Es ist schon erstaunlich, wie in den vergangenen Jahren das Interesse für die Weimarer Republik gewachsen ist. Und zwar schon eine Weile vor der Verfilmung von „Babylon Berlin“. Kaum ein Genre zeigt diese wachsende Sensibilität so deutlich wie der Kriminalroman. Vor einem Jahr schickte Thomas Ziebula erstmals seinen Kriminalinspektor Paul Stainer ins Leipzig der frühen 1920er Jahre. Der Krieg ist noch allgegenwärtig.

Auch Stainer leidet unten den Folgen seiner Kriegserlebnisse. Die ja nach den Ereignissen in „Der rote Judas“ nicht weniger drückend geworden sind. Denn jetzt muss er noch den Tod seiner Frau verkraften, die praktisch vor seinen Augen Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Man möchte nicht wirklich in seiner Haut stecken. Und man versteht ihn doch nur zu gut. Das Leben muss weitergehen. Und auch in Leipzig haben die Erzkonservativen noch immer wichtige Positionen besetzt.Auf den Straßen patrouillieren die Truppen des Generals Maercker. In „Der rote Judas“ haben schon die rechtsradikalen Fememörder ihr Unwesen getrieben, jene Leute, die fortan jede Gelegenheit nutzen würden, die ihnen verhasste Demokratie zu zerstören. Und auf der linken Seite des politischen Spektrums radikalisieren sich die Anhänger von USPD und KPD.

Denen, die da versuchen, die gerade erst gewonnenen Freiheiten einer liberalen Demokratie zu verteidigen, haben einen schweren Stand und erleben etwas, was einem 100 Jahre später noch immer nur allzu vertraut ist: sich den rücksichtslosen Angriffen und immer neuen Unterstellungen jener Leute ausgesetzt zu sehen, die rückwärtsgewandten Patriotismus, Nationalismus und Verachtung für die Moderne für deutsche Tugenden halten.

Die Typen tauchen auch in dieser zweiten Fallgeschichte aus der Arbeit Paul Stainers wieder auf, der genau weiß, dass er sich nach seinen Kriegserlebnissen mit den schweren psychischen Folgen bewähren muss. Schwäche zeigen darf er nicht. Also muss er etwas tun gegen seine Albträume. Und er muss die Sache mit dem Alkohol in den Griff bekommen.

Und das, während ein neuer Mordfall dafür sorgt, dass er eigentlich nicht zur Ruhe kommen kann. Diesmal wurde ein Maler ermordet, der zur Ausstellungseröffnung extra aus Heidelberg nach Leipzig gekommen ist. Hier hat er studiert. Hier wurde er aber auch in ein Duell verwickelt, das ihm noch aus den Tagen vor dem Krieg nachhängt. Mensur nennen es die Burschenschaftler, über die die junge und selbstbewusste Journalistin Marlene Wagner schreibt.

Und das in der LVZ, dem Organ der werktätigen Bevölkerung. Auflage: 80.000. Damit seinerzeit eine der drei großen Zeitungen in Leipzig. Die anderen beiden erwähnt Ziebula leider nicht. Was schade ist. Es hätte seinen Roman genauer gemacht, in dem er sich mit viel Fleiß bemüht, das Leipzig des Jahres 1920 möglichst genau zu rekonstruieren. Was ja nicht so einfach ist, wenn der Autor eigentlich nahe Karlsruhe lebt, aber seine große Liebe zu Leipzig nicht verschweigt.

Die LVZ war damals noch links, dominiert von der USPD, gern mal verboten, wenn die Berichterstattung den strammrechten Herren in der (Militär-)Verwaltung nicht passte. Wobei man anmerken muss: Die Verbote hagelte es eher nicht für die emotional starken Geschichten einer Helene Wagner, sondern für harte polemische Leitartikel, in denen sich die Redakteure nicht scheuten, die Stadtobrigkeit und die Militärbesatzung direkt anzugreifen.

Heute greifen solche Typen dann eher zur Abmahnung und klagen ihr Persönlichkeitsrecht ein, weil sie nur zu gern behaupten, dass ihre Machenschaften nichts in der Öffentlichkeit zu suchen haben. Das haben auch schon einige der zwielichtigen Gestalten drauf, die Stainer ein bisschen zu sehr piesackt. Aber da ähnelt er zwar ein wenig dem Gereon Rath aus den Kriminalromanen Volker Kutschers, die „Babylon Berlin“ zugrunde liegen.

Aber es steckt noch ein anderer großer Kommissar in diesem Paul Stainer, auch wenn man an den nicht unbedingt denkt, wenn man den schlohweiß gewordenen Kriegsteilnehmer Stainer durch Leipzig eilen sieht, um einen Mörder zu fassen zu kriegen, der es bei nur einem Mord nicht lassen kann. Und dieser andere Kommissar ist ausgerechnet Maigret, den Ziebula an zwei Stellen augenzwinkernd zitiert. Eigentlich an drei Stellen, denn diese Maigretsche Haltung steckt ja auch im zitierten Kalenderspruch von Goethe: „Man sieht nur, was man weiß“.

Der kommt Stainer mehrfach in den Sinn, wenn er im Lauf der recht atemberaubenden Untersuchungen immer wieder an Punkte kommt, die dem Fall eine völlig andere Wendung geben. Bei Goethe geht es im gern zitierten Brief an Friedrich von Müller vom 24. April 1819 übrigens noch weiter: „Eigentlich: Man erblickt nur, was man weiß und versteht.“

Das gilt ja nicht nur für Polizeiarbeit. Aber dort besonders. Und auch 100 Jahre nach Stainer frappieren immer wieder polizeiliche Arbeitsergebnisse, die ahnen lassen, dass die Ermittler die alten Maigretschen Tugenden nicht angewendet haben. Das erste Mal zitiert Stainer den weltberühmten Kollegen, als erstmals klar wird, dass ein in Basel im Rhein Ertrunkener möglicherweise in Beziehung stehen könnte zum Tod des Malers in Leipzig. Da sagt er den schönen Satz: „Ich weiß nichts, ich vermute nichts, ich spiele nur mit Möglichkeiten, verstehen Sie, Herr Kollege?“

Und ganz am Schluss, als Stainer die ganze Tragödie rekapituliert, in der vier Menschen ermordet wurden (darunter auch die selbstbewusste Helene Wagner), greift er wieder so einen Simenon-Maigret-Topos auf, der freilich auf den Punkt bringt, was an den Maigret-Romanen bis heute fasziniert. Denn auch der letztlich verhaftete Täter war „ein ganz normaler Mann gewesen, ein Durchschnittsmensch“.

Stainer ist sich nur zu sehr bewusst, dass es den an sich bösen Menschen nicht gibt, dass jeder Mensch fähig ist, die geltenden Normen zu verletzen und zum Verbrecher zu werden. Der Krieg, den er erlebt hat, hat ihm ja zur Genüge gezeigt, wie schnell der Mensch enthemmt werden kann. Es ist der Durchschnittsmensch, der seinen Gefühlen oder Leidenschaften nachgibt, der die Beherrschung verliert und den Sinn für die Wirklichkeit. Und der dann nach einer Logik handelt, die sich dem Ermittler verschließt, wenn er die falschen Bilder vom Bösen im Kopf hat.

In gewisser Weise handelt ja auch Helene Wagner mit beinah ähnlich detektivistischer Neugier auf die Held/-innen ihrer Artikel. Und sie zeigt damit, dass guter Journalismus ganz ähnlich arbeitet. Und ganz ähnlich denken muss wie dieser bärbeißige Maigret: Nicht die Welt mit den angelernten Vorurteilen zu betrachten, sondern in jedem Fall das Menschliche zu suchen und verstehen zu wollen, warum Menschen handeln wie sie handeln.

Dass sie dabei einem Mörder zu dicht auf die Pelle rückte, ahnt sie nicht. Und auch Stainer braucht eine Weile, um die Indizien zu einem Bild zusammenzufügen, das in seiner Logik dann zum tatsächlichen Täter führt. Und er steht unter unerhörtem Druck. Ziebula presst den Fall in wenige, atemberaubende Tage und Nächte zusammen.

Er lässt seine Polizisten mit den modernsten Gefährten der Zeit durch Leipzigs Straßen jagen – auch durch die Innenstadt, die ja damals noch offen war für Straßenbahnen, Pferdefuhrwerke und Kraftdroschken. Er nimmt seine Leser/-innen mit in einige der beliebten Restaurationen dieser Zeit, um da und dort auch das Flair dieser kulturell aufblühenden 1920er Jahre zu erleben. So nebenbei erlebt man auch ein Stück der gewaltigen Regulierungsmaßnahmen, aus denen dann das Elsterbecken entstand. Einer der Tatverdächtigen arbeitet auf dieser Baustelle.

Und natürlich zeigen sich überall vor allem die psychischen Folgen des Krieges, denn Stainer ist ja nicht der einzige, der gezeichnet aus diesem Krieg herausgekommen ist. Auch seine Kollegen tragen noch die alten Uniformteile auf, sprechen lieber nicht über das, was sie erlebt haben. Und während die einen ihre tiefen Verwundungen versuchen zu verbergen, scheinen die alten, reaktionären Kräfte wieder so obenauf wie vor dem Krieg.

Und hier wird deutlich, warum diese Weimarer Republik die Kriminalautoren von heute so fasziniert, denn diese steifen, rückwärtsgewandten Gestalten sind 100 Jahre später immer noch oder wieder da. Als hätten sie aus all dem, was ihre reaktionären Vorläufer angerichtet haben, nichts gelernt. Als wäre Herzlosigkeit eine Nationaltugend und eine Verachtung der Demokratie geradezu ein Grundrecht des beleidigten Patrioten.

Dass der Leser am Ende selbst nicht mehr loslassen kann und besser nicht vorm Schlafengehen weiterblättert, hat auch damit zu tun, dass gerade die liebenswertesten Gestalten in diesem Buch immer stärker in Gefahr geraten, zum Opfer zu werden. Nicht nur die Nachtclub-Besitzerin Rosa, die von ihrem eigenen Bruder bedroht wird. Sondern zuletzt auch noch das Mädchen Mona, das sich seinen Platz in der Welt mit Selbstbewusstsein erobert und dabei zuletzt dem Täter direkt in die Quere kommt, was dann zu einer atemberaubenden Jagd durch die Leipziger Nacht ausartet, einer verzweifelten Rettungsaktion und einem Moment der Stille, in dem Ziebula dann die Fäden zusammenbindet, um Stainer endlich den Täter finden zu lassen.

Man bekommt also nicht nur eine packende Kriminalgeschichte mit starken Figuren – abgesehen davon, dass Ziebula in diesem Fall besonders viele starke und selbstbewusste Frauen agieren lässt. Man bekommt auch noch ein atmosphärisch liebevoll gezeichnetes Leipzig des Jahres 1920 mit Schauplätzen, die man heute nicht mehr besuchen kann, wie das Schauspielhaus in der Sophienstraße.

Und einer politischen Kulisse, die einem in manchen Aspekten doch sehr vertraut vorkommt. Und die einen daran erinnert, dass die Demokratie von ihren Feinden immer sehr schamlos angegriffen und ausgenutzt wird. Zumeist aus den trivialsten Gründen – Neid, Feigheit, Gier. Dem ganzen Kladderadatsch, der nun mal einen Durchschnittsmenschen ausmacht, der so gern etwas Macht besäße und etwas Besonders wäre.

Man ahnt schon, dass diese Stainer-Geschichte weitergehen wird und dass auch einige der Figuren, die Stainer in den ersten beiden Bänden begegneten, wieder eine Rolle spielen werden. Das Leben geht ja weiter, egal, welche Albträume einen plagen. Und am besten kommt man wohl damit zurecht, wenn man wie dieser gezeichnete Kriegsheimkehrer jeden Morgen einfach aufsteht, egal, wie sehr der Kopf dröhnt, und die Dinge tut, die getan werden müssen, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.

Thomas Ziebula Abels Auferstehung, Wunderlich, Hamburg 2021, 20 Euro.

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