Eigentlich wäre es nicht falsch, Germanen in der Überschrift in Gänsefüßchen zu setzen: „Germanen“. Das merkt auch Karl Banghard an, entscheidet sich dann aber dagegen, wohl wissend, wie missbraucht der Begriff ist. Und so richtig stimmt er auch nicht. Womit dann schon mal die etwas andere, viel lebendigere Erzählung von den Germanen beginnt. Oder genauer: all jener Stämme und Stammesverbände, die vor 2.000 bis 1.500 Jahren zwischen Rhein und Weichsel lebten, sogar weit darüber hinaus. Mit dem von völkischen Autoren vor allem im 19. Jahrhundert geschaffenen Germanen-Bild aber haben sie wenig zu tun.
Doch dieses Bild sitzt in den Köpfen vieler Menschen. In völkischen Kreisen wird es regelrecht gehypt und immer wieder neu aufgegossen mit dem „Wissensstand“ der NS-Zeit. Davon lebt ihre Ideologie – vom Konstrukt eines geradezu mythisierten Germanentums, das von Bildern wie Kriegertum, Härte, bäuerlicher Sesshaftigkeit und genetischer Reinheit dominiert wird.
Und Vorstellungen von Volkstum, die mit der Realität nichts zu tun haben. Wie zäh die pseudowissenschaftlichen Vorstellungen von den Germanen sind, weiß Banghard aus seiner eigenen Arbeit. Er ist Direktor des Archäologischen Freilichtmuseums Oerlinghausen im Teutoburger Wald – eine Einrichtung, die in der NS-Zeit geschaffen wurde, um die NS-Vorstellungen vom Leben der Germanen für die Bevölkerung anschaulich zu machen.
Im abschließenden Kapitel „Das Germanengehöft“ erzählt Banghard die Geschichte dieses Freilichtmuseums und die mühevolle und oft kaum wahrgenommene Arbeit in den letzten Jahrzehnten, das erstarrte Germanen-Bild nicht nur in den Medien, sondern auch in der Wissenschaft aufzubrechen. Denn mit dem Ende der NS-Zeit hörte die etablierte Germanenerzählung nicht einfach auf, denn die meisten Forscher, die sich in der NS-Zeit zur Etablierung des völkischen Germanen-Bildes angedient hatten, blieben in Amt und Würden und sorgten über viele Jahrzehnte noch dafür, dass das Bild nicht korrigiert wurde, kritische Stimmen marginalisiert und neue Befunde schlicht ignoriert wurden.
Verflochtene Welten
Banghards Buch ist ein – sehr lebendig und emotional geschriebener – Ansatz, das erstarrte Bild endlich aufzubrechen. Und dem kommen die Forschungsergebnisse der letzten Jahre aus im Grunde ganz Europa entgegen. Sie zeigen Menschen, die sich wahrscheinlich zutiefst beleidigt gefühlt hätten, hätte man sie als Germanen bezeichnet. Denn das war eine Fremdbezeichnung der Römer. Richtig populär machte den Begriff Cäsar in seinen „Aufzeichnungen zum Gallischen Krieg“.
Der Begriff diente ihm dazu, die Stämme am Rhein und östlich davon von den Galliern zu unterscheiden. Krieg führte er gegen beide. Zwei Mal setzte er über den Rhein. Und Krieg bestimmte das Verhältnis der germanischen Stämme zu Rom über Jahrhunderte. Vielschichtiger, als es die alten Erzählungen zeigen.
Denn Männer aus germanischen Stämmen dienten auch im römischen Heer, schafften es bis in Spitzenpositionen. Mit dem Heerdienst verbanden sich Prestige und – wenn Rom seine germanischen Nachbarn mal wieder als Bündnispartner brauchte – auch glänzender Reichtum. Weshalb zahlreiche Hortfunde von dieser gemeinsamen Geschichte genauso erzählen wie etliche Gräber, in denen die Begegnung der germanischen und der römischen Welt durch Grabbeigaben anschaulich wurde.
Aber auch mit dem Mythos vom Bauernvolk räumt Banghard auf. Denn zur germanische Geschichte gehörte immer auch Mobilität. Ihre Langhäuser bauten sie entlang der Flüsse. Aber sie rissen diese Häuser auch wieder ab, wenn eine neue Generation das Zepter übernahm und neu baute.
Akribisch untersucht Banghard auch Landwirtschaft und Viehhaltung – und entdeckt dabei eine Wirtschaftsweise, die – anders als die römische – keine Monokulturen und riesigen Latifundien hervorbrachte, sondern eher von Zurückhaltung geprägt war. Kapitel für Kapitel erläutert Banghard den aktuellen Stand der Forschung anhand von Fundstätten von Dänemark bis in die Ukraine, von Frankreich bis nach Österreich. Auch mit durchaus ernsthaften Fragen nach den Grenzen: Wie grenzt man denn nun ab, was alles germanisch war und was nicht?
Kulturtransfers und Produktpiraterie
Denn als ein einziger großer Germanenstamm empfanden sie sich nie. Von Nationenbildung konnte noch keine Rede sein. Und auch die Römer registrierten, dass es immer wieder andere Stammesbünde waren, mit denen sie es tun bekamen. Die Sueben etwa oder die Alemannen. Mit einigen dieser Stammesverbünde schloss Rom Verträge. Andere versuchte Rom mit Feldzügen kleinzuhalten.
Die sogenannte Varusschlacht war nicht die einzige, in der römische Truppen östlich des Rheins eine Niederlage erlitten. Ganz zu schweigen davon, dass bis heute nicht geklärt ist, wo diese Schlacht tatsächlich stattfand. Selbst das in letzter Zeit oft als heißer Kandidat gehandelte Kalkriese könnte tatsächlich Schauplatz einer ganz andere Schlacht gewesen sein.
Denn eins machen Funde in letzter Zeit immer deutlicher: Die Römer kamen viel öfter ins germanische Hinterland, als man lange Zeit dachte. Selbst noch 250 Jahre nach der Varusschlacht. In der römisch-germanischen Beziehung war immer Bewegung. Germanen übernahmen römische Sitten, Römer germanische. Und primitiv war die Welt der germanischen Stämme auf keinen Fall.
Davon erzählen ausgegrabene Bohlenwege durch die einst riesigen Moore Niedersachsens, ausgegrabene Ställe, regelreche Manufakturen, in denen römische Produkte kopiert wurden. Und ganz Batterien von Schmelzöfen, in denen die Leute Eisen verhütteten – gefunden in den Niederlanden genauso wie in der Lausitz.
Und etliche Moorleichen bereicherten das Wissen auch um die Kleidung der Männer und Frauen und ermöglichten damit auch den Blick in die Kleidermanufaktur der Zeit. Aber die Siedlungsspuren zeigen eben auch, dass die einzelnen Stämme immer auf Distanz lebten. Und dabei ökonomisch artenreiche Räume ließen zwischen ihren Siedlungen, in denen sie ihre Nahrung fanden und ihr Vieh weiden ließen. Was Banghard ein wenig humorvoll als einen Verzicht auf den Stress beschreibt, den sich die Römer in ihren „kultivierten“ Landschaften machten.
Vergänglicher Reichtum
Aber er geht natürlich auch auf die vielen Leerstellen ein, die schon dadurch entstanden, dass viele Dinge, mit denen diese Menschen beerdigt wurden, vergänglich waren oder sich bei Brandbestattungen in Asche verwandelten. Das sah dann für frühere Ausgräber oft wie blanke Armut aus. Aber der Eindruck täuscht in der Regel. Neuere Untersuchungsmethoden erzählen viel mehr über Leben, Essen und Leiden der Gestorbenen. Aber auch die Kultplätze der Stämme sind archäologisch kaum nachweisbar.
Denn anders als Römer und Griechen bauten sie diese nicht aus Stein und Marmor. Wie sahen also ihr Glauben und ihr Kult tatsächlich aus? Selbst die Zeugnisse römischer Autoren deuten darauf hin, dass sich die Glaubenspraxis von Stamm zu Stamm wohl deutlich unterschied. Und mit der 1.000 Jahre später aufgezeichneten Edda hatte sie wohl auch so gut wie nichts zu tun.
Und wie ist das mit der Sprache? Hier wenigstens wird ein Gemeinsames sichtbar. Denn das eigentlich verbindende war die sich im Lauf der Zeit entwickelnde Sprache, die sich durch die germanische Lautverschiebung aus der indoeuropäische Sprachgruppe herauskristallisierte. Wobei einige Funde darauf hindeuten, dass dadurch zwar eine Gruppe ähnlicher Idiome entstand – es aber wohl trotzdem eher so war, dass ein, zwei Tagesreisen genügten, und der Reisende verstand kein Wort mehr, was die Leute dort redeten. Also ungefähr, wenn heute ein Sachse nach Oberbayern reist ….
Banghard beendet den Exkurs in die jüngsten Forschungsergebnisse zu den germanischen Stämmen im fünften Jahrhundert. Ganz bewusst, schreibt er. Es war nicht nur die Zeit, als die Hunnen nach Südosteuropa einfielen und zuerst Druck auf die Ostgoten ausübten und damit ein Initialzünder für die so genannte Völkerwanderung wurden. Es is auch die Zeit, in der man es noch mit der alten germanischen Welt zu tu hatte.
Denn mit dem Niedergang des weströmischen Reiches begann in Westeuropa auch der Prozess der Nationenbildung, der Menschengruppen völlig neu in gemeinsamen Grenzen unter einer Zentralgewalt definierte. Und keines der neu entstehenden Reiche nannte sich nach den Germanen. Denn so definierten sich ja die Stämme nicht, die jetzt begannen, nach römischem Vorbild Staaten aufzurichten – die Franken, die Goten, die Angeln und Sachsen.
Ein weniger schablonenhaftes Germanenbild…
Banghard geht es vor allem darum, die Menschen lebendig werden zu lassen, die bis heute oft völlig gedankenlos als Germanen zusammengefasst werden. Und die viel vielfältiger, kulturvoller, mobiler und weltoffener waren, als es die völkische Geschichtsschreibung immer ausgemalt hat. Es ist ein „stillgelegtes“ Bild von den „alte Germanen“, das Banghard hier Stück für Stück auseinander nimmt.
Und dabei auch sehr gut weiß, dass er damit auch gegen die Beharrungskräfte einiger Wissenschaftler anschreibt, die das alte, homogene Germanenbild bis heute immer wieder kolportieren – ein Bild, das inzwischen durch die akribische Erkundung von Gräbern, Siedlungen, Brunnen und Opferplätzen viel differenzierter geworden ist.
Und in dem alte Erzählungen schlicht nicht mehr zu den Funden passen, die Menschengemeinschaften zeigen, die uns Heutigen viel ähnlicher waren als die alten Germanenkrieger, die auch in Fernseh-Dokus und Spielfilmen immer wieder martialisch inszeniert werden. Auch Regisseure sind oft tief verfangen in den Geschichten, die sie in jungen Jahren mal gehört haben.
Aber diese Geschichten werden den Erkenntnissen der jüngeren Archäologie nicht mehr gerecht. „Ein weniger schablonenhaftes Germanenbild wäre schön“, schreibt Banghard. „Nicht so, wie bei der Musikuntermalung in den gängigen Germanenfilmen.“
Sein Buch macht diese Vielfalt in Grundzügen sichtbar, bringt jüngere Forschungsergebnisse aus allen Himmelsrichtungen. Und eine Fotostrecke von Jonas Radtke macht die Ergebnisse dieser Forschungen in eindrucksvollen Lebensbildern sichtbar – bis hin zum Bau von Langhäusern, zur Eisenverhüttung und den erstaunlich modern anmutenden Kleidern der Frauen.
Was zumindest einige glückliche Funde sichtbar machen. Denn das meiste, was einst die Welt dieser Menschen ausmachte, die wir heute so allgemein als Germanen bezeichnen, war aus vergänglichen Materialien hergestellt und hat so auch nicht im Erdboden überdauert. Aber die heutigen Forscherinnen und Forscher haben gelernt, auch auf die vergänglichen Spuren zu achten, die nach und nach ein viel reicheres Bild vom Leben damals zeichnen, als es allein Waffen und Münzen bislang getan haben.
Karl Banghard „Die wahre Geschichte der Germanen“ Propyläen Verlag, Berlin 2025, 22 Euro.
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:























Keine Kommentare bisher