Er ist einer der besten, der genauesten und poetischsten Dichter, die Deutschland derzeit hat: der 1944 in Herrmannstadt (Rumänien) geborene Franz Hodjak, den das ostdeutsche Lesepublikum schon 1988 in einer ersten, von Wulf Kirsten besorgten Auswahl kennenlernte: „Sehnsucht nach Feigenschnaps“. Seinen neuesten Gedichtband legt jetzt der Leipziger Literaturverlag vor.

Und wieder zeigt der heute in Usingen im Taunus lebende Dichter, wie Poesie eigentlich in unseren Köpfen entsteht. Denn zum poetischen Erleben sind wir alle fähig. Das Werkzeug dazu haben wir alle erlernt. Es ist unsere Sprache, die die meisten so unbewusst und unaufmerksam benutzen, dass sie gar nicht merken, was für eine Magie in ihr steckt.

Ein Thema, auf das Franz Hodjak zum Beispiel im Gedicht „Tarantella“ zu sprechen kommt, einem Gedicht, in dem er den „Wegweisern, die in die Kindheit führen“, nachspürt: „Bald merkte ich, dass die Sprache / mir mehr gab, als ich jemals / jemandem geben könnte.“ 

Die Sprache wird in seinen Gedichten immer wieder auch benannt, dieses ganze erstaunliche Wortmaterial, das wir in unseren Köpfen haben und mit dem wir denken. Was auch immer heißt: uns die Welt be-schreiben, wie wir sie sehen. Ohne dabei so ins Staunen und Stutzen zu kommen wie der aufmerksam durch seinen Alltag laufende Dichter, der sich dessen immer wieder und immer mehr bewusst wird, wie poetisch die Worte sind, die wir denken. Jedes einzelne vollgepackt mit Erinnerungen. Manches allein schon beim Aussprechen eine Tür – nicht nur in die Kindheit.

Magie des Alltags

Denn Hodjak lebt in seinen Gedichten eigentlich vor, wie wir alle unser Leben täglich mit Magie ausfüllen. Oder besser: ausfüllen könnten, wenn wir denn aufmerksam wären und die Dinge nicht nur als gleichgültig, banal und eben alltäglich betrachten würden. Sondern mit der Neugier darauf, was uns tatsächlich begegnet. So wie in „Nichts für Träumer“: „Ich gehe auf / den Wochenmarkt, nur um etwas mehr / Durcheinander zu erleben, mehr Sprachen zu / hören, mehr Glück zu sehen.“

Hodjak braucht die ganzen lyrischen Versatzstücke nicht, welche die deutschen Romantiker auf Vorrat produziert haben und die so viele Menschen tatsächlich für Lyrik halten. Obwohl es reines Kunstgewerbe ist. Das, was gute Gedichte tatsächlich erhaschen, das ist unsere immer doppelbödige, durch Erinnerungen, Gefühle, Reflexionen gebrochene Beziehung zur Wirklichkeit.

Der wir uns selten stellen, weil wir augenscheinlich ständig im Stress sind, abgelenkt von all den nutzlosen Dingen, die wir glauben, tun zu müssen. Und selbst wenn wir mal freie Zeit haben, packt uns eher die Angst davor, mit dieser Freiheit irgendetwas anfangen zu müssen. Wir haben es verlernt. Wir wissen nicht mehr, wie intensiv wir die Welt erleben, wenn wir uns einmal ohne Ablenkung und Ausrede auf sie einlassen.

Denn dann spricht es ganz von selbst in unserem Kopf. „Die Wirklichkeit / verändert die Sprache, nur die Dichter / ändern mit der Sprache / die Wirklichkeit. Was man / tut, und selbst was man nicht tut, dauert / von früh bis spät. Und das Leben / wird immer virtueller und findet fast / nur noch im Fernsehen statt“, schreibt Hodjak in „Kalenderblatt“.

Und jetzt, wohin?

Dabei erzählen alle seine in diesem Band versammelten Gedichte von dieser Wirklichkeit, wie er sie erlebt und reflektiert. Wie er ihr Platz einräumt in seinen Gedichten. Ob beim Aufstehen früh, wenn er sich über das Licht wundert, ob bei seinen Spaziergängen, ob bei den Reisen in die alte Heimat, die in ihm erst recht Erinnerungen aufrühren – aber auch diese dichterische Nüchternheit, mit der er das Vergängliche betrachtet. Eigentlich schon immer betrachtet hat.

Nur scheint sich das in seinem Alter verstärkt zu haben, da ja alle Fahrten getan sind, alle Reisen absolviert. Man hat seine Fehler und Erfahrungen gemacht, und nun? „Man reist, kommt an, reist / weiter, bis man sich fragt, und jetzt, wohin?“, schreibt Hodjak in „Reise“.

Dabei weiß er so gut wie kein anderer, dass es im Leben keine endgültigen Antworten gibt. Was gilt, ist nur das, was man wirklich gelebt hat. Denn so frei war jeder von uns. „Wichtiger / als die Freiheit, ist, was man aus ihr / macht. Das sind zwei Seiten, die nur / selten zusammenpassen. / Und wenn man sich selbst verirrt, / ist es schwer, wieder / aus der Löwengrube / herauszufinden.“ („Etwas Leichtigkeit“)

Manchmal sind es geradezu vertraute Redewendungen, mit denen Hodjak den Leser mitnimmt um die Ecke, auf den Weg in den Herbst, den Sonntagsspaziergang. Und auf einmal entpuppen sie sich als lebendiges Bild, als Schlüssel zu einem mit staunender Ernsthaftigkeit wahrgenommenen Tag. Ganz ohne Pointe. Und doch mit einer gerade deshalb erstaunlichen Einsicht, weil sie jeden treffen kann und unser Dasein auf den Punkt bringt: „Niemand weiß, / wo die Fahrt endet. Wo wäre da ein Trost? / Selbst dass es den anderen nicht anders / ergeht, hilft weder dir / noch den anderen.“ („Draisine 2“)

Zeit für eine Haushaltsauflösung

Ist das nun deprimierend? Oder nicht sogar tröstlich? Ein Band, das uns alle verbindet. Denn nicht alles, was wir verpassen, ist ein Verlust. Manchmal erweist sich das Versäumte „morgen / als schlechte Nachricht und übermorgen als / Katastrophe.“ („Das Nötigste“)

Freiheit ist eben oft auch das, was man unterlässt und sich erspart. Man muss keine Bäume (mehr) ausreißen, niemandem etwas beweisen, niemanden übertrumpfen oder übertönen. Der Dichter denkt gar schon an eine gründliche Haushaltsauflösung: „Langsam bereite ich mich vor, Massenentlassungen / vorzunehmen auch im Gebrauch der Sprache.“

Was er eigentlich nicht nötig hat. Denn wie seine Kollegen aus der sächsischen Dichterschule hat er auf glitzernde, blendende Worte immer verzichtet und die Sprache des Alltags geliebt und gepflegt. Das wird er auch weiter tun, wohl wissend, dass dort ihr ganzer Glanz und all ihre Schönheit liegen. „Sprachen, die wir nicht / verstehen, zeigen auf etwas, dem / nichts Menschliches fremd ist. Der / Halbschlaf artikuliert Bedeutungen, die / zwischen den Zeilen liegen. Selbst / noch in den letzten Atemzügen / bewegen Wörter unsere Lippen.“ („Das Wesen der Wörter“)

Wir denken die Welt in Wörtern. Wir können gar nicht anders. Und so aufmerksam, wie Hodjak mit den Wörtern umgeht, lässt er seine Leser spüren, wie intensiv unser Welterleben ist, wenn wir es aussprechen. Und uns sagen im Kopf, auch wenn nicht immer klar ist, wer da in uns eigentlich mit wem gerade spricht.

Auch dazu gibt es ein Gedicht in diesem Band, den Hodjak eben nicht nur den verschollenen Sprachen gewidmet hat, sondern der lebendigen Sprache selbst, die ihm schon als Kind die Welt erschloss – und überleben half in der Zeit der aufdringlichen Geheimdienste. Und Heimat finden ließ, auch in der Fremde. Wissend: „Schwer / zu übersetzen / sind die Sätze, in denen / du lebst.“ („Kohlezeichnung“)

Franz Hodjak „Gedenkminute für verschollene Sprachen“, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2023, 19,95 Euro.

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