Wenn sich ein Philosoph und ein philosophierender Wissenschaftsjournalist treffen, dann könnte das eine fröhliche Begegnung im Biergarten werden, aber auch ein ernsthaftes Gespräch, in dem sie die Frage zu klären versuchen, die die Philosophen seit 3.000 Jahren nie wirklich beantworten konnten: Was ist eigentlich das Gute und das Böse? Und wie gehen wir damit um, so als emotionsgetriebene Menschen, die meist gar nicht die Zeit haben, noch groß nachzudenken, bevor sie prekäre Entscheidungen treffen?

Von Markus Gabriel, der als Philosophieprofessor in Bonn, Paris und New York lehrt, haben wir im vergangenen Jahr sein inzwischen zum Bestseller gewordenes Buch „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ vorgestellt, in dem er durchaus positiv herleitet, dass jeder Mensch eigentlich einen Kompass hat, der ihm zeigt, was gut und was böse ist. Gert Scobel moderiert die Sendung „scobel“ auf 3sat und betreibt auch einen eigenen Youtube-Kanal, auf dem er sich auch mit philosophischen Themen beschäftigt.Eigentlich nehmen sich die beiden wieder viel zu viel vor. Denn daran sind selbst die ganz Großen aus der Philosophiegeschichte immer wieder elegant und trotzdem gründlich gescheitert. Sie tauchen in diesem Gespräch auch auf, sozusagen als Mark- und Messsteine, an denen Gabriel und Scobel sich immer wieder reiben, die sie genauer betrachten und dann bedauernd abweisen müssen als leider ungenügende Konstruktionen.

Das geht bei Aristoteles und seiner Nikomachischen Ethik los, an der ganze Generationen von nachfolgenden Philosophen ihre eigenen Konstruktionen angedockt haben. Das geht mit Kant, seinem kategorischen Imperativ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ weiter und erwähnt Nietzsches Fehldeutungen zumindest am Rande.

Einige der Fehldeutungen beruhen auch auf der seltsamen Annahme, das Gute und das Böse gäbe es quasi als eigenständige Kategorien irgendwo außerhalb der handelnden Menschen. Und noch viel fataler wirkt sich bis heute das falsche dualistische Denken aus, das Menschen in der Zwangssituation sehen will, sich immer nur zwischen einem als absolut gesetzten Guten und dem entsprechend absolut gesetzten Bösen entscheiden zu müssen.

Obwohl schon die simpelste logische Betrachtung zeigt, dass beides nur Idealvorstellungen sind, genauso wie die Idealgestalten aus sämtlichen Religionen immer nur Extremvorstellungen sind, wie ein Mensch handeln könnte, wäre er überhaupt in der Lage, immer nur gut zu sein und absolut selbstlos zu handeln.

Jeder weiß von sich selbst, dass man das im Leben nie schafft. Nicht nur aus Schwäche oder Dummheit oder Unaufmerksamkeit. Wie vielen Menschen und Tieren hat man schon Unrecht getan, oft einfach auch in Situationen, in denen man überfordert war oder die man nicht überschauen konnte. Auch darauf kommen die beiden in ihrem Dialog zu sprechen, in dem sie sich vortasten, wie das vielleicht auch mal Platon gedacht hat, als er seine Dialoge schrieb und darin Sokrates als unermüdlichen Frager und Infragesteller auftreten ließ.

Was die beiden Gesprächspartner am Ende auch dazu bringt, Sokrates zum alle überragenden Philosophen zu erklären, weil er genau das in die Mitte seines Handelns gestellt hat, was viele Großphilosophen nach ihm schlichtweg vergessen haben: Dass man sich nie sicher sein kann und sich den wirklichen Dingen nur nähern kann, indem man alle Gewissheiten immer wieder infrage stellt.

Das kann einen ganz schön wuschig machen. Gerade dann, wenn man in einem Schulsystem aufgewachsen ist, das einem die Wissensbrocken einimpft mit der Attitüde, dass sie nun „die Wahrheit“ sind (ja, dieser grunddumme „der Weisheit letzter Schluss“) und bitteschön so akzeptiert werden müssen. Aber Sokrates nervte auch seine Athener Mitbürger immer wieder mit einer fast belustigten Infragestellung all ihrer Gewissheiten.

Und zumindest muss der Bursche geahnt haben, dass er damit nicht nur alle Selbstgewissen und Immer-schon-Überzeugten in die Bredouille brachte, sondern eine Tatsache in Betracht zog, die seine Kollegen Platon und Aristoteles mit aller Wortgewalt versuchten aus der Welt zu schaffen: Dass der Mensch schon von Natur aus nicht wirklich wissen kann, was wirklich ist.

„Ich weiß, dass ich nicht weiß.“

Was in dem oft falsch zitierten Spruch steckt, den auch Wikipedia so präsentiert, aber wenigstens im Text darauf hinweist, das die richtigere Übersetzung aus Platon lauten müsste: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Worüber Scobel und Gabriel natürlich auch ein launiges Wortduell führen. Da sieht man zwei Philosophen freudig in ihrer Materie.

Und selbst diese bessere Übersetzung lässt nur ahnen, dass es Sokrates weder um das „nichts“ noch um das „eine“ ging, sondern um den beharrlichen Hinweis darauf, dass zum ernsthaften Erkennen der Welt das immer neue Vergewissern gehört, dass wir immer nur erkennen können, was wir überprüft und untersucht haben. Und dass wir trotzdem nicht wirklich alles „wissen“, was wir vor uns sehen. Wofür die moderne Wissenschaft mehr als genug Beispiele gesammelt hat. Wir erkennen, was ist, nur immer besser, indem wir immer bessere Methoden entwickeln, es zu untersuchen.

Und auch dann bleibt das Problem, dass selbst der größte Universalgelehrte nie alles sieht, sondern immer nur den kleinen Ausschnitt, den er selbst untersucht und studiert hat. Und das gilt eben nicht nur für Wissenschaftler, sondern für alle Menschen in allen Situationen, so, wie es Scobel anmerkt: „Niemand hat die absolute Kompetenz!“

Natürlich merkt man, dass die beiden mitten im zweiten Corona-Lockdown diskutiert haben. Und zwar nicht mit der Absicht, Standpunkte auszutauschen (entsprechend harsch fällt ihr Urteil zu dem aus, was uns unsere modernen Talkshows an Bestätigungs-Müll liefern), sondern sich im Zwiegespräch der Materie zu nähern und so mehr Klarheit darüber zu gewinnen. Auch über diese seltsamen Sichtweisen auf die Kompetenz von Wissenschaft und Politik in der Corona-Pandemie. Wobei sie es nicht bei Kritik belassen.

Das ist ein geradezu schöner Moment, in dem beide stutzen, weil sie kurz davor sind, in das allgemeine Lamento über die Bundeskanzlerin-Runden und die Unbegründetheit der ganzen Allgemeinverfügungen einzustimmen. Denn rational lässt sich keine dieser Entscheidungen erklären. Nach rein wissenschaftlich rationalen Maßstäben hätte auch die Bundesrepublik völlig anders agieren müssen.

Und auch dann wären viele Entscheidungen diskussionswürdig gewesen, denn gerade der Lernprozess in der Corona-Pandemie zeigte ja, dass auch „die Wissenschaft“ nicht „weiß“. Sie ist tatsächlich selbst ein permanenter Lernprozess, mit dem Vorgänge wie so eine Pandemie nach und nach besser verstanden werden können und daraus Vorschläge entstehen können, wie man eine Gesellschaft zumindest teilweise schützen kann.

Aber die Pandemie hat eben auch vor Augen geführt, dass einer unserer Grundglauben falsch ist: dass wir die Welt beherrschen würden und längst unabhängig wären von dem, was die Biologen Biosphäre nennen. Aber jedes Virus zeigt uns, dass wir uns das nur einbilden. Wir sind Teil einer belebten Sphäre, deren Komplexität wir mit unseren Sinnen überhaupt nicht erfassen können. Und je mehr wir die Ökosphäre beschädigen und zurückzudrängen glauben, um so unberechenbarer werden die Folgen.

Tech-Giganten und Algorithmen

Und das gilt eben nicht nur für das große Ganze. Es gilt auch hier unten bei uns selbst im täglichen Leben, in dem wir ständig Entscheidungen treffen müssen, ohne auch nur im geringsten das komplette Entscheidungsfeld zu kennen. Das heißt: Es gibt keinen Algorithmus, der uns logisch und rational sagen kann, was das Richtige und das Falsche ist, das Gute und das Böse. Über die Algorithmen, mit denen uns wirklich herzlose und moralisch dumme IT-Konzerne versuchen, zu steuern und zu manipulieren, haben die beiden eine Menge zu sagen.

Allein dieser Abschnitt ihres Gesprächs wäre eine echte gesellschaftliche Diskussion wert, die es aber nicht gibt, weil nicht nur die Tech-Giganten an die Berechenbarkeit der Welt (und der Menschen) glauben, sondern auch Medienmacher, Umfrageinstitute, Teile von Hokuspokus-Wissenschaft und Politik. Gerade die „lernenden“ Algorithmen, die letztlich nur den Zweck haben, mehr Clicks und Traffic zu erzeugen, machen diesen Denkfehler sichtbar.

Denn diese Algorithmen, die auf größtmögliche Aufregung programmiert sind, schließen geradezu automatisch Minderheitenmeinungen und echte Differenzierungen aus. „Denn ich kann sagen: ,Diese Fälle liegen so weit links und so weit rechts der Mitte der Normalverteilung – der richtigen Antwort –, dass sie mich nicht interessieren und sie für meinen Lernvorgang auch nicht notwendig sind.‘ Das ist eine willkommene Abkürzung, aber es ist als Abkürzung eben ein systematischer Ausschluss bestimmter Aspekte der Wirklichkeit“, sagt Scobel.

Aber genauso betrachten wir nicht nur das, was social media tun und als Meinungsbildung in unserer digitalen Gesellschaft anrichten (mit katastrophalen Folgen in dem, was als „wichtig“ und „richtig“ erscheint), sondern auch unsere Demokratie und die darin stattfindende Meinungsbildung. Was die beiden insbesondere am Mehrheitswahlrecht der USA kritisieren, das zwangsläufig dazu führt, dass nur noch zwei Parteien um die Macht rangeln, die Vielfalt der Haltungen und Wünsche der Wähler aber einfach verschwindet. Sie spiegelt sich nicht mehr in dem, was uns als Demokratie begegnet.

Und sie spiegelt sich auch nicht in den Medien, deren Macher meist völlig vergessen zu haben scheinen, was Medium eigentlich bedeutet. Was wieder Gründe hat. Das sprechen die beiden durchaus an. Denn wenn Redaktionen nicht mehr bewusst ist, wie die Besitzverhältnisse ihres Mediums ihre Sichtweise auf die Gesellschaft (und die Auswahl der Redakteur/-innen) beeinflusst, sehen sie natürlich den Balken im eigenen Auge nicht mehr.

„Die radikale Mitte“

Und dabei wären gerade Medien prädestiniert dazu, das auszufüllen, was Scobel und Gabriel die „radikale Mitte“ nennen, die aber nichts mit dem zu tun hat, was unsere Parteien so gern als Mitte behaupten in der irrigen Annahme, man wäre schon ausgewogen und nicht-extrem, wenn man nicht rechts oder links ist. Eine echte optische Täuschung, die mit den oben genannten Fehlern der Algorithmen zu tun hat, denn wenn jemand die extremen „Ränder“ einer Gesellschaft definiert, schließt er schon aus und kappt die Meinungsvielfalt, die erst in ihrer Gesamtheit den gesellschaftlichen Dialog ausmacht.

Dialog natürlich heute in Anführungszeichen: „Dialog“. Denn es gibt praktisch kaum noch eine echte, zuhörende gesellschaftliche Debatte. Die nach Ansicht von Scobel und Gabriel nur in der „radikalen Mitte“ stattfinden kann, einer Mitte zwischen allen Positionen, Meinungen, Sichtweisen, dort, wo der Mensch aufhört, Partei zu ergreifen, und beginnt zuzuhören – wie Sokrates auf der Agora. Denn nur wer bereit ist, den anderen wirklich zuzuhören und verstehen zu wollen, worum es den anderen geht, schafft den Raum dessen, in dem Erkenntnis wachsen kann.

Davon kann in unserer heutigen Medienwelt keine Rede sein, stellt Gabriel fest: „Wir sollen inklusiv denken, dazu bedarf es natürlich emanzipatorischer Prozesse, welche die Stimmlosen zu Gehör bringt. Das schafft man aber nicht über soziale Netzwerke, deren Wesen die strukturelle Asymmetrie zwischen US-amerikanischen Tech-Milliardären ist, die sich an der Polarisierung der Öffentlichkeit bereichern. Die radikale Mitte eröffnet einen Raum zwischen den Polen, um uns einen Ausblick auf Formate der Versöhnung zu geben, sie praktiziert deswegen Differenzpolitik, nicht Identitätspolitik, auch mit dem Ziel der Emanzipation der Menschen.“

Aber suche mal einer in der heutigen politischen Berichterstattung die Differenzierung. Das würden natürlich viele Parteigänger als Zumutung empfinden, denn es ist eine Herausforderung. Es würde nämlich zeigen, dass unsere Demokratie nur einen Teil der Gesellschaft wahrnimmt. Wer sich – als (machtlose) Minderheit – kein Gehör verschaffen kann, kommt darin nicht vor.

Oder muss sich mit politischen Entscheidungen abfinden, die zwar den Wünschen einer scheinbar homogenen Mehrheit genügen, auf die differenzierten Bedürfnisse ganzer als Minderheit definierter Gruppen aber keine Rücksicht nimmt. Man bekommt also ein politisches Angebot, das wie ein Stinkefinger aussieht: Ätsch, bist eben an der falschen Stelle Teil der Gaußschen Verteilungskurve.

So sagen es die beiden zwar nicht, aber ihr Befund geht genau in diese Richtung. Womit sie auch etliche Denkfehler offenlegen, die aber als Selbstverständlichkeiten unser (politisches) Handeln bestimmen. Etwa den falschen Glauben, dass sich in der Sortierung des politischen Spektrums gleichsam menschliche Haltungen von Gut bis Böse sortieren.

Und alles, was in der sogenannten Mitte ist, sei ausgewogen und gut (selbst wenn es die radikalsten Ideen hegt), und alles was zu den Rändern tendiert, sei böse. Womit sich gleich ganze Parteien zum Hort des Guten erklären in einer Überhobenheit, die geradezu erschrecken darf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass kein Mensch wirklich die ganze Komplexität unseres Seins überschaut – und auch nicht die Komplexität dessen, was wir durch Handeln oder Nicht-Handeln (auch Nicht-Handeln kann böse Folgen zeitigen) anrichten.

Expertenrunden

Was gerade in dieser Zeit sichtbar wird, in der unsere politisch in Verantwortung Gewählten unter massivem Handlungsdruck stehen – aber öffentlich ihre ganze Ratlosigkeit darüber zeigen, dass sie nicht wissen, was jetzt gut wäre zu tun und was falsch. Dafür stehen die ganzen eingesetzten Expertenrunden, zu denen Scobel und Gabriel natürlich auch einiges zu sagen haben.

Das Wesentliche dabei: Auch dort sitzen nur wieder Menschen, die genauso eine beschränkte Sicht auf die möglichen Folgen unseres Tuns haben, vielleicht fachlich etwas besser fundiert. Aber Epidemiologen wissen zwar, wie man Pandemien eindämmt, aber sie wissen nichts von den wirtschaftlichen Folgen (an die Politiker unbedingt denken müssen), nichts über psychische Folgen, nichts über kulturelle Folgen usw.

Diese Art unserer Demokratiepraxis zeigt im Grunde das Scheitern des Allmachtsglaubens, dass man nur genug Experten braucht, um die eine für alle richtige (und gute) Lösung zu finden. Die gibt es schlichtweg nicht. Weshalb Scobel und Gabriel am Ende zu Recht ein kleines Loblied auf die Anarchie singen, und zwar in deren altgriechischem Grundverständnis als Raum der Herrschaftslosigkeit. Den sie übrigens auch in den so viel kritisierten Ministerpräsidentenrunden und im deutschen Föderalismus sehen. (Und den Deutschen an der Stelle empfehlen, sich ihrer eigenen anarchistischen Grundtugenden einfach mal bewusst zu werden.)

Gerade in diesen von Streit und Widerspruch geprägten Ministerpräsident/-innenrunden wird sichtbar, dass gerade solche Situationen der fehlenden Herrschaft (also auch des fehlenden Durchgriffsrechts einer Bundeskanzlerin) der Raum des Gesprächs sichtbar wird, in dem Menschen auf Augenhöhe miteinander sprechen und verhandeln können und müssen. Erst hier entsteht ein demokratischer Diskurs, in dem selbst die Kleinen und sonst meist Ignorierten sagen können: Ich spiele da nicht mit. Ich mache das anders.

„An-Archie“

Echte Demokratie schafft einen Raum, in dem die sonst immer Mächtigen zum Zuhören und Verhandeln und Verstehen gezwungen sind. So gesehen, ist gerade das letzte Kapitel im Buch, das die beiden ganz bewusst „An-Archie“ genannt haben, eine sehr freudige Kritik am Zustand unseres demokratischen Gemeinwesens.

Die Sache mit dem Guten und dem Bösen gerät dabei zunehmend an den Rand, auch wenn Gabriel und Scobel unterwegs nicht dezidiert festgehalten haben, dass die alten – von Aristoteles stammenden – Definitionen von Gut und Böse eigentlich erledigt sind, weil völlig unbrauchbar und sinn-los, genau in dem Sinn: ohne Sinn.

Denn je mehr sie das Thema umkreisen, umso deutlicher wird, dass sich die Entscheidung, ob etwas gut ist oder böse, immer aus dem konkreten menschlichen Kontext ergibt. Die beiden Kategorien existieren nicht außerhalb und unabhängig vom Menschen, sie sind weder gottgegeben noch durch irgendein Naturgesetz definiert. Sie entstehen erst aus menschlichem Handeln und innerhalb der menschlichen Gesellschaft, in genau jenem Raum der „radikalen Mitte“, in dem wir als Menschen noch miteinander reden und miteinander Lösungen suchen – und zwar für alles Mögliche, nicht nur die großen Menschheits-Probleme, auch die kleinen.

Und eigentlich kann Gabriel auch immer wieder auf sein Buch „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ verweisen, denn da skizziert er ja, wie das ethische Denken in unsere Köpfe kommt – zusätzlich zu den sowieso angeborenen Instinkten, die uns zu teamfähigen Tieren machen. Aber genau in dem komplizierten, mal wortreichen, mal wortlosen Zusammenspiel mit Eltern, Geschwistern, anderen Kindern und Erwachsenen entstehen jene moralischen Grundmuster, die uns allen einen Maßstab geben, wie wir in dieser Welt glücklich werden und moralisch Gutes tun.

Nur dass eben Aristoteles als Lehrmeister völlig ausfällt, weil es die erkennbaren Kategorien gut und böse nicht gibt. Man kann sie nicht lernen. Sie sind genau jener optionale Raum unserer Entscheidungsmöglichkeiten, der uns das gibt, was selbst die radikalsten Politiker als Freiheit bezeichnen. Denn genau das ist unsere Freiheit: die Möglichkeit, zwischen unendlich vielen Optionen entscheiden zu können, wobei wir bei den meisten überhaupt nicht wissen, welche Folgen sie haben. Denn wir haben immer zu wenige Informationen, egal, an welcher Stelle der Hierarchie wir sind.

Deswegen sind auch einige Wahlmöglichkeiten, die die beiden diskutieren, eher fatal – so wie die Entscheidung autonom fahrender Autos, wen sie nun im kritischen Moment überfahren sollen.

Hallo? So ticken wirklich nur Tech-Milliardäre. So primitiv. Was noch viel mehr den Wert der föderalen An-Archie in Deutschland zeigt, in der dann zwar lauter halbgare Entscheidungen getroffen werden, die nicht die kompletten Möglichkeiten der Pandemie-Bekämpfung nutzen, die aber gleichzeitig auch versuchen, möglichst viel Schaden für die anderen Teile der Gesellschaft abzuwenden.

An vielen Stellen merkt man, dass die beiden zwar mit freudigem Zuhören ein Problem schön eingekreist haben. Aber sie lassen auch viele Fäden unverknüpft. Ihnen ist durchaus bewusst, dass sie bei ihrem Gespräch auch die Grenzen der üblichen ethischen Debatten in der Philosophie immer wieder überschreiten. Was aber gerade an diesen Stellen spannend wird, weil es zeigt, wie sehr uns in unserer Gesellschaft wirklich offene ethische Diskussionen fehlen.

Und natürlich fehlt ganz eklatant der Raum der „radikalen Mitte“, der nicht mit Herrschaft besetzt ist, das, was heute immer öfter wieder Agora genannt wird. Wo auch ein ungewaschener Sokrates seinen Platz hat, der auch die Herren im feinen Gewand fragen darf, ob sie das wirklich wissen, was sie sagen, und ob sie sich sicher sind, dass ihre Folgerungen stimmen.

Eine Rolle, die eigentlich wirklich unabhängige Medien übernehmen müssten, damit dieser Raum eines herrschaftsfreien gesellschaftlichen Diskurses tatsächlich entstehen kann. Ein Diskurs, der Endgültigkeit und Absolutheit vermeidet, weil die Beteiligten sich endlich wieder vergegenwärtigen, dass keiner von ihnen „die Wahrheit“ hat und alles menschliche Tun immer schon ein Reagieren auf schon existierende Entwicklungen ist. Wir setzen keine Grundsatzentscheidungen, denn wenn wir entscheiden, sind die Dinge längst schon im Gang. Wir reagieren also nur und treffen Entscheidungen in ziemlich großem Unwissen darüber, was sich daraus entwickelt.

Fast hätte ich geschrieben: „was am Ende dabei herauskommt“. Aber auch diese Denkweise, die Welt in Anfängen und Enden zu denken, ist falsch. Dazu gibt es einen sehr schönen Dialog, der sich mit dem sogenannten „Big Bang“ beschäftigt und dem irren festhalten auch einiger Kosmologen an der Vorstellung, die Welt könnte einen klar berechenbaren Anfang und ein Ende haben, obwohl beide Punkte bestenfalls die Grenzen unserer Erkenntnis bezeichnen.

Und es klingt so normal, wenn Scobel anmerkt: „Genau so funktioniert die Wissenschaft – wir müssen bereit sein, zu revidieren, wenn sich die Faktenlage ändert – und ebenso eine Ethik der radikalen Mitte, die sich an der Wirklichkeit orientiert, um tatsächlich ,gutes Handeln‘ zu ermöglichen.“

Nachdenkliche Wissenschaftler/-innen sind sich der Grenzen ihres Wissens bzw. Nicht-Wissens meistens bewusst und relativieren ihre Empfehlungen logischerweise immer wieder, was die an „Wahrheiten“ gewöhnten Gläubigen daheim geradezu entsetzlich finden, weshalb sie nur zu bereit sind, den von ihrer „Wahrheit“ besessenen Gurus in den „sozialen Netzwerken“ zu glauben. Diese Netzwerke befeuern den „felsenfesten Glauben“ und bieten schlicht keine Plattform des unbedingten Dialogs, auf der eine Gesellschaft ihre Lösungen suchen könnte.

Letztlich hält dieses Buch eine Fehlstelle fest, die wir meistens nicht sehen, weil wir natürlich in einer medialen Welt leben, in der sich die Inhaber ihrer jeweiligen „Wahrheiten“ die Köpfe einschlagen und befehden, als wäre der Wahlsieg der Gegenseite der Weltuntergang. Und die üblichen auf Reichweite fixierten Medien unterstützen das noch, inszenieren gewaltige Schlachten um die Deutungshoheit und bestätigen jeden Tag aufs Neue ein Bild von der Welt, das mit der Komplexität und Unberechenbarkeit der Wirklichkeit wenig bis nichts zu tun hat.

Und so sehen wir auch nicht, wie sehr unserer Demokratie die Agora fehlt, der Platz mitten unter uns, wo wir miteinander tatsächlich sprechen könnten über das Mögliche, das Gewünschte, das Gute und vielleicht auch das, was wir als böse empfinden.

Ute Markus Gabriel; Gert Scobel Zwischen Gut und Böse, Edition Körber, Hamburg 2021, 22 Euro.

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