„Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit“ wurde das Buch von Silvia Ferrara, Professorin für „Ägäische Kulturen“ an der Universität Bologna, untertitelt. Wobei es eigentlich nicht um die Anfänge des Denkens geht. Die lassen sich beim besten Willen nicht mit archäologischen Funden sichtbar machen. Aber etwas anderes findet sie, wo andere nur Kunst und Religion wahrnehmen konnten: eine Spur zum Beginn von Sprache und Schrift.

Denn denkende Wesen erzählen sich Dinge. Höchst seltsame Dinge. Sie sind fähig, sich alles Mögliche vorzustellen und es andernorts zur reproduzieren. Wisente, Löwen, Bären, Pferde, Nashörner und was man dergleichen noch so findet in europäischen Höhlen, in denen die Menschen der Eiszeit ganze Galerien faszinierender Bilder hinterlassen haben.

Und da man dergleichen eigentlich nur in Höhlen findet, dominierten in den Interpretationen durch die Wissenschaftler der jüngeren Vergangenheit meist Vorstellungen von irgendwelchen geheimnisvollen Kulten, die die Höhlenmaler damals vollzogen haben müssten.

So, wie es Silvia Ferante noch in ihrem Studium erzählt wurde: Wenn euch etwas mysteriös vorkommt, muss es Religion sein.

Misstrauen in alte Lehrsätze

Ihr Buch ist in weiten Teilen eine vehemente Warnung vor solchen Deutungsmustern und vor den in der Archäologie gepflegten Selbstverständlichkeiten. Denn auch Forscher sehen nur das, was sie kennen. Und deuten hinein, was für sie aus unserer heutigen Sicht logisch erscheint. Und solche Deutungen bestimmen dann oft jahrzehntelang die Interpretation der Vergangenheit.

Der deutsche Untertitel ist zwar kürzer und knackiger als jener der italienischen Originalausgabe, die 2021 in Mailand erschien: „Il salto. Segni, figure, parole: viaggio all’origine dell’ immaginazione“. Aber der ist eben auch genauer und trifft das Thema, um das es der Autorin tatsächlich ging: „Der Sprung. Zeichen, Zahlen, Worte: Eine Reise zum Ursprung der Vorstellungskraft“.

Sie hat dafür nicht nur die berühmten Höhlen in Frankreich und Spanien besucht, sondern auch Höhlen, Schluchten und Felsüberhänge in Südafrika, Australien, auf der arabischen Halbinsel. Sie ist zu alte Fundstätten in Nordamerika gereist, nach Babylon und Göbleki Tepe. Alles Orte, weit über den Erdball verstreut. Oft so abgelegen, dass sich nicht nur Ferrara fragt, warum sich Vieles in ihnen so ähnelt, wo doch auszuschließen ist, dass sich die Menschen damals so einfach austauschen können wie wir heute.

Auch das gehört ja zu den Fehldeutungen mancher Archäologen, dass sie sich diese riesigen Räume nicht wirklich vergegenwärtigten. Sich oft auch nur auf einen geografischen Ort beschränkten. Und damit auch nicht auf die Fragen stießen, die Ferrara in diesem Buch beschäftigen.

Denn wenn Menschen an so unterschiedlichen Orten weltweit und zehntausende Jahre vor Beginn unserer sesshaften Zivilisation so frappierend ähnliche Bildlösungen entwickelten, dann deutet das ja zwangsläufig auf viele parallel verlaufende Prozesse hin, in denen Menschen für ihre Imaginationskraft auch Zeichensysteme „erfanden“, mit denen sie diese erzählen konnten.

Das Erwachen

Ein Prozess, der wahrscheinlich Jahrtausende dauerte. Weshalb man nirgendwo so etwas wie einen Urknall der Sprache und der Bilder finden wird. Möglicherweise, so Ferrara, war sogar schon der Vorfahre von Homo Sapiens und Neandertaler, der Homo Erectus, fähig zum abstrakten Denken. Und natürlich hat man mit den heute bekannten Höhlenmalereien nur einen winzigen Ausschnitt dessen vor sich, was Menschen vor 25.000, 32.000 Jahren gemalt haben.

Denn wo männliche Forscher so gern vom Mysterium der Höhlen reden und darin gar ein Abtauchen in den dunklen Mutterschoß assoziierten, kann auch einfach die unerbittliche Vergänglichkeit alles Menschlichen passiert sein. Denn wer sagt uns, dass nicht ebenso farbenprächtige Zeichnungen auch an jeder anderen erreichbaren Felswand zu sehen waren?

Nur dass Wind und Wetter sie im Lauf der Zeit wieder ausgetilgt haben – übrigens auch in den leichter zugänglichen Höhlen, in denen die Menschen tatsächlich lebten. Während sich all die berühmten Höhlen von Lascaux bis Chauvet und Pech Merle dadurch auszeichnen, dass sie schwer zugänglich waren und über Jahrtausende verborgen. Erst die eifrige Suche nach solchen Höhlen im 19. und 20. Jahrhundert hat sie ja überhaupt wieder bekannt gemacht.

So dass auch die Interpretation als Kultstätte fragwürdig ist, wie Silvia Ferrara feststellt. Ihr Buch hat sie wie einen Essay aufgebaut, in dem sie ihre Leserinnen und Leser versucht mitzunehmen auf völlig andere Gedankenbahnen, weg von den alten Interpretationen, die den Blick verstellen und deshalb nicht sehen lassen, was da vor zehntausenden Jahren tatsächlich geschah.

Dass das mit Worten schwer zu beschreiben ist, ist ihr sehr wohl bewusst. Denn wenn schon so Vieles darauf hindeutet, dass wir hier am Beginn der Schriftwerdung stehen – lange bevor Menschen zur Abstraktion unserer heutigen Buchstaben fähig waren, dann lesen sich die Höhlenzeichnungen anders, werden aus schönen Tierzeichnungen auf einmal Geschichten.

Und wenn nicht Geschichten, dann zumindest Narrative, jene Kerne des Erzählbaren, die die Betrachter damals tatsächlich „lesen“ konnten. So, wie auch wir sie lesen, auch wenn wir heute lauter Dinge hineininterpretieren, die in unseren eigenen Köpfen stecken und immer präsent sind. Unserer Vorurteile werden wir meistens gar nicht mehr bewusst. Oder meistens erst dann, wenn wir mit den Vorurteilen anderer Leute zusammenrasseln.

Leben in Geschichten

Wobei ja all die Zeichnungen rund um den Erdball auch davon erzählen, dass die „Künstler“ tatsächlich etwas in Geschichten bannen wollten – Geschichten, die für andere Menschen ebenfalls lesbar waren. Genau darum geht es. Denn sprachliche Überlieferungen aus dieser Zeit haben wir ja nicht. Aber all diese Tausenden von Zeichnungen deuten darauf hin, dass es hier genau darum ging, dass die Fähigkeit der damaligen Menschen zur Abstraktion eine weitere Stufe genommen hat und sich ihren Ausdruck suchte – und genau hier fand.

„Genau mit diesen Geschichten beginnt die Geschichte“, schreibt Ferrara. „Nicht mit der Schrift, nicht mit den Kalendern, den Datumsangaben und Uhren. Nicht mit der Kontrolle über die Zeit, sondern mit der Erinnerung, der Neugierde, sich Vorstellungen aus der Erinnerung zu schaffen.“

Denn gerade bei der gedanklichen Rückkehr zu den Tierdarstellungen in der Höhle von Chauvet wird ihr bewusst, dass die Künstler/Künstlerinnen der Eiszeit die abgebildeten Tiere gar nicht vor Augen haben konnten, da unten in der Dunkelheit der Höhle mit der flackernden Tierfettbeleuchtung. Sie mussten das alles aus dem Gedächtnis malen, aus der inneren Vorstellungskraft. Und zwar nicht nur als einzelnes, starres Tier.

Denn man sieht ja regelrechte Jagdszenen, sieht Nashörner beim Zweikampf, Löwen auf der Jagd, Pferde im eiligen Galopp. Diese Bilder erzählen Geschichten. Geschichten, die wir heute noch verstehen, auch wenn mancher sie durch die Forscherbrille nicht mehr entziffern kann.

Und vieles an diesen Bildern deutet darauf hin, dass diese Geschichten sogar ganz bewusst für andere Menschen erzählt wurden, die zum Zeitpunkt des Entstehens gar nicht in der Höhle waren. Das ist der Punkt, den Ferrara mit dem „Beginn der Geschichte“ bezeichnet: Diese Menschen müssen sich bewusst gewesen sein, dass nach ihnen andere Generationen kommen würden, die diese Bilder sehen würden.

Sie erzählten auch für künftige, noch ungeborene Menschen. Sie wurden sich des Ablaufes menschlicher Geschichte bewusst. Und rechneten auch mit uns als Betrachter, auch wenn sie sich natürlich nicht vorstellen konnten, wer wir sein würden und wie wir auf die Bilder schauen würden.

Meine Hand erzählt von mir

Und gerade die vielen abstrakten Zeichen, die sich weltweit in und neben diesen Bildern und teilweise auch Felsritzungen befinden, haben Ferrara angeregt, darüber nachzudenken, ob das eben nicht nur schöne Ornamente sind, sondern so etwas wie Zeichen, Symbole, Ikonen. Sie ist sich dessen bewusst, dass solche modernen Bezeichnungen selbst wieder in die Irre führen können. Aber augenscheinlich verweisen sie auf etwas. Ganz unübersehbar ist es an dem am häufigsten gefundenen abstrakten Zeichen: der menschlichen Hand. Als hätten die Menschen vor 30.000 Jahren ungemeinem Spaß dabei gehabt, ihre Handflächen in Ocker zu tauchen und an die Felswand zu pressen.

Aber selbst wenn man darin keine lesbare Botschaft erkennt, verweisen sie nicht nur auf die Menschen, die sich hier verewigten, sondern auch darauf, dass sie ihr eigenes Dasein abstrahieren konnten. Tiere hinterlassen nicht absichtlich ihre Fußabdrücke irgendwo. Doch Menschen drückten hier ganz bewusst ihre Hand mit Farbe an die Wand, setzen also ein Zeichen. Ein Symbol.

Ein Symbol, das von einem kognitiven Sprung erzählt, mit dem der Mensch in seine eigene Erzählung eintrat. Denn das erzählen alle diese Bilder ganz gewiss: wie Menschen nun begonnen hatten, sich ihr Dasein auf der Welt zu erzählen. In scheinbar sehr realistischen (Tier-)Darstellungen, aber auch in tausenden sehr abstrakten Zeichnungen.

Womit sie sich ja zwingend auch ihrer Besonderheit bewusst wurden: Dass sie ein Lebewesen waren, das sich die Welt erzählen kann. Und erzählen muss. Denn die Bewusstwerdung des Menschen ist von Anfang an mit dem Narrativ verbunden, der Fähigkeit, etwas, was geschieht, in Sprache und Bildern wiederzuerzählen, zu imaginieren. Wer sich die Jagd auf den Auerochsen nicht vorstellen kann, der kann sie weder am Lagerfeuer erzählen noch auf die Höhlenwand malen.

Gegen den Strom der Vergänglichkeit

Die Bilder erzählen also davon, wie früh sich die Menschen ihrer eigenen Vorstellungskraft bewusst wurden. Und wie sehr das Gezeichnete auch schon Symbol war, Zeichen für etwas Anderes, auch wenn wir heute nur mutmaßen können, was die beigefügten geometrischen Zeichen bedeutet haben mögen – Sterne, Kreuze, Zweige, Wellenlinien usw. Zeichen, die weit vor der „Erfindung“ der frühesten Alphabete entstanden, die ihrerseits heute kaum noch verraten, dass auch sie einst aus ikonografischen Darstellungen entstanden.

Was Ferrara frappiert, ist die erstaunliche Abstraktionsfähigkeit dieser Menschen, die selbst noch in den Säulen von Göbekli Tepe sichtbar ist, die vor 11.000 bis 12.000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit, entstanden. Dass die Menschen an diesem langen Beginn der Bewusstwerdung auch erschrocken sein mussten, deutet Ferrara zumindest an. Denn wer sich der Geschichte bewusst wird, wird auch mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Und mit der Not, die Dinge noch rechtzeitig erzählen zu müssen, damit sie nicht verloren gehen.

„Die Spuren der Vergangenheit sind allesamt Symbole“, schreibt Ferrara. „Sie trotzen der Zeit, schwimmen gegen den Strom und leisten dem Untergang sichtbar und unverbrüchlich Widerstand, zumindest solange sie können.“

Wer etwas zu erzählen hat, ist auf einmal auch in der Not, es erzählen zu müssen. Denn ihm wird, wie Ferrara schreibt, bewusst, wie „die Zeit unbeirrt ihr Zerstörungswerk betreibt“. Man bekommt so eine Ahnung, dass vor dem Beginn jeder Religion erst dieses Erschrecken über das „Zerstörungswerk der Zeit“ gestanden haben muss. Und die Not, die auch ein drängender Wunsch gewesen sein muss, den Späteren und Nachkommenden von sich selbst zu erzählen und dem, was man erlebt hat auf der Welt.

Der Erzähler und die Erzählerin waren vor dem Priester und der Schamanin da. Auch das erzählen diese Jahrzehntausende alten Bilder, die ihrerseits auch wieder vergänglich sind. So wie alles, was Menschen schaffen.

Silvia Ferrara „Der Sprung“, Verlag C. H. Beck, München 2023, 26 Euro.

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