Das ist das Spezialgebiet von Henner Kotte, den viele Leser auch als Autor unverwechselbarer Kriminalromane kennen: historische Kriminalfälle. Und zwar vor allem solche, die dann ihre Spuren auch noch in der Literatur hinterlassen haben und oft zur Vorlage von Meisterwerken der Weltliteratur wurden. Und einige dieser Kriminalfälle haben sich natürlich in Sachsen abgespielt.

Und natürlich schaut Henner Kotte nicht nur mit dem Blick des Geschichtenerzählers auf diese Fälle, den das Sensationelle daran interessiert. Das machen schon genug andere Leute, die dann gern stolz erzählen, was sie irgendwo über Kunz von Kauffungen und den Prinzenraub von Altenburg, das Lebensdrama des „Perückenmachers“ Woyzeck oder den Doppelselbstmord von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ aufgeschnappt haben. Ihn interessiert noch viel mehr, wie diese Kriminalfälle überhaupt zu Literatur wurden.

Sind es Zufallsfunde?

Denn sie sind ja nur ein kleiner Teil der wirklich geschehenen Morde, Kidnappings und anderen Dramen, die meist nur in alten Gerichtsakten verschriftlicht wurden, aber vor dem Zeitalter der Zeitungen so gut wie keine Öffentlichkeit außerhalb der Orte fanden, wo die Taten geschahen und am Ende die Delinquenten hingerichtet wurden.

Der wohl erste deutsche Autor, der den lehrreichen Wert dieser Kriminalfälle erkannte und in seinen „Kriminal Geschichten“ ab 1776 veröffentlichte, war der in der Oberlausitz geborene August Gottlieb Meißner, der in Wittenberg und Leipzig Jura studierte, hier namhafte Freunde hatte und hier wohl den Reiz echter Kriminalfälle entdeckte – und das Erzählenswerte an den darin steckenden menschlichen Schicksalen. Natürlich erzählt Henner Kotte auch Meißners Geschichte, die so nebenbei auch eine Geschichte der deutschen Aufklärung ist.

Denn der aufklärerische Aspekt ist in Meißners „Skizzen“ deutlich zu lesen: Er will sein Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch das Rechtssystem sichtbar machen und damit auch den Menschen zeigen in seiner gesellschaftlichen Rolle. Denn Vernunft, wie Kant sie genau um diese Zeit definierte, hat eben auch etwas mit dem Wissen um die geltenden Gesetze und die friedliche Organisation eines Gemeinwesens zu tun.

Beispiele, dass das auch in Sachsen mal anders war und auch andere Rechtssysteme galten, hat Kotte in seinem Büchlein natürlich genügend versammelt. Kunz von Kauffungen gehört dazu, der sein Recht noch auf dem mittelalterlichen Fehdewesen begründet sah – womit er direkt kollidieren musste mit einem Landesherrn, der diese Rechtssetzung aus alten Rittergebräuchen nicht mehr akzeptierte.

Ganz ähnlich gelagert das Schicksal des Michael Kohlhaas, der eigentlich Hans Kohlhase hieß, mit der Novelle von Heinrich von Kleist aber weltberühmt wurde. Posthum natürlich. Denn seine Fehde, um gegen den sächsischen Kurfürsten Recht zu bekommen, scheiterte am Ende genauso blutig wie die des Ritters Kunz von Kauffungen.

Was treibt die Menschen eigentlich zu solchen Taten?

Es kann fatal enden, wenn man sich auf alte Rechtsnormen beruft, die sich längst überlebt haben. Auch wenn es eine so berühmte Rechtsnorm war wie jene des „Sachsenspiegel“, in dem Eike von Repgow auf dem Falkenstein aufgeschrieben hat, was es im 13. Jahrhundert an sonst nirgendwo schriftlich fixiertem Rechtsverständnis gab. Womit er dann für einige Jahrhunderte tatsächlich so eine Art Rechtsnorm fixierte.

Aber die Aufklärung schaute auch noch aus einem anderen Blickwinkel auf Kriminalfälle. Was Henner Kotte mit Friedrich Schiller sichtbar macht, der mit „Der Mörder aus verlorener Ehre“ und „Der Geisterseher“ ja sogar zwei Prosawerke zum Genre beisteuerte. Nebst diversen Dramen und Balladen, in denen Schiller ebenfalls seine Heldinnen und Helden zu kriminellen Taten schreiten lässt. Stets mit der Frage im Hinterkopf: Was treibt Menschen eigentlich dazu, so zu handeln, obwohl sie die Folgen abschätzen können?

Oder können sie es gar nicht und handeln trotzdem – von ihren Leidenschaften angetrieben – genau so? Immerhin eine Frage, die im Fall Woyzeck schon die Gelehrten seiner Zeit beschäftigte – und später Georg Büchner dazu brachte, eines der eindringlichsten Dramen(-fragmente) der Neuzeit zu schreiben, dem selbst beinahe ein dramatisches Vergessen passiert wäre, hätte der Schriftsteller Karl Emil Franzos das unleserlich gewordene Manuskript nicht wieder lesbar gemacht.

Die berühmten Dramen und Novellen haben eben oft eine nicht weniger aufregende Geschichte als die darin verarbeiteten Heldinnen und Helden. Was auch auf Gottfried Kellers Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ zutrifft, deren Vorbild die Selbsttötung eines jungen Liebespaars auf der Feldflur zwischen Anger und Sellerhausen gewesen ist. Eine Novelle, die dann freilich auch wieder Nachahmer fand.

Solche Geschichten lieber nicht erzählen?

Fast möchte man meinen, die Autoren sollten doch lieber auf solche Geschichten verzichten, weil gerade sensible Gemüter dazu neigen, sich die literarische Schilderung als Vorbild zu nehmen. Was wir ja schon seit den „Leiden des jungen Werther“ wissen. Sind Autoren vielleicht skrupellose Menschen? Können sie die Wirkung ihrer Geschichten nicht einschätzen?

Wenn es nur so einfach wäre. Denn oft genug helfen gerade ihre eindringlichen Erzählungen, die Motive und die Tragik hinter einem Kriminalfall erst so richtig zu verstehen. Auch, weil sich die Leserinnen und Leser in die Protagonisten der Geschichte hineinversetzen können oder ihr eigenes Lebensdilemma darin wiedererkennen. Leser und Schriftsteller sind ja keine besseren Menschen.

Manchmal sind Büchersammler nicht einmal Leser und trotzdem von Büchern besessen, wie der Pfarrer Johann Georg Tinius, der wegen der Buchsucht in Leipzig zum Mörder wurde. Auch ihn würdigt Henner Kotte in diesem ersten Band der „Morde, die Geschichten schrieben“, der eben vor allem zeigt, wie die tatsächliche Quellenlage zu diesen Kriminalfällen ist und wie sie dann zu Literatur wurden.

So wie das Schicksal des Leipziger Gastwirts Johann Georg Schrepfer, der sich bei seinen Tricksereien mit den Falschen angelegt hatte und am Ende eines mysteriösen Todes im Rosental starb.

Ein Ort, der viel später zum Schauplatz einer weiteren Romeo-und-Julia-Geschichte wurde. Manche Geschichten gehen immer weiter. Auch wenn die Interpretation in der Zeitungsberichterstattung dann möglicherweise nicht wirklich viel mit den Motiven der Menschen zu tun hat, die sich da scheinbar genauso „romantisch“ umgebracht haben wie Romeo und Julia oder Heinrich von Kleist und Henriette Vogel …

Vorbild für weitere „literarische“ Doppelselbstmorde, die ja bekanntlich in den Fällen von Hans Fallada und Johannes R. Becher schiefgegangen sind. Wieder Stoff für neue literarische Bearbeitungen – diesmal in zwei Romanen.

Mit Kain fing alles an

„Verbrechen sind so alt wie die Menschheit“, zitiert Henner Kotte gleich zum Einstieg in diesen ersten Band einer ganzen Reihe, in dem er auf die mörderischen Göttergeschichten der alten Griechen kurz zu sprechen kommt und auf das Ur-Verbrechen in der Bibel: Kains Mord an Abel.

Aber Schriftsteller gehen mit Mord und Totschlag eben doch noch einmal anders um. Sie sehen auch die Ungerechtigkeit, die mancher dieser blutigen Helden erlitt und nicht aushalten wollte. Auch nicht nach mahnendem Zuspruch eines Martin Luther. Denn die Frage steht in eigentlich allen guten Geschichten: Wie hält man das aus? Welche Lösung bleibt einem eigentlich, wenn man Mensch bleiben will?

Ein Dilemma. Erst recht in solchen Zeiten, in denen man vor Gericht kein Recht bekommt, keine Satisfaktion und damit das Gefühl, dass eine Wunde heilen kann. Denn lebten wir in einer durch und durch gerechten Welt, würde sich niemand benachteiligt, bestohlen und gedemütigt fühlen. Einige der vielen Gründe, die ohnmächtige Menschen zu Tätern werden lassen. Wie diesen ins Abseits geratenen Woyzeck, der ausgerechnet die Frau umbringt, die ihm noch so etwas wie Liebe und Nähe gegeben hat.

Es trifft viel zu oft die Falschen. Das ist ja das Faszinosum an den meisten dieser Kriminalfälle, die es manchmal auf erstaunlichen Wegen in die Literatur geschafft haben.

Henner Kotte „Morde, die Geschichten schrieben. Sachsen I: Vom Sachsenspiegel bis Gottfried Keller, Tauchaer Verlag, Leipzig 2022, 12 Euro.

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Der berühmteste sächsische Mord fand in Grimma statt.
“Kain erschlug seinen Bruder Abel in Grimme”.

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