Es sollte eine Abschiebung werden, doch der „Einsatzgrund ändert sich manchmal“, wie Polizeisprecher Chris Graupner gegenüber LZ betont. Seit dem Eintreffen der Polizeikräfte droht der betroffene Mann aus dem Fenster zu springen. Seither entwickelt sich rings um die Alfred-Kästner-Straße 44 zur Stunde die Situation dynamisch.

Was beim Eintreffen der LZ-Reporterin sofort stutzig machte, war die Anwesenheit von Rettungskräften. Über den Grund der Abschiebung ist zur Stunde noch nichts weiter bekannt, aber das ist mittlerweile auch für die Polizeikräfte nebensächlicher geworden, so die Tonlage von Polizeisprecher Graupner: „Jetzt geht es darum, das Leben des Mannes zu schützen.“ Man versuche aktuell die Lage „so sensibel wie irgend möglich“ zu lösen.

Die Suizidabsichten des zur Abschiebung vorgesehenen Menschen stehen also derzeit vor Ort im Mittelpunkt. Geht alles gut aus, dürfte also eher ein Aufenthalt in einem Krankenhaus anstehen, als eine Verbringung in ein Flugzeug.

Noch ist die Lage vor Ort jedoch unklar – auch der Protest von Anwohnern und Hinzugerufenen ist mittlerweile auf beiden Zufahrtsseiten der Kästnerstraße vor Ort und protestiert lautstark gegen das Abschiebevorhaben.

Update 13:40 Uhr: Die Demo wächst

Die Herkunft des Abzuschiebenden soll angeblich Palästina sein, bestätigt ist dies noch nicht. Unterdessen soll sich der Mann verletzt haben, so erzählen es vor Ort Nachbarn, die einen kleinen Einblick im Innenhof des Gebäudeskomplexes von gegenüber der Wohnung haben, in welche die Polizei heute gegen Mittag wollte. Unterdessen wurde ein Mann abgeführt, bei welchem es sich um einen Verwandten des Geflohenen handeln soll.

In der Einfahrt des Wohnhauses steht seit einigen Minuten eine Krankenliege – die Einsatzkräfte wollen den Mann also eher in ein Krankenhaus transportieren. Dieser soll sich am Arm selbst verletzt haben.

Die Demonstration an beiden Seiten der Kästnerstraße, hier also an der Karl-Liebknecht und der parallelen Bernhard-Göring-Straße ist unterdessen auf 30 bis 40 Menschen pro Kreuzung angewachsen. Im Netz wird bereits mobilisiert, vor Ort zu kommen.

Nach ersten Informationen blockieren einige Protestierende die Durchfahrt des Sondereinsatzkommandos (SEK), welches offenkundig vor Ort zum Einsatz kommen soll.

14 Uhr: Polizei räumt Demo, SEK bereitet Einsatz vor

Derzeit bietet sich ein eher ambivalentes Bild in der Kästnerstraße. Beamte mit Sturmhauben sind aufgetaucht, mindestens ein Beamter hat laut vorliegenden Bildern eines Anwohners eine Maschinenpistole aus einem Einsatzwagen geholt.

Die Demonstration, welche sich auf der Seite Bernhard-Göring-Straße am Amtsgericht zu einer Sitzblockade entwickelte, haben die Einsatzbeamten mittlerweile geräumt. Das SEK ist vorgefahren und bereitet sich auf einen Einsatz vor.

Das Ziel ist offenkundig: der Mann soll aus dem Gebäude geholt werden. Die ersten Beamten sind offenbar bereits in einem Nachbargebäude unterwegs.

14:20 Uhr: Flüchtlingsrat meldet sich zu Wort

Unterdessen hat sich der Sächsische Flüchtlingsrat zugeschalten und teilt per Twitter Einzelheiten zum Geflohenen mit. Mohammad K. sei staatenlos, käme aus dem Gebiet  Palästinas und habe mitgeteilt, dass es ihm „wieder gut“ gehe, wenn die Polizei weg ist. Dazu wird es jedoch nicht kommen.

Die SEK-Beamten haben soeben das Gebäude auch durch den Vordereingang unter den Protest-Rufen „Haut ab“ betreten (siehe Video).

14:40 Uhr: Die Lage spitzt sich zu

Die Lage spitzt sich nun doch zu. So legen es Berichte nahe, die Anwohner liefern, die vor Ort Einblicke in die Wohnung des Mannes haben, der gerade vom SEK aus dieser geholt werden soll. Nach diesen Angaben soll der Mann sich immer weiter verletzten, da er die Entwicklungen, dass man ihn aus der Wohnung holen will, wohl mitbekommen hat.

Unterdessen wird sich um einen Anwalt für den Mann bemüht. Selbst Anwohner dürfen aktuell nur in Begleitung von Polizeibeamten in den umliegenden Häusern in ihre Wohnungen.

Nachtrag: Nach ersten Beobachtungen vor Ort ist der SEK-Einsatz nicht wirklich „durchgezogen“ worden. Man verhandelt wieder mit dem Mann. Auf der Kästnerstraße werden derweil Autos weggeräumt.

15:08 Uhr: Verhandlungen

Der hinzugekommene Jurist ist Stadtrat Jürgen Kasek (B90/Die Grünen), welcher nun die Verhandlungen auch im Sinne des Mannes in der Wohnung zumindest begleitet. Noch immer ist die Situation nicht gelöst, offenbar befinden sich SEK, Kasek und der Mann im Bereich Wohnung und Hausflur. Seit 40 Minuten versuchen nun also letztlich alle, den Mann irgendwie zum Aufgeben und zum Verlassen der Wohnung zu überreden, auch, um die Selbstverletzungen zu stoppen.

Ob dabei die Bedrohung mittels SEK sinnvoll ist, ist in der Verantwortung der Polizei. Derzeit werden jedenfalls Worte gewechselt, um eine Lösung zu finden. Die Journalisten wurden aufgefordert, den Nahbereich um das Haus zu verlassen, die Straße ist weitgehend beräumt.

15:20 Uhr: Statement der Polizei

Laut Chris Graupner handelt es sich entgegen der Auskunft des sächsischen Flüchtlingsrates nach Kenntnis der Polizei um einen jordanischen Staatsbürger, mit welchem sich derzeit „auf verbaler Ebene“ auseinandergesetzt würde.

Damit betont der Polizeisprecher nochmals, dass eine friedliche Lösung angestrebt ist. Der Einsatz selbst laufe bereits seit 9:30 Uhr und gehe auf eine Abschiebeanweisung der Landesdirektion Sachsen zurück.

15:30 Uhr: Offizielle Durchsagen

Die Demonstration an der Kästnerstraße ist weiter angewachsen. Wie viele Personen sich aktuell genau an den Protesten beteiligen, ist noch unklar, aber schätzungsweise um die 150 dürften es sein.

Die Polizei arbeitet mittlerweile mit offiziellen Durchsagen vor Ort. In einer heißt es, dass der Mann in ein Krankenhaus kommen soll und (heute) nicht abgeschoben wird.

15:30 Uhr – Genaue Zahlen zur Demo sind schwer: an beiden Seiten der Kästnerstraße haben sich Menschen gesammelt. Foto: LZ

15:45 Uhr: Ein Zuhörer auf Twitter

Der Aktivist und Journalist Marco dos Santos ist offenbar in einem Nebenhaus der Kästnerstraße 44 unterwegs und kann den Gesprächen der Verhandlungen lauschen. Interessantes Detail dabei: der von der Abschiebung betroffene Mann erzählt, dass er gerade auf seiner Arbeitsstelle aufsteigen, also „Schichtleiter“ werden wollte und dann habe man ihm plötzlich gesagt, er brauche nicht mehr auf Arbeit kommen.

Welcher Art das Beschäftigungsverhältnis war und ob die Angaben alle stimmen, ist zwar damit noch unklar. Dennoch stellt sich mal wieder die gute alte Frage, wer hier eigentlich abgeschoben werden soll. Offenbar jemand, der nicht nur seit sechs Jahren in Deutschland lebt, sondern auch einem Brotwerwerb nachgeht. Da fällt einem doch glatt wieder ein, dass alle Branchen aktuell wegen Fachkräftemangel jammern.

Offenkundig kann der Mann sich auch sehr gut verständigen und bat erneut um den Abzug der Polizei.

Mittlerweile versperrt die Demo auf der einen Seite der Kästnerstraße auch eine Fahrbahn der Karl-Liebknecht-Straße.

16 Uhr: Stadtrat Jürgen Kasek zu seinem Kenntnisstand

Heute soll es keine Abschiebung mehr geben, bestätigt auch Jurist und Stadtrat Jürgen Kasek. Nach seiner Kenntnis habe der Betroffene keine Genehmigung zu einer Ausbildung erhalten und sei aufgrund der jetzigen Lage verzweifelt.

Derzeit bemühe man sich, die Zusicherung heute keine Abschiebung mehr durchzuführen schriftlich zu bekommen, damit am morgigen Tag die Zeit bleibt, einen Eilantrag bei Gericht wegen des weiteren Verbleib des Mannes einzureichen. Dieser befindet sich noch immer in seiner Wohnung, während sich im Hausflur nun Sanitäter und Feuerwehr zu einem Einsatz bereitmachen.

16:30 Uhr: Rettungswagen und schriftliche Bestätigung sind da

Jetzt könnte es nach immerhin achtstündigem Polizeieinsatz auch für den Betroffenen vorangehen. Laut Stadtrat Jürgen Kasek (Grüne) gegenüber LZ liegt nun die schriftliche Bestätigung der Aussetzung der Abschiebung vor. Damit bliebe nun Zeit, nochmals den Rechtsweg zu versuchen.

Unterdessen ist auch der Rettungswagen eingetroffen, welcher den verletzten Mann in ein Krankenhaus bringen soll.

17 Uhr: Fazit – Purer Wahnsinn

Ein Mensch soll abgeschoben werden und wehrt sich, indem er beginnt, sich selbst zu verletzten. Vielleicht macht der heutige Tag klar, was es für so manche Menschen bedeutet, die nicht in Deutschland geboren sind und nie in den Genuss der auch so schon durchaus komplizierten, hiesigen Normalitäten gekommen sind, hier bleiben und leben zu dürfen.

Über acht Stunden hat der Mann sich gewehrt, sich selbst verletzt, die Angst vor einer Stürmung seiner Wohnung erlebt. Um am Ende die kleine, ja fast aussichtslose Chance zu bekommen, dass sich nun ein Gericht noch einmal seinen Fall anschaut.

Schlimmer noch: seit sechs Jahren lebt er laut sächsischem Flüchtlingsrat in Deutschland, nach allen derzeit vorliegenden Informationen wurde er entweder an einer anerkannten Ausbildung gehindert, obwohl er sich nach eigenen Angaben bereits ins Arbeitsleben integriert hat. Oder es wurde einfach nie akzeptiert, dass hier jemand, wie so viele, wirklich bleiben möchte.

Alles, was heute geschehen ist, sein massiver Widerstand und der Polizeieinsatz selbst – ganz gleich, wie sehr der Verletzte sich nun bereits gegen Widerstände in Deutschland einbringen konnte – zeigen eigentlich nur, wie krank, marode und unfassbar dumm das Einwanderungsrecht, die Zuwanderungsmöglichkeiten und die Integrationskraft dieser Gesellschaft ist.

Die einerseits nach (billigen) Fachkräften ruft, aber andererseits achtlos über Menschen hinweggeht, die bereit sind, mit uns gemeinsam zu leben. Welche Chance auch immer das Gericht dem Mann noch einräumt: er ist schon jetzt ein Beispiel mehr für den völlig falschen Blick, den die Mehrheitsgesellschaft noch immer auf das Thema Migration hat.

Auf Bitten der Einsatzkräfte hin haben wir den Abtransport des blutverschmierten Mannes und natürlich auch seine Angehörigen nicht gefilmt, auch nicht von hinten oder verpixelt. 

Er befindet sich nun auf dem Weg ins Krankenhaus und für heute Abend 20 Uhr ist eine Demonstration auf dem kleinen Willy-Brandt-Platz gegenüber dem Hauptbahnhof Leipzig angekündigt.

Nachtrag: Ein Bild und noch ein Video danach

Ja, uns ist bewusst, dass damit ja nicht bewiesen ist, dass alles gut ausging. Ein Bild sollte genügen, ein Rettungswagen und Sanitäter/-innen davor, kurz vor dem Start. Der Mann ist sicher abgefahren worden.

Der Mann befindet sich im RTW, kurz vor seinem Abtransport ins Krankenhaus. Foto: LZ

Weniger sicher wurde es für die Einsatzbeamten und das SEK. Die Stimmung rings um die heute abgebrochene Abschiebung war gegen Ende zunehmend gereizt, Schmähungen und Wut gegen die Beamten an der Tagesordnung (siehe Schluss-Video).

Die Frage ist vielleicht auch hier: die, welche die Gesetze machen, in der Landesdirektion Sachsen entscheiden und den aktuellen Status Quo vertreten, waren heute alle nicht in der Alfred-Kästner-Straße.

Der sächsische Flüchtlingsrat sucht nun eine/n Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt, welche/r den sicher nicht ganz einfachen Fall übernimmt.

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