Seit einigen Jahren gibt es den Schneeblumen-Gedenkweg, der im April jeweils die Anfangsetappe jenes Todesmarsches nachempfindet, auf dem die im Buchenwald-Außenlager Markkleeberg einst zur Zwangsarbeit eingesperrten jungen Frauen aus Ungarn, Frankreich und Polen noch in den letzten Kriegstagen Richtung Theresienstadt laufen mussten. Benannt ist er nach Zahava Szász Stessels Buch, das 2009 erstmals unter dem Titel „Snow Flowers“ auf Englisch erschien.

2013 veröffentlichte die Stadt Markkleeberg das Buch dann erstmals auf Deutsch. Doch es ist kein Buch, das nur die kleine Stadt Markkleeberg betrifft. Denn das Thema, von dem Zahava Szász Stessel erzählt, betrifft den gesamten Raum Mitteldeutschland, auch Leipzig, das genauso wie Markkleeberg Standort von Unternehmen nicht nur der Rüstungsindustrie war, in denen tausende Zwangsarbeiter/-innen aus dem von der faschistischen Wehrmacht besetzten Europa eingesetzt waren.Die Diskussion, auch dieses finstere Kapitel der Stadtgeschichte endlich bewusster zu erinnern, ist längst entbrannt. Der Stadtrat hat der Leipziger Verwaltung inzwischen den Auftrag erteilt, diese Erinnerung präsenter zu machen.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass es nicht nur die Geschichte der Autorin erzählt, die 1944, gerade einmal 14 Jahre alt, gemeinsam mit ihrer Schwester Erzsike in das von der SS betriebene Zwangsarbeitslager Markkleeberg am Wolfswinkel kam. Schon das allein hätte das Buch eingereiht in die große Erinnerungskultur derjenigen, die den Holocaust nicht nur überlebten, sondern auch die Kraft fanden, aufzuschreiben, was sie erlebt haben. Ein Akt, mit dem sie endgültig zeigten, dass sie sich nicht als Opfer empfinden und den Mördern von damals die Deutung über ihr Leben überlassen.

Zahava Szász Stessel tat noch mehr: Sie recherchierte in den Archiven, knüpfte Kontakte auch zur Gedenkstätte Buchenwald, denn das Lager Markkleeberg war eines von Dutzenden Außenlagern des KZ Buchenwald und damit Teil der zentral organisierten Vernichtungsmaschinerie der Nazis, auch wenn die Autorin gerade im ersten Teil des Buches betont, dass ihre Verlegung nach Markkleeberg ihr und ihrer Schwester das Überleben ermöglichte.

Denn für die Ungarn lebenden Juden hatten die Nationalsozialisten nach der Besetzung Ungarns im März 1944 ebenso die Vernichtung vorgesehen. In Auschwitz erlebte Zahava mit, wie die in Zügen dorthin deportierten Menschen auf der Rampe voneinander getrennt wurden. Mittendrin der berüchtigte Lagerarzt Mengele, der die beiden Schwestern möglicherweise rettete, indem er sie als vermeintliche Zwillinge für seine Experimente aussortierte.

Dass die Mädchen auf dieser Rampe ihre Eltern zum letzten Mal sahen, bevor diese ermordet wurden, ahnten sie noch nicht. Diese bittere Erkenntnis wurde erst nach Kriegsende Gewissheit. Aber da hatten die beiden Schwestern schon mehrere Selektionen hinter sich, bei denen die Betroffenen nie wussten, ob sie nun für ein neues Lager oder für den Tod aussortiert worden waren.

Man darf ja nicht vergessen, dass all jene, die in den Lagern der SS ermordet wurden, nicht mehr erzählen konnten, wie es ihnen erging. Erzählen konnten nur jene, die – als eine Minderheit – die Zeit im Todeslager überlebten. Und das immer in der Ungewissheit, ob der nächste Tag nicht den Tod bringen würde.

Auch die Verlegung nach Bergen-Belsen hätte für Zahava und ihre Schwester den Tod bedeuten können. Doch 1944 war die Wehrmacht längst auf allen Fronten auf dem Rückzug, hatte Millionenverluste erlitten und stopfte die Lücken mit allem, was noch an kampffähigen Männern aufzutreiben war. Das bedeutete aber auch, dass die Arbeit in den Rüstungsfabriken zunehmend mit Zwangsarbeiter/-innen aus allen besetzten Gebieten abgesichert werden musste.

Darunter waren dann auch jene 1.200 jüdischen Frauen und Mädchen aus Ungarn, die zur Zwangsarbeit in den Junkers-Fabriken in Markkleeberg eingesetzt wurden. Sie waren – neben später noch dazukommenden 250 französischen Frauen – in jenem Buchenwald-Außenlager am Wolfswinkel untergebracht, von dem heute noch ein paar Baracken stehen und an das dort ein Gedenkstein erinnert.

Zahava Szász Stessel erzählt eigentlich die ganze Geschichte dieses Zwangsarbeitslagers, trägt zusammen, was aus den noch verbliebenen Akten rekonstruierbar war und was die Überlebenden noch erinnern konnten. Denn sie sprach mit Dutzenden Frauen, zu denen sie weltweit Kontakt aufnahm, trug so ein Mosaik der Erinnerungen zusammen, wohl wissend, dass die eigene Erinnerung durchaus täuschen kann.

Aber wenn sich zwei, drei, vier Frauen an dieselben Vorgänge, Personen und Zustände erinnern können, wird ein historischer Tatbestand konkret, bekommen die Täter vom Lagerleiter bis hin zu den „volksdeutschen“ Lagerwachen Kontur, werden die Aufseherinnen greifbar, die Frauen aus der Schweißergruppe, die Sängerinnen und Dichterinnen, die das Lagerleben in Liedern festhielten, an die sich die Frauen noch Jahrzehnte später erinnerten.

Aber es werden auch die Lagerzustände greifbar, die mit Idylle oder Respekt vor den Gefangenen nichts zu tun hatten. Im Gegenteil: Auch die Zwangsarbeit in diesen letzten Kriegsmonaten war darauf angelegt, aus den eingesperrten Menschen das Letzte herauszuholen und sie letztlich ebenso gnadenlos durch Arbeit zu töten, wie das auch in den großen, namhaften Lagern geschah.

Stundenlange Appelle auf dem eisigen Lagerplatz, schlechte Ernährung, Arbeitseinsätze in völlig unzureichender Kleidung in einem bitterkalten Winter waren die Norm. Hunger und Kälte waren allgegenwärtig. Dazu die zwölfstündigen Arbeitsschichten, die schlechte medizinische Betreuung, die gewollt unmöglich gemachte Hygiene.

Im Grunde macht Zahava Szász Stessel sehr anschaulich, mit welcher Gefühlskälte die Nationalsozialisten mit den Menschen umgingen, die sie für „minderwertig“ erklärt hatten. Und das mitten in unseren Städten, praktisch vor den Augen der zivilen Bevölkerung, die – aus Sicht des Mädchens, das in der Kolonne durch das nächtlich kalte Markkleeberg marschiert – durchaus unterschiedlich reagierten. Es gab – bis zum Schluss – die fanatisierten Mitmacher und Mitläufer, die aus ihrem Hass kein Hehl machten und die jungen Frauen schikanierten, wo das nur möglich war.

Es gab aber auch die Mitfühlenden, die selbst mit ihrem Leben spielten, wenn sie mit den jungen Frauen sprachen, ihnen Stoff und Nadeln oder etwas zu Essen zusteckten. Oder ihnen gar halfen, wenn die Arbeit an den Maschinen zu schwer war oder diese Maschinen gar kaputt waren und sich die Frauen daran verletzten oder am heißen Öl verbrannten.

Geschont wurden sie nicht. Und auch die wenigen Monate bis zum April 1945, als Leipzig immer öfter Ziel der alliierten Bomber war, waren für viele der jungen Frauen im Lager eine Geschichte des Sterbens. Viele waren, auch wenn sie das Lager überlebten, für das Leben gezeichnet. Zahava Szász Stessel hat ihr Buch den Babys gewidmet, die die Überlebenden des Lagers Markkleeberg nie geboren haben. Sie selbst erlebte noch das späte Glück, zwei Töchter zu bekommen. Viele ihrer Bekannten aber blieben nach diesen körperlichen Strapazen unfruchtbar, sodass es oft keine zweite Generation gab, die die Erinnerung weitertragen konnte.

Und mit dem Nahen der Amerikaner war die Tortur ja nicht beendet. Am 14. April – da stand die US Army vor den Toren Leipzigs – wurden überall in der Region die Zwangsarbeiterkolonnen aus den Lagern geholt und auf jene Märsche geschickt, die letztlich für einen Großteil von ihnen zu Todesmärschen wurden. Viele brachen in diesen tagelangen Märschen fast ohne Verpflegung, ohne Unterkunft und Schutz gegen das eisige Aprilwetter entkräftet zusammen, starben einfach am Wegesrand oder wurden von den begleitenden SS-Wächtern erschossen.

Auch von diesem Marsch erzählt Zahava Szász Stessel, dem tagelangen Irren durch ein Sachsen, das längst von beiden Seiten von den Alliierten eingeschlossen war. Nach dem Krieg würde sie vergeblich nach den Gräbern ihrer Leidensgenossinnen suchen, die auf diesem Marsch ums Leben kamen. Einige von ihnen waren zuvor in der Zeit im Lager Markkleeberg wichtige Stütze und Trost für die Anderen gewesen.

Und auch die Flucht aus der Kolonne bedeutete nicht immer die Rettung, denn niemand wusste, auf welche Menschen man nun traf – Denunzianten und Mitläufer des Nazi-Regimes, die die Mädchen doch wieder den Henkern auslieferten, oder hilfsbereiten Menschen, die ihre Angst vor SS und Gestapo überwanden und halfen.

Ein Moment, den Zahava Szász Stessel sogar betont, weil er so oft vergessen wird: Dass das Nazi-Regime auch deshalb funktionierte, weil es den Großteil der Bevölkerung selbst in Angst versetzt hatte. Auf die menschlichsten Gesten stand die Todesstrafe. Das darf man auch nicht vergessen im Angesicht des heute wieder von schäumenden Menschenhassern entfachten Antisemitismus, dass sie eigentlich genau dieselben alten Vernichtungsphantasien haben und nichts sehnlicher wünschen, als wieder ein Regime aufzurichten, in dem jede humane Handlung kriminalisiert wird. Im wütenden Antisemitismus steckt schon der komplette Staatsterror, egal, mit welchen Verharmlosungen diese Leute ihre Verachtung bemänteln.

Ein hochgradig aktuelles Buch, wie man beim Lesen feststellt. Am Ende thematisiert Zahava Szász Stessel dann auch genau jene politische Blindheit, die die Siegermächte an den Tag legten, als es um die Rettung der bedrohten Juden ging. Denn gerade die USA und England hatten noch vor Beginn der Vernichtungspläne der Nazis in der Hand, den bedrohten Jüdinnen und Juden den Weg ins Exil zu ermöglichen.

Und auch nach dem Krieg taten sich die Engländer als Kolonialherren in Palästina schwer, den überlebenden Jüdinnen und Juden den Weg in ihre neue Heimat zu öffnen. Noch einmal erlebte Zahava also ein Lager, auch wenn es diesmal kein Vernichtungslager war und der Weg diesmal tatsächlich nach Palästina führte, wo wenig später der Staat Israel gegründet wurde.

Was freilich noch nicht bedeutete, dass sie über das in Auschwitz, Bergen-Belsen und Markkleeberg Erlebte sprechen konnte. Aus unterschiedlichsten Gründen konnten die meisten Überlebenden über das Trauma nichts erzählen. Auch deshalb sind solche Bücher so kostbar.

Den Anstoß, es dann irgendwann doch zu tun, gab ausgerechnet ein amerikanischer Antisemit, der die Sache mit den Vernichtungslagern einfach nicht akzeptieren wollte, solange er niemanden getroffen hätte, der dort gewesen wäre. Und als ihm Zahava Szász Stessel ins Gesicht sagte, dass sie eine davon wäre, ging der Mann schweigend davon. Diese Leute glauben nicht wirklich nicht an den Holocaust. Sie wollen nur ihre Verachtung und Nichtachtung zeigen.

Doch je mehr authentische Geschichten es gibt, umso weniger Raum gibt es für diese Borniertheit, auch wenn die Augenzeug/-innen fast alle gestorben sind. Aber in ihrem Buch erzählt Zahava Szász Stessel eben auch davon, wie sich die jungen Frauen im Lager – trotz Hunger, Kälte und Schikane – ihren Lebensmut bewahrten, einander beistanden und halfen, so gut das unter diesen Bedingungen und den allgegenwärtigen Strafen, Zimmerdurchsuchungen und stundenlangen Appellen auf dem eisigen Appellplatz möglich war.

Heute fährt man am Gedenkstein vorbei, wenn man mit dem Rad zum Cospudener See fährt. Nur wenig erinnert noch daran, dass das einmal ein von Stacheldraht, Elektrozaun und Wachtürmen umgebenes Zwangsarbeitslager war, in dem 1.500 junge Frauen zusammengepfercht waren. Das Buch erzählt, was man dem Ort nicht mehr ansehen kann. Und es erzählt es in all seinen Facetten – vom kargen Essen über die Begegnung mit anderen Zwangsarbeitern, die Übergriffe der Bewacher bis hin zu den Bemühungen der Frauen, sich ein wenig Hygiene, Pflege und Stolz zu bewahren.

Das Mädchen auf dem Cover ist freilich nicht die Autorin, sondern ihre Lagergefährtin Elza Reich. Denn selbst wenn die Frauen nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrten, trafen sie dort in der Regel keine ihrer Angehörigen mehr an. Ihre Häuser und Wohnungen waren beschlagnahmt und von anderen bewohnt, ihr Hab und Gut versteigert und damit auch alle Familienerinnerungen verloren. Jedes Foto, das aus Vorkriegsjahren auftaucht, ist ein Schatz, weil es oft auch das einzige Bild der Allernächsten ist, die in Auschwitz oder einem anderen Todeslager verschwunden sind.

Die Schneeblumen erzählen von der Hoffnung, die den im Lager Eingesperrten das Überleben ermöglichte, die Hoffnung, dass diese von Menschen geschaffene Hölle einmal ein Ende findet. Das Buch enthält auch die Liste all der Frauen, die damals im Buchenwald-Außenlager Markkleeberg eingesperrt waren und in Zwölfstundenschichten arbeiten mussten, damit die deutsche Wehrmacht bis zuletzt noch neue Flugzeuge bekam in einem längst verlorenen Krieg.

Auch das eine Warnung für heute, denn diese Menschenhasser kennen keinen Frieden und keine Grenze. Menschlichen Anstand schon gar nicht. Denn auch wenn Zahava Szász Stessel die Geschichte natürlich aus der Perspektive eines jüdischen Mädchens aus Ungarn erzählt, geht es nicht wirklich um Jüdinnen und Juden, wenn alte und neuere Nazis übergriffig werden. Es geht um ein gefühlloses Bild vom Menschen und eine triste, gnadenlose Welt, in der für Menschlichkeit kein Platz ist. Das sollte man wohl auch denen klarmachen, die aus was für Gründen auch immer den heutigen Menschenfeinden ihre Stimme geben.

Es braucht deshalb solche intensiven Erinnerungen, die zutiefst erschüttern, weil sie die ganze Gnadenlosigkeit des zur Macht gekommenen Hasses zeigen. Als Warnung. Und als Botschaft: Es gibt keinen wichtigeren Kampf als den um die Bewahrung der Menschlichkeit.

Zahava Szász Stessel Schneeblumen, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2021, 22,90 Euro.

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