischen Persönlichkeit natürlich nur bedingt annähern – auch wenn in vielen seiner kleinen Texte deutlich wird, dass auch für ihn die Kantaten, Klavierstücke und Oratorien Bachs sprechende Musik sind. Musik, für die man sich einfach begeistern muss, wenn man Ohren und Herz öffnet für diese Musik.

Aber noch stärker getragen wird sein Buch natürlich durch die seit gut zehn Jahren forcierte Suche am Leipziger Bach-Archiv nach allen auch nur irgendwie erkundbaren Spuren Bachs in allen nur erdenklichen Archiven und Sammlungen. Und dass die Suche Erfolg hat, zeigen ja immer neue Erfolgsmeldungen aus dem Bach-Archiv.

Wenn Musik die Gottesdienste sprengt

Oft sind es die schriftlichen Zeugnisse seiner Schüler, einstiger Thomaner, die selbst als Musiker beruflich tätig waren, in denen Blitzlichter aus dem Leipziger Bach-Kosmos sichtbar werden. Oft ganz banale Dinge, die aber meist viele neue Fragen aufwerfen. Wie sah es in Bachs Haushalt mit den vielen Kindern aus? Welche Folgen hatte der Ärger mit der Obrigkeit und dem staubtrockenen Rektor Ernesti? Welche Rolle spielte die neue Satzung für die Thomasschule, die Bach bei seinem Dienstantritt 1723 noch gar nicht kannte?

Aber natürlich wird auch der selbstbewusste junge Mann sichtbarer, der schon in frühen Jahren ältere Kollegen an die Wand komponiert. Der so gut ist, dass zwar hochkarätige Musikerkollegen wie Telemann, Buxtehude und Reincke sein Talent würdigen – aber manche Fürsten und Ratsherren von dieser Musik nicht nur überfordert sind, sondern regelrecht abgestoßen.

Was ja das Drama nicht nur in Leipzig war, sich hier aber tatsächlich auch zum Lebensdrama aufschaukelte. War Bach doch extra aus Köthen nach Leipzig gewechselt, weil er hier die Chance sah, mit einem damals schon für seine Qualität berühmten Knabenchor zu arbeiten und eine „wohl bestallte Kirchenmusik“ auf die Beine zu stellen.

Viele kleine Kapitel erzählen von seinen „Fluchtversuchen“, seinem Vortasten an Königshöfen und bei Musikerkollegen, ob es nicht anderswo ein Amt für ihn gäbe. Doch Maul macht auch recht deutlich, dass selbst der Wechsel von Köthen nach Leipzig für den knapp 40-Jährigen schon eine herausfordernde Entscheidung war. Gerade der plötzliche Tod seiner ersten Frau hatte ihm vor Augen geführt, wie endlich das Leben auf Erden ist.

Selbst seine talentierten Brüder starben viel zu früh. Und eigentlich war es auch gar nicht zu erwarten, dass er nach dem Wechsel nach Leipzig noch ein derart gigantisches Kantaten- und Oratorienwerk vorlegen würde. Quasi im Wochentakt eine neue Komposition auf höchstem Niveau – geschrieben, einstudiert und mit den Thomanern aufgeführt.

Mit den Besten der Zeit auf Augenhöhe

Anhand einiger der überlieferten Zeitzeugnisse diskutiert Maul das, was man weiß, was das jeweilige Fundstück über Bachs Leben und vielleicht auch seine Visionen erzählt. Und er erzählt natürlich auch, wie die Forscher oft völlig unscheinbare Dokumente zum Sprechen bringen, wie alte Legenden widerlegt werden und neue Thesen immer belastbarer.

Und auch wenn nach wie vor gilt, dass Dokumente zu Bachs Leben ausgesprochen rar sind, gelingt es auch ihm, eine komplexe Persönlichkeit zu zeichnen, einen Mann, der einerseits einer großen Thüringer Musikerfamilie entstammte, der aber früh schon einen Eigensinn und ein Selbstbewusstsein entwickelte, das auch für die Bach-Familie nicht üblich war. Denn da wurde man zwar meist ein anerkannter Organist, Kantor oder Stadtmusikus.

Aber Johann Sebastian scheint der erste gewesen zu sein, der wirklich auch die besten Musiker seiner Zeit kennenlernen wollte und sich bei jeder Gelegenheit die neuesten Entwicklungen in der Musik erschloss. Erst das macht ja den Reichtum seiner Kompositionen verständlich. Das, was neidische Zeitgenossen so gern „opernhaft“ nannten, was aber zumeist seine Anregungen aus der neuesten französischen und italienischen Musik bezog.

Etwas, was Maul sehr anschaulich erzählen kann und was auch dem heutigen Leser deutlich macht, warum dieser Bach in Mühlhausen, Weimar, Arnstadt, Köthen und letztlich Leipzig jedes Mal die alten Hörgewohnheiten sprengte, die konservativen Herrschaften zutiefst frustrierte und wahrscheinlich wirklich auch das Publikum oft überforderte.

Überforderte Hörgewohnheiten

Es ist uns ja kaum noch bewusst, dass man auch Musikhören erst lernen muss und dass Johann Sebastian Bach in eine Welt hineingeboren wurde, die ihre ehernen alten Musiktraditionen hatte und ein Publikum, das eben nicht jeden Tag mit Musik zu tun hatte wie wir heute, wo sie aus allen Kanälen dudelt. Live-Musik war für den normalen Zeitgenossen nur in der Kirche und vielleicht noch im Gasthaus erlebbar.

Und man kann die Überforderung durchaus ahnen, wenn Bach mit seinen grandiosen und auch grandios besetzen Stücken dann regelrecht den Gottesdienst sprengte. Auch wenn seine Leipziger Musik im Grunde Gottesdienst pur war. Selbst dann, wenn er eigentlich weltliche Stücke – wie die Huldigungsmusiken für das sächsische Königshaus – in religiöse Musik verwandelte, die uns aber heute noch beim Zuhören dahinschmelzen lässt: „Jauchzet, frohlocket …-“

Und im Grunde schreibt Maul ja so. Es ist ein einziges Jauchzen, weil sich hier einer wirklich mit Leib und Seele für die Musik dieses Leipziger Thomaskantors begeistert und in ihr eben auch den Mann sucht – und manchmal auch findet – der sie komponiert hat. Oder der regelrecht tobte, wenn ihm sture Zeitgenossen Steine in den Weg legten, den Ausnahmechor mit sangesunfähigen Knaben bestückte und ihn letztlich in eine Situation brachte, in der er nicht wirklich mehr ausbrechen und weiterziehen konnte.

Dazu sind die Dokumente zwar rar – gerade zu den 1740er Jahren. Aber manches deutet eben darauf hin, dass er dann doch lieber zurücksteckte und den Leipzigern die Musik gab, die sie haben wollten.

Irgendwann hat jeder mal die ewigen Kämpfe satt – auch die gegen Kleingeister. Man versteht ja sogar den Leipziger Rat, der in der Thomasschule gern mehr Leipziger Bürgersöhne unterbringen wollte und die Schule stärker wissenschaftlich ausrichten wollte. Aufklärung in einem sehr strengen Sinn, der im orthodoxen Leipzig auch stark lutherisch geprägt war.

Das kollidierte mit einem regelrechten Aufbruch in der Musik genau in dieser Zeit, in dem Bach nur ein besonderer sächsischer Vertreter war. Aber es war auch ein schon von Zeitgenossen kritisierter Irrweg der Frühaufklärung, dass sie Wissenschaftsverständnis mit Sinnenfeindlichkeit verwechselte.

Musik als ernsthafte Sache

Was ja selbst noch im Wahlspruch des noch zu Bachs Zeiten gegründeten Großen Konzerts steckt, aus dem dann das Gewandhausorchester wurde: „Res severa verum gaudium“, meist übersetzt mit „Wahre Freude ist eine ernste Sache.“

Ein Spruch, den Bach wohl eher nicht als Leitspruch gewählt hätte, auch wenn viele der Szenen, die Michael Maul schildert, natürlich von einem Komponisten und Kantoren erzählt, der höchste musikalische Perfektion als Arbeitsethos vertrat und Schüler, die dem nicht entsprechen wollten, auch schon mal mit Lärm von der Empore jagen konnte.

Aber seine Musik erzählt eben nicht von dieser staubtrockenen Ernsthaftigkeit der Frühaufklärung, die Sinnenfreude gar mit Unmoral verwechselte (was manche Leute ja bis heute tun), sondern vom Gegenteil: unbändigem Leben. Da erscheint dann der Streit des Leipziger Rats mit dem „incorrigiblen Kantor“ in einem anderen Licht. Auch einem, das bis heute den Streit über Rolle und Folgen der Aufklärung durchzieht.

Aber schon im nächsten Moment erscheint auch dieser im Amt so getriezte Bach in völlig anderem Licht, wenn man ihn im Kaffeehaus das „collegium musicum“ dirigieren sieht. Es gab also auch das andere, sinnenfrohe Leipzig, das sich gern auch in der „singenden Muße an der Pleiße“ wiedererkannte, das aber augenscheinlich nicht identisch war mit den strengen Juristen und Kaufleuten im Leipziger Rat.

Noch so eine offene Forschungsfrage. Aber Michael Maul zeigt eben sehr anschaulich und lebendig, was die Forschung über einen Musiker wie Johann Sebastian Bach herausbekommen kann, wenn man auch nur die kleinsten aktenkundigen oder in Erinnerungen festgehaltenen Lebensspuren des Mannes unter die Lupe legt, sie einordnet und anhand des schon Bekannten interpretiert.

Ganz bestimmt kein Provinzkantor

Am Ende hat man einen ähnlich von Kreativität und Schaffensfreude getriebenen Musiker, wie ihn auch Gardiner schildert. Da und dort mit den wirklich belastbaren Forschungsergebnissen geerdet, weniger hymnisch, aber vielleicht gerade deshalb wird Bach noch besser zu verstehen in seinem Aufbegehren, auch seinem Verstummen und auch seiner späten Demütigung durch den intriganten Premierminister Heinrich Graf von Brühl.

Auch das macht Maul eben deutlich: Dass dieser Bach, selbst wenn ihm der Rat mit provinzieller Engstirnigkeit begegnete, so groß war, dass er selbst in der Landespolitik zum Stein des Anstoßes wurde. An solchen Kerlen reiben sich natürlich die kleinen und die großen Mächtigen nur zu gern.

Die sind immer eine Herausforderung. Auch über ihren Tod hinaus. Wobei Johann Sebastian Bach ja selbst in seinen letzten Jahren weiter schöpferisch arbeitete und etwa mit der h-Moll-Messe seine „Mona Lisa“ schuf. Auch die Musikkritiker suchen ja nur zu gern nach den größten und einprägsamsten Vergleichen.

Aber bei Bach stimmt es schon. Und die nach 1800 eingeleitete Bach-Renaissance, die Maul natürlich auch noch skizziert, war eben auch ein sehr spätes Leipziger Hellewerden darüber, was für einen Kantor man da eigentlich gehabt hat. Weshalb Maul vielleicht gar nicht so unrecht hat, diesen scheinbar so streng dreinblickenden Kantor zum Schluss mit dem ikonografischen, die Zunge herausstreckenden Albert Einstein zu verschmelzen. Für beide war der Kosmos der Maßstab aller Dinge. Und Einstein zitiert er natürlich auch noch mit Wonne: „Was ich zu Bachs Lebenswerk zu sagen habe: Hören, spielen, lieben, verehren und – das Maul halten!“

Ein Buch eben für alle, die neben dem Riesenwerk auch den Mann ein bisschen kennenlernen wollen, der dieses Riesenwerk geschaffen hat.

Michael Maul Bach. Eine Bildbiografie, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2021, 30 Euro.

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